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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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geblich umworben, und dessen Schwester möchte und soll nach dem Wunsche
der beiderseitigen Eltern den jungen Hänfling heiraten, sodaß es dann zwei
Paare gäbe zur Zufriedenheit aller, mit Ausnahme der beiden Hauptpersonen,
die nicht von einander lassen wollen. Praktisch angesehen, ist das nicht sehr
vernünftig, denn er hat nichts, und sie nicht viel mehr, während auf die
andre Weise, wenn jedes von ihnen sich mit einem Sonnenwirtskinde zusammen¬
thäte, Reichtum zu Armut käme und diese Güterverteilung das Fortkommen
der beiden künftigen Familien aufs beste verbürgen würde. Man könnte es
verstehen, wenn der Pfarrer, der das Vertrauen des jungen Mannes besitzt,
sich mit seiner diesseitigen Lebensklugheit für das praktisch Klügere entschiede,
zumal da der Jüngling sich durch ein seiner kürzlich verstorbnen Mutter gegebnes
Versprechen in seinem Gewissen gebunden fühlt, die wohlhabende Svnnenwirts-
tochter zu heiraten und dadurch zugleich für die Zukunft seiner kleinen Ge¬
schwister zu sorgen. Dann wäre die Geschichte leicht zu Ende gebracht. Aber
der junge Manu liebt mit dem Herzen nur das arme Mädchen, und der
Pfarrer entscheidet die Gewissensfrage dahin, daß ihn zwar keiner von dem
gegebnen Versprechen lösen könne, daß er sich aber selbst aus eigner innerer
Kraft, wenn er fühle, daß seine Liebe stark genug sei, zu einem "neuen" Ge¬
wissen durcharbeiten müsse. Und auf dieses Ziel hin führt nun eine ganz
vortreffliche, Teilnahme erweckende und spannende Schilderung sowohl der
Seelenzustände als der äußern Verhältnisse und vielfachen Hindernisse, die in
schweren Kämpfen überwunden werden müssen. Anstatt die Fabel des Stücks,
die ihrem Kerne nach hiermit gegeben ist, zur Unterhaltung des Lesers näher
auszuführen, wollen wir lieber versuchen, darzulegen, worauf die besondre und
in manchen Stücken ganz neu erscheinende Schilderungskunst des Verfassers
beruht, die dann hoffentlich der Leser aus dem Buche selbst heraus auf sich
wirken lassen wird. Einen großen Raum nehmen die Vorkommnisse des täg¬
lichen Lebens ein, sie werden ruhig, ausführlich und mit der etwas gespreizten
Wichtigkeit erzählt, die das Volk seinen Hantirungen beilegt. Man sieht die
Menschen fast darin aufgehen, und der Held des Romans findet dabei feine
Stelle. Jahrmarkt, Ernte, Leichenschmaus, militärische Übung, das Graben
einer Wasserleitung machen das Leben der Dorflente aus, dahinter scheint
manchmal der Seelenroman etwas verloren zu gehen, aber dann kündigt er
sich plötzlich wieder an, und zwar wird hier alles eigentlich sentimentale auf
das Notwendigste beschränkt und dafür ein schlichter Ausdruck der Empfindung
gewählt. Wir bekommen dadurch die Vorstellung von wahren und erlebten
Vorgängen. Aber die Menschen sind keineswegs, wie man denken könnte, von
der Beschaffenheit, daß wir keinen Anteil an ihrem Ergehen nähmen. Viele
von ihnen, ja -- die Schweizer haben ja leicht etwas nüchternes, was zum
Rechnen und Zählen neigt, und solche bilden hier auch das "Milieu," wodurch
der landschaftliche Charakter treu hergestellt wird. Auch der Pfarrer ist eine


geblich umworben, und dessen Schwester möchte und soll nach dem Wunsche
der beiderseitigen Eltern den jungen Hänfling heiraten, sodaß es dann zwei
Paare gäbe zur Zufriedenheit aller, mit Ausnahme der beiden Hauptpersonen,
die nicht von einander lassen wollen. Praktisch angesehen, ist das nicht sehr
vernünftig, denn er hat nichts, und sie nicht viel mehr, während auf die
andre Weise, wenn jedes von ihnen sich mit einem Sonnenwirtskinde zusammen¬
thäte, Reichtum zu Armut käme und diese Güterverteilung das Fortkommen
der beiden künftigen Familien aufs beste verbürgen würde. Man könnte es
verstehen, wenn der Pfarrer, der das Vertrauen des jungen Mannes besitzt,
sich mit seiner diesseitigen Lebensklugheit für das praktisch Klügere entschiede,
zumal da der Jüngling sich durch ein seiner kürzlich verstorbnen Mutter gegebnes
Versprechen in seinem Gewissen gebunden fühlt, die wohlhabende Svnnenwirts-
tochter zu heiraten und dadurch zugleich für die Zukunft seiner kleinen Ge¬
schwister zu sorgen. Dann wäre die Geschichte leicht zu Ende gebracht. Aber
der junge Manu liebt mit dem Herzen nur das arme Mädchen, und der
Pfarrer entscheidet die Gewissensfrage dahin, daß ihn zwar keiner von dem
gegebnen Versprechen lösen könne, daß er sich aber selbst aus eigner innerer
Kraft, wenn er fühle, daß seine Liebe stark genug sei, zu einem „neuen" Ge¬
wissen durcharbeiten müsse. Und auf dieses Ziel hin führt nun eine ganz
vortreffliche, Teilnahme erweckende und spannende Schilderung sowohl der
Seelenzustände als der äußern Verhältnisse und vielfachen Hindernisse, die in
schweren Kämpfen überwunden werden müssen. Anstatt die Fabel des Stücks,
die ihrem Kerne nach hiermit gegeben ist, zur Unterhaltung des Lesers näher
auszuführen, wollen wir lieber versuchen, darzulegen, worauf die besondre und
in manchen Stücken ganz neu erscheinende Schilderungskunst des Verfassers
beruht, die dann hoffentlich der Leser aus dem Buche selbst heraus auf sich
wirken lassen wird. Einen großen Raum nehmen die Vorkommnisse des täg¬
lichen Lebens ein, sie werden ruhig, ausführlich und mit der etwas gespreizten
Wichtigkeit erzählt, die das Volk seinen Hantirungen beilegt. Man sieht die
Menschen fast darin aufgehen, und der Held des Romans findet dabei feine
Stelle. Jahrmarkt, Ernte, Leichenschmaus, militärische Übung, das Graben
einer Wasserleitung machen das Leben der Dorflente aus, dahinter scheint
manchmal der Seelenroman etwas verloren zu gehen, aber dann kündigt er
sich plötzlich wieder an, und zwar wird hier alles eigentlich sentimentale auf
das Notwendigste beschränkt und dafür ein schlichter Ausdruck der Empfindung
gewählt. Wir bekommen dadurch die Vorstellung von wahren und erlebten
Vorgängen. Aber die Menschen sind keineswegs, wie man denken könnte, von
der Beschaffenheit, daß wir keinen Anteil an ihrem Ergehen nähmen. Viele
von ihnen, ja — die Schweizer haben ja leicht etwas nüchternes, was zum
Rechnen und Zählen neigt, und solche bilden hier auch das „Milieu," wodurch
der landschaftliche Charakter treu hergestellt wird. Auch der Pfarrer ist eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/222>, abgerufen am 04.07.2024.