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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Religionsunterricht

Überhaupt aber ist es ein Grundfehler des christlichen Unterrichts in der
Sittenlehre, daß dabei Verbote und Sünden, also die Unsittlichkeiten, in den
Vordergrund gestellt werden, die doch uur, als die Schatten der Sittlichkeit,
hinterdrein und nebenbei erwähnt werden sollten, und daß die Gedanken der
Schüler bei Gegenständen festgehalten werden, über die sie vielleicht, wenn sie
ihnen im Leben aufstoßen, mit flüchtigem Erröten hinweghüpfeu. Ich war noch
gläubiger römischer Katholik, als einmal die Kritik der zehn Gebote, die Goethe
Mittlern in den Mund legt, tiefen Eindruck auf mich machte. Nichts sei unge¬
schickter und barbarischer, als Verbote, als verbietende Gesetze und Anordnungen.
"Der Mensch ist von Hause aus thätig, und wenn man ihm zu gebieten
versteht, so führt er gleich dahinter her, handelt und richtet aus. Ich für
meine Person mag lieber in meinem Kreise Fehler und Gebrechen so lange
dulden, bis ich die entgegengesetzte Tugend gebieten kaun, als daß ich den
Fehler los würde und nichts Rechtes an seiner Stelle sahe. . . . Wie ver¬
drießlich ist mirs oft, mit anzuhören, wie man die zehn Gebote in der Kinder¬
lehre wiederholen läßt. Das vierte ist noch ein ganz hübsches, vernünftiges,
gebietendes Gebot. . . . Nun aber das fünfte, was soll man dazu sagen?
Als wenn irgend ein Mensch im mindesten Lust hätte, den andern tot zu
schlagen! Man haßt einen, man erzürnt sich, man übereilt sich, und in Gefolg
von dem und manchem andern kaun es wohl kommen, daß man gelegentlich
eiuen tot schlägt. Aber ist es nicht eine barbarische Anstalt, den Kindern
Mord und Totschlag zu verbieten? Wenn es hieße: sorge für des andern
Leben, entferne, was ihm schädlich sein kann, rette ihn mit deiner eignen
Gefahr: das sind Gebote, wie sie nnter gebildeten vernünftigen Völkern statt
haben, und die man in der Katechismuslehre nur kümmerlich in dem Wasistdas
nachschleppt. Und nun gar das sechste . . . wie grob, wie unanständig!
Klänge es nicht ganz anders, wenn es hieße: Du sollst Ehrfurcht haben vor
der ehelichen Verbindung; wo du Gatten siehst, die sich lieben, sollst du dich
darüber freuen und teil daran nehmen wie an dem Glück eines heitern
Tages usw." Das Verbot selbst möchte noch angehen, wenn es nur die Er¬
klärungen nicht uoch schlimmer machten. In den katholischen Katechismen wird
gewöhnlich gesagt, das sechste Gebot verbiete "alle unkeuschen Gedanken, Worte
und Werke," was gar nicht wahr ist und das Verständnis des Verbots ver¬
baut. Die christlichen Geistlichen könnten sich für die Erklärung des sechsten
Gebots bei Xenophon Rat holen, der an vielen Stellen sehr schön über die
Ehe spricht und besonders an einer einen sür den Katecheten sehr brauchbaren
Fingerzeig giebt. Er läßt den Tyrannen Hiero in einem Gespräch mit Simo¬
nides die Freundschaft preisen und sagen, auch die meisten Stadtobrigkeiten
hätten sie als das höchste irdische Gut anerkannt, und zwar dadurch, daß sie
den Mann straflos ließen, der den ertappten Ehebrecher erschlägt; denn die
Freundschaft zwischen Mann und Weib, die die sinnliche Liebe überdaure, sei


Religionsunterricht

Überhaupt aber ist es ein Grundfehler des christlichen Unterrichts in der
Sittenlehre, daß dabei Verbote und Sünden, also die Unsittlichkeiten, in den
Vordergrund gestellt werden, die doch uur, als die Schatten der Sittlichkeit,
hinterdrein und nebenbei erwähnt werden sollten, und daß die Gedanken der
Schüler bei Gegenständen festgehalten werden, über die sie vielleicht, wenn sie
ihnen im Leben aufstoßen, mit flüchtigem Erröten hinweghüpfeu. Ich war noch
gläubiger römischer Katholik, als einmal die Kritik der zehn Gebote, die Goethe
Mittlern in den Mund legt, tiefen Eindruck auf mich machte. Nichts sei unge¬
schickter und barbarischer, als Verbote, als verbietende Gesetze und Anordnungen.
„Der Mensch ist von Hause aus thätig, und wenn man ihm zu gebieten
versteht, so führt er gleich dahinter her, handelt und richtet aus. Ich für
meine Person mag lieber in meinem Kreise Fehler und Gebrechen so lange
dulden, bis ich die entgegengesetzte Tugend gebieten kaun, als daß ich den
Fehler los würde und nichts Rechtes an seiner Stelle sahe. . . . Wie ver¬
drießlich ist mirs oft, mit anzuhören, wie man die zehn Gebote in der Kinder¬
lehre wiederholen läßt. Das vierte ist noch ein ganz hübsches, vernünftiges,
gebietendes Gebot. . . . Nun aber das fünfte, was soll man dazu sagen?
Als wenn irgend ein Mensch im mindesten Lust hätte, den andern tot zu
schlagen! Man haßt einen, man erzürnt sich, man übereilt sich, und in Gefolg
von dem und manchem andern kaun es wohl kommen, daß man gelegentlich
eiuen tot schlägt. Aber ist es nicht eine barbarische Anstalt, den Kindern
Mord und Totschlag zu verbieten? Wenn es hieße: sorge für des andern
Leben, entferne, was ihm schädlich sein kann, rette ihn mit deiner eignen
Gefahr: das sind Gebote, wie sie nnter gebildeten vernünftigen Völkern statt
haben, und die man in der Katechismuslehre nur kümmerlich in dem Wasistdas
nachschleppt. Und nun gar das sechste . . . wie grob, wie unanständig!
Klänge es nicht ganz anders, wenn es hieße: Du sollst Ehrfurcht haben vor
der ehelichen Verbindung; wo du Gatten siehst, die sich lieben, sollst du dich
darüber freuen und teil daran nehmen wie an dem Glück eines heitern
Tages usw." Das Verbot selbst möchte noch angehen, wenn es nur die Er¬
klärungen nicht uoch schlimmer machten. In den katholischen Katechismen wird
gewöhnlich gesagt, das sechste Gebot verbiete „alle unkeuschen Gedanken, Worte
und Werke," was gar nicht wahr ist und das Verständnis des Verbots ver¬
baut. Die christlichen Geistlichen könnten sich für die Erklärung des sechsten
Gebots bei Xenophon Rat holen, der an vielen Stellen sehr schön über die
Ehe spricht und besonders an einer einen sür den Katecheten sehr brauchbaren
Fingerzeig giebt. Er läßt den Tyrannen Hiero in einem Gespräch mit Simo¬
nides die Freundschaft preisen und sagen, auch die meisten Stadtobrigkeiten
hätten sie als das höchste irdische Gut anerkannt, und zwar dadurch, daß sie
den Mann straflos ließen, der den ertappten Ehebrecher erschlägt; denn die
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[0269] Religionsunterricht Überhaupt aber ist es ein Grundfehler des christlichen Unterrichts in der Sittenlehre, daß dabei Verbote und Sünden, also die Unsittlichkeiten, in den Vordergrund gestellt werden, die doch uur, als die Schatten der Sittlichkeit, hinterdrein und nebenbei erwähnt werden sollten, und daß die Gedanken der Schüler bei Gegenständen festgehalten werden, über die sie vielleicht, wenn sie ihnen im Leben aufstoßen, mit flüchtigem Erröten hinweghüpfeu. Ich war noch gläubiger römischer Katholik, als einmal die Kritik der zehn Gebote, die Goethe Mittlern in den Mund legt, tiefen Eindruck auf mich machte. Nichts sei unge¬ schickter und barbarischer, als Verbote, als verbietende Gesetze und Anordnungen. „Der Mensch ist von Hause aus thätig, und wenn man ihm zu gebieten versteht, so führt er gleich dahinter her, handelt und richtet aus. Ich für meine Person mag lieber in meinem Kreise Fehler und Gebrechen so lange dulden, bis ich die entgegengesetzte Tugend gebieten kaun, als daß ich den Fehler los würde und nichts Rechtes an seiner Stelle sahe. . . . Wie ver¬ drießlich ist mirs oft, mit anzuhören, wie man die zehn Gebote in der Kinder¬ lehre wiederholen läßt. Das vierte ist noch ein ganz hübsches, vernünftiges, gebietendes Gebot. . . . Nun aber das fünfte, was soll man dazu sagen? Als wenn irgend ein Mensch im mindesten Lust hätte, den andern tot zu schlagen! Man haßt einen, man erzürnt sich, man übereilt sich, und in Gefolg von dem und manchem andern kaun es wohl kommen, daß man gelegentlich eiuen tot schlägt. Aber ist es nicht eine barbarische Anstalt, den Kindern Mord und Totschlag zu verbieten? Wenn es hieße: sorge für des andern Leben, entferne, was ihm schädlich sein kann, rette ihn mit deiner eignen Gefahr: das sind Gebote, wie sie nnter gebildeten vernünftigen Völkern statt haben, und die man in der Katechismuslehre nur kümmerlich in dem Wasistdas nachschleppt. Und nun gar das sechste . . . wie grob, wie unanständig! Klänge es nicht ganz anders, wenn es hieße: Du sollst Ehrfurcht haben vor der ehelichen Verbindung; wo du Gatten siehst, die sich lieben, sollst du dich darüber freuen und teil daran nehmen wie an dem Glück eines heitern Tages usw." Das Verbot selbst möchte noch angehen, wenn es nur die Er¬ klärungen nicht uoch schlimmer machten. In den katholischen Katechismen wird gewöhnlich gesagt, das sechste Gebot verbiete „alle unkeuschen Gedanken, Worte und Werke," was gar nicht wahr ist und das Verständnis des Verbots ver¬ baut. Die christlichen Geistlichen könnten sich für die Erklärung des sechsten Gebots bei Xenophon Rat holen, der an vielen Stellen sehr schön über die Ehe spricht und besonders an einer einen sür den Katecheten sehr brauchbaren Fingerzeig giebt. Er läßt den Tyrannen Hiero in einem Gespräch mit Simo¬ nides die Freundschaft preisen und sagen, auch die meisten Stadtobrigkeiten hätten sie als das höchste irdische Gut anerkannt, und zwar dadurch, daß sie den Mann straflos ließen, der den ertappten Ehebrecher erschlägt; denn die Freundschaft zwischen Mann und Weib, die die sinnliche Liebe überdaure, sei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/269>, abgerufen am 24.07.2024.