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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Zeremias Gotthelf

Wie ihrer Lebensweise alles Romantische und Poetische, was man den An¬
gehörigen andrer deutschen Stämme, vor allem den Gebirgsbewohnern zuschreibt.
Geld und Besitz, das offne, rücksichtslose Streben darnach scheint unter diesem
Bauernvolk von jeher eine größere Rolle gespielt zu haben als anderswo, wo
man es wenigstens verhüllte, die Lebensformen find durchaus nüchtern, Volks-
sitten, die mit der Natur zusammenhängen, sind kaum noch vorhanden, alle
Feste sind in der Hauptsache auf Essen und Trinken im Wirtshause beschränkt,
die Volkspoesie, Lied und Spruch sind fast verschwunden, dafür freilich prak¬
tische Lebensweisheit, Spott und Satire stark ausgebildet, die Sprache roh
und derb. Aber die meist besonnenen, oft bis zum Schmutz geizigen Alten,
die wilden, rohen, aber kraftvollen Jungen, die behübigen, wenn auch oft be¬
schränkten Frauen, die berechnenden, dabei oft sinnlichen, manchmal auch von
französischer Kultur uicht zu ihrem Vorteil beleckten Jungfrauen bilden doch
im ganzen ein tüchtiges Bauerngeschlecht, mit allen Untugenden der deutschen
(reichsdentschen) Bauern, aber ohne deren aus alter Zeit ererbte Gedrücktheit;
hin und wieder kommen bei aller Enge und Beschränktheit Gestalten vor, die
man königliche Bauern nennen könnte, und die ihresgleichen in Deutschland
nur etwa in bestimmten niedersächsischen Gegenden finden, auch wachsen aus
dem geschilderten Boden immerhin genug "moralische" Ausnahmen an Männern
und Frauen, für die der Dichter wohl Sympathie empfinden kann. Im
großen und ganzen beschränkt sich nun Gotthelf in seinen Werken auf diese
bäurische Welt, von der städtischen will er nicht viel wissen, er betrachtet sie
mit dem Auge des Bauern, der in den Städtern eigentlich unnützes Volk
sieht, das er im Grunde mit durchzuschleppen hat, vuiu ^raro sg.1is natürlich.
Der Bauer ist bei Gotthelf der Aristokrat, darüber übersieht er aber den
Proletarier uicht, den Tagelöhner, das Dienstvolk, und der Schriftsteller hat
diese unterste Klasse im ganzen mit gleicher, oft selbst mit größerer Liebe wie
den Bauern behandelt, wenn er anch weiß, daß das Heil seines Landes auf
der Erhaltung eines tüchtigen Bauernstandes beruht. Wie ich schon sagte,
Bitzius schildert das Bauernleben als eine Welt für sich, man möchte fast
sagen als die Welt, und so oft er anch, namentlich in seinen spätern Werken,
das politische und allgemein soziale Leben der Schweiz in seine Darstellung
hineinzieht, es wird doch fast immer nur als Hintergrund verwandt, die Bauern
bleiben die eigentlich handelnden Personen. Das ist, wie die Dinge nun ein¬
mal lagen und zum Teil noch liegen, uicht Beschränktheit, sondern Notwendigkeit
und Wahrheit und in der Geschichte der Litteratur geradezu eine That, eine, die
sich kaum wiederholt hat, denn wer hat nach Gotthelf so resolut zu verfahren
gewagt, so selbstverständlich und so aus dem Vollen dargestellt? Seine Werke
enthalten in der That die ganze Natur- und Kulturgeschichte des schweizerischen
Bauerntums bis in die geringsten Einzelheiten herab, ja die Naturgeschichte
des Bauerntums überhaupt, des westeuropäischen wenigstens, und werden des-


Zeremias Gotthelf

Wie ihrer Lebensweise alles Romantische und Poetische, was man den An¬
gehörigen andrer deutschen Stämme, vor allem den Gebirgsbewohnern zuschreibt.
Geld und Besitz, das offne, rücksichtslose Streben darnach scheint unter diesem
Bauernvolk von jeher eine größere Rolle gespielt zu haben als anderswo, wo
man es wenigstens verhüllte, die Lebensformen find durchaus nüchtern, Volks-
sitten, die mit der Natur zusammenhängen, sind kaum noch vorhanden, alle
Feste sind in der Hauptsache auf Essen und Trinken im Wirtshause beschränkt,
die Volkspoesie, Lied und Spruch sind fast verschwunden, dafür freilich prak¬
tische Lebensweisheit, Spott und Satire stark ausgebildet, die Sprache roh
und derb. Aber die meist besonnenen, oft bis zum Schmutz geizigen Alten,
die wilden, rohen, aber kraftvollen Jungen, die behübigen, wenn auch oft be¬
schränkten Frauen, die berechnenden, dabei oft sinnlichen, manchmal auch von
französischer Kultur uicht zu ihrem Vorteil beleckten Jungfrauen bilden doch
im ganzen ein tüchtiges Bauerngeschlecht, mit allen Untugenden der deutschen
(reichsdentschen) Bauern, aber ohne deren aus alter Zeit ererbte Gedrücktheit;
hin und wieder kommen bei aller Enge und Beschränktheit Gestalten vor, die
man königliche Bauern nennen könnte, und die ihresgleichen in Deutschland
nur etwa in bestimmten niedersächsischen Gegenden finden, auch wachsen aus
dem geschilderten Boden immerhin genug „moralische" Ausnahmen an Männern
und Frauen, für die der Dichter wohl Sympathie empfinden kann. Im
großen und ganzen beschränkt sich nun Gotthelf in seinen Werken auf diese
bäurische Welt, von der städtischen will er nicht viel wissen, er betrachtet sie
mit dem Auge des Bauern, der in den Städtern eigentlich unnützes Volk
sieht, das er im Grunde mit durchzuschleppen hat, vuiu ^raro sg.1is natürlich.
Der Bauer ist bei Gotthelf der Aristokrat, darüber übersieht er aber den
Proletarier uicht, den Tagelöhner, das Dienstvolk, und der Schriftsteller hat
diese unterste Klasse im ganzen mit gleicher, oft selbst mit größerer Liebe wie
den Bauern behandelt, wenn er anch weiß, daß das Heil seines Landes auf
der Erhaltung eines tüchtigen Bauernstandes beruht. Wie ich schon sagte,
Bitzius schildert das Bauernleben als eine Welt für sich, man möchte fast
sagen als die Welt, und so oft er anch, namentlich in seinen spätern Werken,
das politische und allgemein soziale Leben der Schweiz in seine Darstellung
hineinzieht, es wird doch fast immer nur als Hintergrund verwandt, die Bauern
bleiben die eigentlich handelnden Personen. Das ist, wie die Dinge nun ein¬
mal lagen und zum Teil noch liegen, uicht Beschränktheit, sondern Notwendigkeit
und Wahrheit und in der Geschichte der Litteratur geradezu eine That, eine, die
sich kaum wiederholt hat, denn wer hat nach Gotthelf so resolut zu verfahren
gewagt, so selbstverständlich und so aus dem Vollen dargestellt? Seine Werke
enthalten in der That die ganze Natur- und Kulturgeschichte des schweizerischen
Bauerntums bis in die geringsten Einzelheiten herab, ja die Naturgeschichte
des Bauerntums überhaupt, des westeuropäischen wenigstens, und werden des-


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[0285] Zeremias Gotthelf Wie ihrer Lebensweise alles Romantische und Poetische, was man den An¬ gehörigen andrer deutschen Stämme, vor allem den Gebirgsbewohnern zuschreibt. Geld und Besitz, das offne, rücksichtslose Streben darnach scheint unter diesem Bauernvolk von jeher eine größere Rolle gespielt zu haben als anderswo, wo man es wenigstens verhüllte, die Lebensformen find durchaus nüchtern, Volks- sitten, die mit der Natur zusammenhängen, sind kaum noch vorhanden, alle Feste sind in der Hauptsache auf Essen und Trinken im Wirtshause beschränkt, die Volkspoesie, Lied und Spruch sind fast verschwunden, dafür freilich prak¬ tische Lebensweisheit, Spott und Satire stark ausgebildet, die Sprache roh und derb. Aber die meist besonnenen, oft bis zum Schmutz geizigen Alten, die wilden, rohen, aber kraftvollen Jungen, die behübigen, wenn auch oft be¬ schränkten Frauen, die berechnenden, dabei oft sinnlichen, manchmal auch von französischer Kultur uicht zu ihrem Vorteil beleckten Jungfrauen bilden doch im ganzen ein tüchtiges Bauerngeschlecht, mit allen Untugenden der deutschen (reichsdentschen) Bauern, aber ohne deren aus alter Zeit ererbte Gedrücktheit; hin und wieder kommen bei aller Enge und Beschränktheit Gestalten vor, die man königliche Bauern nennen könnte, und die ihresgleichen in Deutschland nur etwa in bestimmten niedersächsischen Gegenden finden, auch wachsen aus dem geschilderten Boden immerhin genug „moralische" Ausnahmen an Männern und Frauen, für die der Dichter wohl Sympathie empfinden kann. Im großen und ganzen beschränkt sich nun Gotthelf in seinen Werken auf diese bäurische Welt, von der städtischen will er nicht viel wissen, er betrachtet sie mit dem Auge des Bauern, der in den Städtern eigentlich unnützes Volk sieht, das er im Grunde mit durchzuschleppen hat, vuiu ^raro sg.1is natürlich. Der Bauer ist bei Gotthelf der Aristokrat, darüber übersieht er aber den Proletarier uicht, den Tagelöhner, das Dienstvolk, und der Schriftsteller hat diese unterste Klasse im ganzen mit gleicher, oft selbst mit größerer Liebe wie den Bauern behandelt, wenn er anch weiß, daß das Heil seines Landes auf der Erhaltung eines tüchtigen Bauernstandes beruht. Wie ich schon sagte, Bitzius schildert das Bauernleben als eine Welt für sich, man möchte fast sagen als die Welt, und so oft er anch, namentlich in seinen spätern Werken, das politische und allgemein soziale Leben der Schweiz in seine Darstellung hineinzieht, es wird doch fast immer nur als Hintergrund verwandt, die Bauern bleiben die eigentlich handelnden Personen. Das ist, wie die Dinge nun ein¬ mal lagen und zum Teil noch liegen, uicht Beschränktheit, sondern Notwendigkeit und Wahrheit und in der Geschichte der Litteratur geradezu eine That, eine, die sich kaum wiederholt hat, denn wer hat nach Gotthelf so resolut zu verfahren gewagt, so selbstverständlich und so aus dem Vollen dargestellt? Seine Werke enthalten in der That die ganze Natur- und Kulturgeschichte des schweizerischen Bauerntums bis in die geringsten Einzelheiten herab, ja die Naturgeschichte des Bauerntums überhaupt, des westeuropäischen wenigstens, und werden des-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/285>, abgerufen am 29.12.2024.