Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.Volkstümliche und landschaftliche Erzählungen Figur, für die sich trotz aller seiner Tüchtigkeit keiner erwärmen wird, aber Wenn wir in diesem Zusammenhange noch kurz von einer ebenfalls volks¬ Volkstümliche und landschaftliche Erzählungen Figur, für die sich trotz aller seiner Tüchtigkeit keiner erwärmen wird, aber Wenn wir in diesem Zusammenhange noch kurz von einer ebenfalls volks¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0223" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225809"/> <fw type="header" place="top"> Volkstümliche und landschaftliche Erzählungen</fw><lb/> <p xml:id="ID_536" prev="#ID_535"> Figur, für die sich trotz aller seiner Tüchtigkeit keiner erwärmen wird, aber<lb/> er ist echt. Der junge Mann aber ist menschlich interessant. Als er schon<lb/> verheiratet ist, drängt sich störend in seine Liebe das Bild der verstorbnen<lb/> Mutter, es scheint das Glück unmöglich zu machen, die Beschreibung der<lb/> Seelenvorgänge nimmt hier sehr starke Farben an. Mit solcher Deutlichkeit<lb/> wird sonst nicht leicht von Dingen gesprochen, die man gewöhnlich nur erraten<lb/> läßt, und das ist eine Art von Realismus, die ich als neu in der Litteratur<lb/> bezeichnen möchte, und die wohl etwas mit der landesüblichen Ausdrucksweise<lb/> zusammenhängt. Bei Gottfried Keller findet sich auch dergleichen. Es ist<lb/> durchaus zu unterscheiden von dem, was künstlich herbeigeholt wird und reizen<lb/> soll und darum unanständig ist. Hier, wo es natürlich ist, wird es doch mit<lb/> großer Kunst verwendet, und es thut seine Wirkung, es ist sogar, um ein<lb/> vielgebrauchtes Wort anzuwenden, das bedeutende an diesem Buche. Mancher<lb/> wird diese Partien derb finden und ein solches Aufdecken der Natur für un¬<lb/> zulässig erklären. ?vus iss ssntiinöQts vaturels opt, Isur xuäsur, heißt es<lb/> einmal bei Frau von Staöl. Trotz diesem Erröten läßt sich aber die Kunst<lb/> nicht abhalten, sich mit ihnen zu beschäftigen. Wir haben uns gewöhnt, dem<lb/> Dichter mehr zu gestatten als dem Prosaiker, und darin, daß dieser Schrift¬<lb/> steller das fragliche Etwas in ganz kühler Beleuchtung zeigt, liegt für uns<lb/> die Besonderheit. Wir haben bei einzelnen seiner Landsleute ähnliches ge¬<lb/> sunden, was wir lieber vermißt hätten. Hier scheint uns aller Anstoß ver¬<lb/> mieden und die Grenze des in der deutschen Sprache Sagbaren noch ein wenig<lb/> erweitert worden zu sein. Darum die lange Umschreibung, die vielleicht den<lb/> Zweck erfüllt, den Leser auf das „Ding an sich" neugierig zu machen. Noch<lb/> eine Kleinigkeit: aus dem „dritten" Korintherbriefe konnte der Pfarrer keinen<lb/> Text für seine Leichenpredigt nehmen!</p><lb/> <p xml:id="ID_537" next="#ID_538"> Wenn wir in diesem Zusammenhange noch kurz von einer ebenfalls volks¬<lb/> tümlichen ältern Erzählung sprechen, die sich mit dem Bürgertum einer be¬<lb/> stimmten deutschen Landschaft beschäftigt, so geschieht es, weil ihr verdienst¬<lb/> voller Verfasser im Vorwort der neuen Auflage seine Kritiker ermahnt, nicht<lb/> unnötigerweise zu tadeln, was anders sein könnte, und weil er dadurch un¬<lb/> willkürlich nachdenkende Leser darauf hinführt, sich klar zu machen, was denn<lb/> Wohl an seinem Buche anders sein mag, als an denen, die heute geschrieben<lb/> werden. Unsers Herrgotts Kanzlei, d. h. Magdeburg im Kampf gegen<lb/> die Katholischen zur Zeit des Augsburger Interims (1550), war das Erstlings¬<lb/> werk von Wilhelm Raabe (1362). Daß es jetzt in dritter Auflage er¬<lb/> schienen ist (Magdeburg, Creutz), zeugt hinlänglich von seiner Lebenskraft.<lb/> Auch die Anlage des Ganzen könnte bei einem derartigen Roman heute nicht<lb/> anders gemacht werden: inmitten des breit geschilderten städtischen Lebens und<lb/> des Kriegstreibens knüpft sich ein Liebesbund zwischen dem Natsherrnsohn<lb/> Markus Horn und der Jungfran Regina Lotther. Gleichzeitige Berichte</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0223]
Volkstümliche und landschaftliche Erzählungen
Figur, für die sich trotz aller seiner Tüchtigkeit keiner erwärmen wird, aber
er ist echt. Der junge Mann aber ist menschlich interessant. Als er schon
verheiratet ist, drängt sich störend in seine Liebe das Bild der verstorbnen
Mutter, es scheint das Glück unmöglich zu machen, die Beschreibung der
Seelenvorgänge nimmt hier sehr starke Farben an. Mit solcher Deutlichkeit
wird sonst nicht leicht von Dingen gesprochen, die man gewöhnlich nur erraten
läßt, und das ist eine Art von Realismus, die ich als neu in der Litteratur
bezeichnen möchte, und die wohl etwas mit der landesüblichen Ausdrucksweise
zusammenhängt. Bei Gottfried Keller findet sich auch dergleichen. Es ist
durchaus zu unterscheiden von dem, was künstlich herbeigeholt wird und reizen
soll und darum unanständig ist. Hier, wo es natürlich ist, wird es doch mit
großer Kunst verwendet, und es thut seine Wirkung, es ist sogar, um ein
vielgebrauchtes Wort anzuwenden, das bedeutende an diesem Buche. Mancher
wird diese Partien derb finden und ein solches Aufdecken der Natur für un¬
zulässig erklären. ?vus iss ssntiinöQts vaturels opt, Isur xuäsur, heißt es
einmal bei Frau von Staöl. Trotz diesem Erröten läßt sich aber die Kunst
nicht abhalten, sich mit ihnen zu beschäftigen. Wir haben uns gewöhnt, dem
Dichter mehr zu gestatten als dem Prosaiker, und darin, daß dieser Schrift¬
steller das fragliche Etwas in ganz kühler Beleuchtung zeigt, liegt für uns
die Besonderheit. Wir haben bei einzelnen seiner Landsleute ähnliches ge¬
sunden, was wir lieber vermißt hätten. Hier scheint uns aller Anstoß ver¬
mieden und die Grenze des in der deutschen Sprache Sagbaren noch ein wenig
erweitert worden zu sein. Darum die lange Umschreibung, die vielleicht den
Zweck erfüllt, den Leser auf das „Ding an sich" neugierig zu machen. Noch
eine Kleinigkeit: aus dem „dritten" Korintherbriefe konnte der Pfarrer keinen
Text für seine Leichenpredigt nehmen!
Wenn wir in diesem Zusammenhange noch kurz von einer ebenfalls volks¬
tümlichen ältern Erzählung sprechen, die sich mit dem Bürgertum einer be¬
stimmten deutschen Landschaft beschäftigt, so geschieht es, weil ihr verdienst¬
voller Verfasser im Vorwort der neuen Auflage seine Kritiker ermahnt, nicht
unnötigerweise zu tadeln, was anders sein könnte, und weil er dadurch un¬
willkürlich nachdenkende Leser darauf hinführt, sich klar zu machen, was denn
Wohl an seinem Buche anders sein mag, als an denen, die heute geschrieben
werden. Unsers Herrgotts Kanzlei, d. h. Magdeburg im Kampf gegen
die Katholischen zur Zeit des Augsburger Interims (1550), war das Erstlings¬
werk von Wilhelm Raabe (1362). Daß es jetzt in dritter Auflage er¬
schienen ist (Magdeburg, Creutz), zeugt hinlänglich von seiner Lebenskraft.
Auch die Anlage des Ganzen könnte bei einem derartigen Roman heute nicht
anders gemacht werden: inmitten des breit geschilderten städtischen Lebens und
des Kriegstreibens knüpft sich ein Liebesbund zwischen dem Natsherrnsohn
Markus Horn und der Jungfran Regina Lotther. Gleichzeitige Berichte
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |