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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

vorbereitet: in das Mittelcilter mit Liebe zurückblicken, das hieß doch zugleich
einfachere, kindlichere, unmittelbarere Menschen würdigen. Und haben nicht
-- wir dürfen wirklich noch weiter zurückgehen -- auch schon unsre großen
Klassiker vielfach das Volkstümliche, haben sie nicht Volksgestalten und Volks¬
gefühle und Volkswert zu Ehren gebracht? Der junge Goethe z. V. im Götz,
im Werther, später im Egmont, in der Nacherzeugung des Volkslieds und
vor allem in der ganzen siegreichen Unmittelbarkeit seiner Sprache; aber auch
der reife Goethe in Hermann und Dorothea. Auch Schiller, der hochfliegende
und tiefdenkende, zeigt in Wallensteins Lager, wie er auch dem Volke ins Herz
geblickt, das innere Leben des Volkes mitgelebt hat; und im Wilhelm Tell ver¬
schmilzt sich die Hoheit und Reinheit seiner Gesinnung mit der Wahrheit und
Echtheit seiner schweizerischen Volksgestalten. Früher als beide hat Herder das
Volkslied in seiner Poesie empfunden und der gebildeten Welt das Herz dafür
geöffnet. Selbst Lessing nimmt eine Wendung dahin in Minna von Barnhelm.
Wer Shakespeare würdigte, konnte dem Volkstümlichen nicht fremd sein. Und
noch vor dieser ganzen Periode zeigt sich ja -- freilich in ganz seltsam andern
Formen -- das Interesse für das einfachere Menschentum im Volke darin,
daß man Idyllen schrieb und las und Schäferspiele liebte. So fade uns
namentlich diese letztere Liebhaberei anmutet, es ist in ihr, wie in allem Er¬
wähnten, doch immer das Bewußtsein wirksam, daß gegenüber der Welt der
Gebildeten eine andre, im Innern und Äußern einfachere, einen eignen Wert
habe, daß man gut thue, ihr nicht dauernd den Rücken zu kehren, sondern sich
zu Zeiten in diesem Spiegel zu sehen.

Heute freilich wirft uns der Spiegel ein andres Bild zurück als jenen
süßlichen Trügern der Perücke oder des Zopfs. Wir selbst haben besser sehen
lernen. Wenn es nicht ausbleiben konnte, daß sich die Scheidung zwischen
Gebildeten und Volk, die sich im wesentlichen aus der Renaissance oder auch
mit der Erfindung der Buchdruckerkunst, kurz, seit dem Beginn der neuern
Geschichte vollzogen hat, und die eins der Stücke ist, die eben die neue Zeit
vom Mittelalter innerlich unterscheiden -- daß sich diese Scheidung zunächst
ungewollt und unbewußt vollzog, dann aber das Bewußtsein des Unterschieds
oder des Gegensatzes wach wurde und man das Volk nun gewissermaßen in
der Ferne und als etwas Fernes und Fremdes mit Interesse ansah, so ist
dieses Bewußtsein denn doch erst allmählich hell geworden, und das Auge hat
die fremdgewordnen Züge erst allmählich verfolgen lernen. Namentlich ist
man inne geworden, daß nicht flache Einfachheit, sondern schlichte Tiefe das
innere Wesen des Volkes ist, wie ja alles Natürliche dem eindringenden Auge
immer tiefere Untergrunde darbietet. Nun ist man -- wie gesagt, schon seit
lauger Zeit -- am Werke, das Verhüllte zu erschließen, das sich Verlierende
zu sammeln, das Wirkliche abzubilden, auf mancherlei Wegen mit gleichem, ja
wachsendem Eifer. Das alte Gut von Volksmärchen und -geschichten, Sprüchen


Volk und Jugend

vorbereitet: in das Mittelcilter mit Liebe zurückblicken, das hieß doch zugleich
einfachere, kindlichere, unmittelbarere Menschen würdigen. Und haben nicht
— wir dürfen wirklich noch weiter zurückgehen — auch schon unsre großen
Klassiker vielfach das Volkstümliche, haben sie nicht Volksgestalten und Volks¬
gefühle und Volkswert zu Ehren gebracht? Der junge Goethe z. V. im Götz,
im Werther, später im Egmont, in der Nacherzeugung des Volkslieds und
vor allem in der ganzen siegreichen Unmittelbarkeit seiner Sprache; aber auch
der reife Goethe in Hermann und Dorothea. Auch Schiller, der hochfliegende
und tiefdenkende, zeigt in Wallensteins Lager, wie er auch dem Volke ins Herz
geblickt, das innere Leben des Volkes mitgelebt hat; und im Wilhelm Tell ver¬
schmilzt sich die Hoheit und Reinheit seiner Gesinnung mit der Wahrheit und
Echtheit seiner schweizerischen Volksgestalten. Früher als beide hat Herder das
Volkslied in seiner Poesie empfunden und der gebildeten Welt das Herz dafür
geöffnet. Selbst Lessing nimmt eine Wendung dahin in Minna von Barnhelm.
Wer Shakespeare würdigte, konnte dem Volkstümlichen nicht fremd sein. Und
noch vor dieser ganzen Periode zeigt sich ja — freilich in ganz seltsam andern
Formen — das Interesse für das einfachere Menschentum im Volke darin,
daß man Idyllen schrieb und las und Schäferspiele liebte. So fade uns
namentlich diese letztere Liebhaberei anmutet, es ist in ihr, wie in allem Er¬
wähnten, doch immer das Bewußtsein wirksam, daß gegenüber der Welt der
Gebildeten eine andre, im Innern und Äußern einfachere, einen eignen Wert
habe, daß man gut thue, ihr nicht dauernd den Rücken zu kehren, sondern sich
zu Zeiten in diesem Spiegel zu sehen.

Heute freilich wirft uns der Spiegel ein andres Bild zurück als jenen
süßlichen Trügern der Perücke oder des Zopfs. Wir selbst haben besser sehen
lernen. Wenn es nicht ausbleiben konnte, daß sich die Scheidung zwischen
Gebildeten und Volk, die sich im wesentlichen aus der Renaissance oder auch
mit der Erfindung der Buchdruckerkunst, kurz, seit dem Beginn der neuern
Geschichte vollzogen hat, und die eins der Stücke ist, die eben die neue Zeit
vom Mittelalter innerlich unterscheiden — daß sich diese Scheidung zunächst
ungewollt und unbewußt vollzog, dann aber das Bewußtsein des Unterschieds
oder des Gegensatzes wach wurde und man das Volk nun gewissermaßen in
der Ferne und als etwas Fernes und Fremdes mit Interesse ansah, so ist
dieses Bewußtsein denn doch erst allmählich hell geworden, und das Auge hat
die fremdgewordnen Züge erst allmählich verfolgen lernen. Namentlich ist
man inne geworden, daß nicht flache Einfachheit, sondern schlichte Tiefe das
innere Wesen des Volkes ist, wie ja alles Natürliche dem eindringenden Auge
immer tiefere Untergrunde darbietet. Nun ist man — wie gesagt, schon seit
lauger Zeit — am Werke, das Verhüllte zu erschließen, das sich Verlierende
zu sammeln, das Wirkliche abzubilden, auf mancherlei Wegen mit gleichem, ja
wachsendem Eifer. Das alte Gut von Volksmärchen und -geschichten, Sprüchen


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[0316] Volk und Jugend vorbereitet: in das Mittelcilter mit Liebe zurückblicken, das hieß doch zugleich einfachere, kindlichere, unmittelbarere Menschen würdigen. Und haben nicht — wir dürfen wirklich noch weiter zurückgehen — auch schon unsre großen Klassiker vielfach das Volkstümliche, haben sie nicht Volksgestalten und Volks¬ gefühle und Volkswert zu Ehren gebracht? Der junge Goethe z. V. im Götz, im Werther, später im Egmont, in der Nacherzeugung des Volkslieds und vor allem in der ganzen siegreichen Unmittelbarkeit seiner Sprache; aber auch der reife Goethe in Hermann und Dorothea. Auch Schiller, der hochfliegende und tiefdenkende, zeigt in Wallensteins Lager, wie er auch dem Volke ins Herz geblickt, das innere Leben des Volkes mitgelebt hat; und im Wilhelm Tell ver¬ schmilzt sich die Hoheit und Reinheit seiner Gesinnung mit der Wahrheit und Echtheit seiner schweizerischen Volksgestalten. Früher als beide hat Herder das Volkslied in seiner Poesie empfunden und der gebildeten Welt das Herz dafür geöffnet. Selbst Lessing nimmt eine Wendung dahin in Minna von Barnhelm. Wer Shakespeare würdigte, konnte dem Volkstümlichen nicht fremd sein. Und noch vor dieser ganzen Periode zeigt sich ja — freilich in ganz seltsam andern Formen — das Interesse für das einfachere Menschentum im Volke darin, daß man Idyllen schrieb und las und Schäferspiele liebte. So fade uns namentlich diese letztere Liebhaberei anmutet, es ist in ihr, wie in allem Er¬ wähnten, doch immer das Bewußtsein wirksam, daß gegenüber der Welt der Gebildeten eine andre, im Innern und Äußern einfachere, einen eignen Wert habe, daß man gut thue, ihr nicht dauernd den Rücken zu kehren, sondern sich zu Zeiten in diesem Spiegel zu sehen. Heute freilich wirft uns der Spiegel ein andres Bild zurück als jenen süßlichen Trügern der Perücke oder des Zopfs. Wir selbst haben besser sehen lernen. Wenn es nicht ausbleiben konnte, daß sich die Scheidung zwischen Gebildeten und Volk, die sich im wesentlichen aus der Renaissance oder auch mit der Erfindung der Buchdruckerkunst, kurz, seit dem Beginn der neuern Geschichte vollzogen hat, und die eins der Stücke ist, die eben die neue Zeit vom Mittelalter innerlich unterscheiden — daß sich diese Scheidung zunächst ungewollt und unbewußt vollzog, dann aber das Bewußtsein des Unterschieds oder des Gegensatzes wach wurde und man das Volk nun gewissermaßen in der Ferne und als etwas Fernes und Fremdes mit Interesse ansah, so ist dieses Bewußtsein denn doch erst allmählich hell geworden, und das Auge hat die fremdgewordnen Züge erst allmählich verfolgen lernen. Namentlich ist man inne geworden, daß nicht flache Einfachheit, sondern schlichte Tiefe das innere Wesen des Volkes ist, wie ja alles Natürliche dem eindringenden Auge immer tiefere Untergrunde darbietet. Nun ist man — wie gesagt, schon seit lauger Zeit — am Werke, das Verhüllte zu erschließen, das sich Verlierende zu sammeln, das Wirkliche abzubilden, auf mancherlei Wegen mit gleichem, ja wachsendem Eifer. Das alte Gut von Volksmärchen und -geschichten, Sprüchen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/316>, abgerufen am 29.12.2024.