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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Religionsunterricht

weiter, manchmal mit stürmischer Leidenschaft. Ebenso steht es um die Hoffart:
hat man die Mittel dazu, so nützt sie meistens, im andern Falle nützen die ihr
entgegengesetzten Laster: Kriecherei, Schmeichelei und geheuchelte Demut. Die
Trägheit schadet wohl meistens, aber selbst in unsrer Zeit der Konkurrcnzhetze
nicht immer. Was endlich die Befriedigung der sinnlichen Begierden anlangt,
so wird die Gesundheit zwar durch unvernünftige Unmäßigkeit geschädigt, durch
verständig geregelten Genuß aber sogar gefördert; darauf, ob ein Genuß legitim
oder nach irgend einem Moralbegrisf sündhaft ist, kommt dabei nichts an.
Auch die sonstigen guten oder Übeln Wirkungen der Genüsse hängen uicht von
deren Moralität oder Jmmoralität ab, sondern von den Vermögensverhältnissen,
den gesellschaftlichen und Familienbeziehungen und der größern oder geringern
Geschicklichkeit, mit der man den von der wechselnden öffentlichen Meinung ge¬
forderten Schein zu wahren versteht.

Und wenn nun der denkende sechzehnjährige nicht bloß die alt- und neu¬
heidnischen Satiriker, sondern auch das Neue Testament gelesen oder wenigstens
seine Bibelsprüche nicht bloß auswendig gelernt, sondern verstanden und ins
Gemüt aufgenommen hätte, was würde er da zu einer Diplomatie sagen, die
das Christentum in eine Veranstaltung zur Förderung des irdischen Wohl¬
ergehens umlügt? Hat Christus nicht die selig gepriesen, die Verfolgung
leiden um der Gerechtigkeit willen? Hat er nicht ausdrücklich gesagt, daß der
Weg zum Himmel schmal und unbequem ist, und daß nicht viele darauf
wandeln? (Etwas ähnliches hatten auch schon die Alten in die Heraklessage
hinein moralisirt, worüber Goethe, der Weltmensch, in Götter, Helden und
Wieland spottet.) Und hat er nicht beteuert, daß keiner sein Jünger sein
könne, der ihm nicht das Kreuz nachtrage? Wie viele wollen denn Kreuz-
trüger sein? Wer will nicht wohlhabend und angesehen sein und genießen?
Und wie, wenn der Geistliche, wahrend er gerade das Sprüchlein vom Kreuz¬
aufsagen läßt, die fette Pfründe im Sinn Hütte, die ihm winkt, und die ihn in
den Stand setzen wird, Pferde und Wagen zu halten und sich einen wohlassor-
tirten Weinkeller anzulegen? Nein, das geht wirklich nicht, wenn man weder
gedankenlos ist, noch eine Hornhaut über dem Gemüt hat! Eine Engländerin,
wenn ich mich recht erinnere, Thackerays Tochter, erzählt von einer edeln,
vornehmen Frau, die ihren Sohn dem Erzieher mit den Worten übergeben
habe: machen Sie nicht einen Menschen aus ihm, wie die andern Menschen!
Dann aber, nach einem heftigen Seelenkampf, sich widerrufen und gesagt habe:
ja, machen Sie einen Menschen aus ihm, der ist, wie alle Leute sind! Wer
den Geist des Neuen Testaments hat, der will aus seinen Schülern Menschen
machen, die anders sind wie der Durchschnitt, die Eltern aber und der Staat
verlangen, daß er Menschen aus ihnen mache, die so sind, wie es die Sitten
der Zeit und des Landes fordern, und wenn er Mitleid mit seinen Schülern
hat, so wird er anch selbst wünschen, daß nichts andres aus ihnen werde.


Religionsunterricht

weiter, manchmal mit stürmischer Leidenschaft. Ebenso steht es um die Hoffart:
hat man die Mittel dazu, so nützt sie meistens, im andern Falle nützen die ihr
entgegengesetzten Laster: Kriecherei, Schmeichelei und geheuchelte Demut. Die
Trägheit schadet wohl meistens, aber selbst in unsrer Zeit der Konkurrcnzhetze
nicht immer. Was endlich die Befriedigung der sinnlichen Begierden anlangt,
so wird die Gesundheit zwar durch unvernünftige Unmäßigkeit geschädigt, durch
verständig geregelten Genuß aber sogar gefördert; darauf, ob ein Genuß legitim
oder nach irgend einem Moralbegrisf sündhaft ist, kommt dabei nichts an.
Auch die sonstigen guten oder Übeln Wirkungen der Genüsse hängen uicht von
deren Moralität oder Jmmoralität ab, sondern von den Vermögensverhältnissen,
den gesellschaftlichen und Familienbeziehungen und der größern oder geringern
Geschicklichkeit, mit der man den von der wechselnden öffentlichen Meinung ge¬
forderten Schein zu wahren versteht.

Und wenn nun der denkende sechzehnjährige nicht bloß die alt- und neu¬
heidnischen Satiriker, sondern auch das Neue Testament gelesen oder wenigstens
seine Bibelsprüche nicht bloß auswendig gelernt, sondern verstanden und ins
Gemüt aufgenommen hätte, was würde er da zu einer Diplomatie sagen, die
das Christentum in eine Veranstaltung zur Förderung des irdischen Wohl¬
ergehens umlügt? Hat Christus nicht die selig gepriesen, die Verfolgung
leiden um der Gerechtigkeit willen? Hat er nicht ausdrücklich gesagt, daß der
Weg zum Himmel schmal und unbequem ist, und daß nicht viele darauf
wandeln? (Etwas ähnliches hatten auch schon die Alten in die Heraklessage
hinein moralisirt, worüber Goethe, der Weltmensch, in Götter, Helden und
Wieland spottet.) Und hat er nicht beteuert, daß keiner sein Jünger sein
könne, der ihm nicht das Kreuz nachtrage? Wie viele wollen denn Kreuz-
trüger sein? Wer will nicht wohlhabend und angesehen sein und genießen?
Und wie, wenn der Geistliche, wahrend er gerade das Sprüchlein vom Kreuz¬
aufsagen läßt, die fette Pfründe im Sinn Hütte, die ihm winkt, und die ihn in
den Stand setzen wird, Pferde und Wagen zu halten und sich einen wohlassor-
tirten Weinkeller anzulegen? Nein, das geht wirklich nicht, wenn man weder
gedankenlos ist, noch eine Hornhaut über dem Gemüt hat! Eine Engländerin,
wenn ich mich recht erinnere, Thackerays Tochter, erzählt von einer edeln,
vornehmen Frau, die ihren Sohn dem Erzieher mit den Worten übergeben
habe: machen Sie nicht einen Menschen aus ihm, wie die andern Menschen!
Dann aber, nach einem heftigen Seelenkampf, sich widerrufen und gesagt habe:
ja, machen Sie einen Menschen aus ihm, der ist, wie alle Leute sind! Wer
den Geist des Neuen Testaments hat, der will aus seinen Schülern Menschen
machen, die anders sind wie der Durchschnitt, die Eltern aber und der Staat
verlangen, daß er Menschen aus ihnen mache, die so sind, wie es die Sitten
der Zeit und des Landes fordern, und wenn er Mitleid mit seinen Schülern
hat, so wird er anch selbst wünschen, daß nichts andres aus ihnen werde.


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[0275] Religionsunterricht weiter, manchmal mit stürmischer Leidenschaft. Ebenso steht es um die Hoffart: hat man die Mittel dazu, so nützt sie meistens, im andern Falle nützen die ihr entgegengesetzten Laster: Kriecherei, Schmeichelei und geheuchelte Demut. Die Trägheit schadet wohl meistens, aber selbst in unsrer Zeit der Konkurrcnzhetze nicht immer. Was endlich die Befriedigung der sinnlichen Begierden anlangt, so wird die Gesundheit zwar durch unvernünftige Unmäßigkeit geschädigt, durch verständig geregelten Genuß aber sogar gefördert; darauf, ob ein Genuß legitim oder nach irgend einem Moralbegrisf sündhaft ist, kommt dabei nichts an. Auch die sonstigen guten oder Übeln Wirkungen der Genüsse hängen uicht von deren Moralität oder Jmmoralität ab, sondern von den Vermögensverhältnissen, den gesellschaftlichen und Familienbeziehungen und der größern oder geringern Geschicklichkeit, mit der man den von der wechselnden öffentlichen Meinung ge¬ forderten Schein zu wahren versteht. Und wenn nun der denkende sechzehnjährige nicht bloß die alt- und neu¬ heidnischen Satiriker, sondern auch das Neue Testament gelesen oder wenigstens seine Bibelsprüche nicht bloß auswendig gelernt, sondern verstanden und ins Gemüt aufgenommen hätte, was würde er da zu einer Diplomatie sagen, die das Christentum in eine Veranstaltung zur Förderung des irdischen Wohl¬ ergehens umlügt? Hat Christus nicht die selig gepriesen, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen? Hat er nicht ausdrücklich gesagt, daß der Weg zum Himmel schmal und unbequem ist, und daß nicht viele darauf wandeln? (Etwas ähnliches hatten auch schon die Alten in die Heraklessage hinein moralisirt, worüber Goethe, der Weltmensch, in Götter, Helden und Wieland spottet.) Und hat er nicht beteuert, daß keiner sein Jünger sein könne, der ihm nicht das Kreuz nachtrage? Wie viele wollen denn Kreuz- trüger sein? Wer will nicht wohlhabend und angesehen sein und genießen? Und wie, wenn der Geistliche, wahrend er gerade das Sprüchlein vom Kreuz¬ aufsagen läßt, die fette Pfründe im Sinn Hütte, die ihm winkt, und die ihn in den Stand setzen wird, Pferde und Wagen zu halten und sich einen wohlassor- tirten Weinkeller anzulegen? Nein, das geht wirklich nicht, wenn man weder gedankenlos ist, noch eine Hornhaut über dem Gemüt hat! Eine Engländerin, wenn ich mich recht erinnere, Thackerays Tochter, erzählt von einer edeln, vornehmen Frau, die ihren Sohn dem Erzieher mit den Worten übergeben habe: machen Sie nicht einen Menschen aus ihm, wie die andern Menschen! Dann aber, nach einem heftigen Seelenkampf, sich widerrufen und gesagt habe: ja, machen Sie einen Menschen aus ihm, der ist, wie alle Leute sind! Wer den Geist des Neuen Testaments hat, der will aus seinen Schülern Menschen machen, die anders sind wie der Durchschnitt, die Eltern aber und der Staat verlangen, daß er Menschen aus ihnen mache, die so sind, wie es die Sitten der Zeit und des Landes fordern, und wenn er Mitleid mit seinen Schülern hat, so wird er anch selbst wünschen, daß nichts andres aus ihnen werde.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/275>, abgerufen am 29.12.2024.