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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Religionsunterricht

Gesinnung nicht bei jedem jungen Menschen vorausgesetzt werden. Sie ist gar
nicht bei allen möglich, und dielleicht wäre auch eine aus lauter edeln und
heroischen Charakteren bestehende Gesellschaft gar nicht möglich. Das Leben
ist ein Gewirr von Frohnarbeiten, die geduldige und wenig nachdenkende
Fröhner fordern, und von Jnteressenkämpfen, bei denen es sich meistens um
ein paar Thaler und manchmal nur um ein paar Pfennige handelt. Das
Alltagsleben ist also philisterhaft und gemein und fordert gewöhnliche Alltags¬
menschen, die es verstehen, sich in seine Ordnung zu fügen und in ihre Lage
zu schicken. Dafür brauchen sie eine Anweisung, und was man gewöhnlich
Moralunterricht nennt, das ist eine solche Anweisung; sie kann also wohl nicht
gut entbehrt werden, aber wenn man das durchschaut hat, erteilt man sie nicht
gern, weil sie die zarte Vinke der edeln Gesinnung abstreift und dem edeln
Streben das Mark nimmt.

Bedenklich sind dann ferner die mancherlei Mittel zur Besserung, Ver¬
vollkommnung und Heiligung, die im katholischen und zum Teil vielleicht auch
in manchem pietistisch angehauchten evangelischen Religionsunterricht empfohlen
werden, und die insgemein auf anhaltende Beschäftigung der Seele mit sich
selbst hinauslaufen: tägliche Gewissenserforschung, selbstgewählte Abtötungen
und dergleichen. Es ist mir vorgekommen, daß den Mädchen einer Schulklasse
geraten wurde, über die kleinen Abtötungen und Entsagungen, die sie sich frei¬
willig auflegen sollten, Buch zu führen und am Wochenschluß dem Beichtvater
oder der Lehrerin Bericht zu erstatten. Es braucht nicht weitlüuftig ausgeführt
zu werden, wie diese Methode bei den oberflächlichen Seelen lächerlichen
Dünkel, bei den zarten geistige Hypochondrie, bei den stillen die gefährliche
Gewohnheit des Brütens, bei den trägen die Neigung, anstrengende Arbeit
durch Andachtstündelei zu ersetzen, bei wilden Knaben Zynismus erzeugt. Ein
junger Kaplan kam einmal ganz unglücklich ans seiner Dorfschule heim. Er
hatte mit seinen Beichtjungen eine gemeinsame Gewissenserforschung angestellt
und ihnen geraten, dabei, um jede Zerstreuung abzuwehren, den Kopf auf die
überm Tisch gefalteten Hände zu legen, und er nahm auch selbst diese Haltung
ein, von Zeit zu Zeit eine Sünde nennend und darauf in längerer Pause
Zeit zum Nachdenken lassend. Nachträglich erfuhr er, daß die Jungen diese
Situation, die ihnen großen Spaß machte, dazu benutzt hatten, einander Zoten
zuzuflüstern. Das würde nun freilich nicht überall der Erfolg gewesen sein,
denn es giebt Knaben, die ungemein empfänglich für dergleichen Veranstaltungen
sind, und in denen die Vorstellungen von Sünde und Hölle die tiefsten Er¬
schütterungen hervorbringen, aber es ist die Frage, ob nicht aus Dorfjungen,
die sich bei der Gewissensprüfung Zoten erzählen, geistig und körperlich ge¬
sündere Menschen werden, als aus zartbeseelten und gemütstiefen, die schon
in einem Lebensalter, wo sie noch in jeder Beziehung wirklich unschuldig siud,
von schrecklichen Gewissensängsten gefoltert werden.


Religionsunterricht

Gesinnung nicht bei jedem jungen Menschen vorausgesetzt werden. Sie ist gar
nicht bei allen möglich, und dielleicht wäre auch eine aus lauter edeln und
heroischen Charakteren bestehende Gesellschaft gar nicht möglich. Das Leben
ist ein Gewirr von Frohnarbeiten, die geduldige und wenig nachdenkende
Fröhner fordern, und von Jnteressenkämpfen, bei denen es sich meistens um
ein paar Thaler und manchmal nur um ein paar Pfennige handelt. Das
Alltagsleben ist also philisterhaft und gemein und fordert gewöhnliche Alltags¬
menschen, die es verstehen, sich in seine Ordnung zu fügen und in ihre Lage
zu schicken. Dafür brauchen sie eine Anweisung, und was man gewöhnlich
Moralunterricht nennt, das ist eine solche Anweisung; sie kann also wohl nicht
gut entbehrt werden, aber wenn man das durchschaut hat, erteilt man sie nicht
gern, weil sie die zarte Vinke der edeln Gesinnung abstreift und dem edeln
Streben das Mark nimmt.

Bedenklich sind dann ferner die mancherlei Mittel zur Besserung, Ver¬
vollkommnung und Heiligung, die im katholischen und zum Teil vielleicht auch
in manchem pietistisch angehauchten evangelischen Religionsunterricht empfohlen
werden, und die insgemein auf anhaltende Beschäftigung der Seele mit sich
selbst hinauslaufen: tägliche Gewissenserforschung, selbstgewählte Abtötungen
und dergleichen. Es ist mir vorgekommen, daß den Mädchen einer Schulklasse
geraten wurde, über die kleinen Abtötungen und Entsagungen, die sie sich frei¬
willig auflegen sollten, Buch zu führen und am Wochenschluß dem Beichtvater
oder der Lehrerin Bericht zu erstatten. Es braucht nicht weitlüuftig ausgeführt
zu werden, wie diese Methode bei den oberflächlichen Seelen lächerlichen
Dünkel, bei den zarten geistige Hypochondrie, bei den stillen die gefährliche
Gewohnheit des Brütens, bei den trägen die Neigung, anstrengende Arbeit
durch Andachtstündelei zu ersetzen, bei wilden Knaben Zynismus erzeugt. Ein
junger Kaplan kam einmal ganz unglücklich ans seiner Dorfschule heim. Er
hatte mit seinen Beichtjungen eine gemeinsame Gewissenserforschung angestellt
und ihnen geraten, dabei, um jede Zerstreuung abzuwehren, den Kopf auf die
überm Tisch gefalteten Hände zu legen, und er nahm auch selbst diese Haltung
ein, von Zeit zu Zeit eine Sünde nennend und darauf in längerer Pause
Zeit zum Nachdenken lassend. Nachträglich erfuhr er, daß die Jungen diese
Situation, die ihnen großen Spaß machte, dazu benutzt hatten, einander Zoten
zuzuflüstern. Das würde nun freilich nicht überall der Erfolg gewesen sein,
denn es giebt Knaben, die ungemein empfänglich für dergleichen Veranstaltungen
sind, und in denen die Vorstellungen von Sünde und Hölle die tiefsten Er¬
schütterungen hervorbringen, aber es ist die Frage, ob nicht aus Dorfjungen,
die sich bei der Gewissensprüfung Zoten erzählen, geistig und körperlich ge¬
sündere Menschen werden, als aus zartbeseelten und gemütstiefen, die schon
in einem Lebensalter, wo sie noch in jeder Beziehung wirklich unschuldig siud,
von schrecklichen Gewissensängsten gefoltert werden.


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[0268] Religionsunterricht Gesinnung nicht bei jedem jungen Menschen vorausgesetzt werden. Sie ist gar nicht bei allen möglich, und dielleicht wäre auch eine aus lauter edeln und heroischen Charakteren bestehende Gesellschaft gar nicht möglich. Das Leben ist ein Gewirr von Frohnarbeiten, die geduldige und wenig nachdenkende Fröhner fordern, und von Jnteressenkämpfen, bei denen es sich meistens um ein paar Thaler und manchmal nur um ein paar Pfennige handelt. Das Alltagsleben ist also philisterhaft und gemein und fordert gewöhnliche Alltags¬ menschen, die es verstehen, sich in seine Ordnung zu fügen und in ihre Lage zu schicken. Dafür brauchen sie eine Anweisung, und was man gewöhnlich Moralunterricht nennt, das ist eine solche Anweisung; sie kann also wohl nicht gut entbehrt werden, aber wenn man das durchschaut hat, erteilt man sie nicht gern, weil sie die zarte Vinke der edeln Gesinnung abstreift und dem edeln Streben das Mark nimmt. Bedenklich sind dann ferner die mancherlei Mittel zur Besserung, Ver¬ vollkommnung und Heiligung, die im katholischen und zum Teil vielleicht auch in manchem pietistisch angehauchten evangelischen Religionsunterricht empfohlen werden, und die insgemein auf anhaltende Beschäftigung der Seele mit sich selbst hinauslaufen: tägliche Gewissenserforschung, selbstgewählte Abtötungen und dergleichen. Es ist mir vorgekommen, daß den Mädchen einer Schulklasse geraten wurde, über die kleinen Abtötungen und Entsagungen, die sie sich frei¬ willig auflegen sollten, Buch zu führen und am Wochenschluß dem Beichtvater oder der Lehrerin Bericht zu erstatten. Es braucht nicht weitlüuftig ausgeführt zu werden, wie diese Methode bei den oberflächlichen Seelen lächerlichen Dünkel, bei den zarten geistige Hypochondrie, bei den stillen die gefährliche Gewohnheit des Brütens, bei den trägen die Neigung, anstrengende Arbeit durch Andachtstündelei zu ersetzen, bei wilden Knaben Zynismus erzeugt. Ein junger Kaplan kam einmal ganz unglücklich ans seiner Dorfschule heim. Er hatte mit seinen Beichtjungen eine gemeinsame Gewissenserforschung angestellt und ihnen geraten, dabei, um jede Zerstreuung abzuwehren, den Kopf auf die überm Tisch gefalteten Hände zu legen, und er nahm auch selbst diese Haltung ein, von Zeit zu Zeit eine Sünde nennend und darauf in längerer Pause Zeit zum Nachdenken lassend. Nachträglich erfuhr er, daß die Jungen diese Situation, die ihnen großen Spaß machte, dazu benutzt hatten, einander Zoten zuzuflüstern. Das würde nun freilich nicht überall der Erfolg gewesen sein, denn es giebt Knaben, die ungemein empfänglich für dergleichen Veranstaltungen sind, und in denen die Vorstellungen von Sünde und Hölle die tiefsten Er¬ schütterungen hervorbringen, aber es ist die Frage, ob nicht aus Dorfjungen, die sich bei der Gewissensprüfung Zoten erzählen, geistig und körperlich ge¬ sündere Menschen werden, als aus zartbeseelten und gemütstiefen, die schon in einem Lebensalter, wo sie noch in jeder Beziehung wirklich unschuldig siud, von schrecklichen Gewissensängsten gefoltert werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/268>, abgerufen am 24.07.2024.