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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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volkstümliche und landschaftliche Erzählungen

bezogne Lehre des Christentums, die sich manchmal gegen die "alte," die den
Zweck ins Jenseits setzt, auflehnt und von einem vortrefflichen Dorfpfarrer
vertreten wird. Hören wir ihm eine Weile zu. "Jedenfalls dürfen wir unser
wirkliches Leben nicht so einrichten, als ob unsre Hoffnungen sich im jenseitigen
erfüllen müßten. Wer das thut, giebt das blühende wirkliche Leben preis zu
Gunsten eines schattenhaften, eingebildeten. Und könnte es denn im Sinne des
Schöpfers gelegen haben, uns das schöne Leben zu geben, damit wir es ver¬
trödeln und verplempern, anstatt es so vielseitig und so lange als möglich
auszunützen?" Von der Kanzel herab straft er ein Gemeindemitglied mit den
Worten: "Wenn der. von dem die Rede ist, einen Fehler begangen, so können
wir uns denken, daß er unter der Behandlung, die ihm seitdem zu teil ge¬
worden, genugsam gelitten und gebüßt hat; aber auch sonst wird sich Gott
an ihm erweisen, da jede Schuld sich auf Erden rächt." -- "Im Himmel,"
unterbrach ihn einer von den Ältesten. -- "Ach, entgegnete der Pfarrer ruhig,
fast wehmütig, meinetwegen im Himmel. Aber wer weiß, ob es ohne die
Verheißung des jüngsten Gerichts und der Seligkeit im Himmel nicht besser
stünde auf Erden? Wie viele stumpfen sich gegen ihre bessern Regungen und
Gewissensbisse ab, quälen ihre Nächsten, versäumen es den Notleidenden mit¬
zuteilen und für das Wohl der Gesamtheit zu arbeiten, bestündig von dem
erfahrungslosen Gedanken beherrscht, daß die, die auf Erden Steine gekaut,
im Himmel Honig essen werden? Wenn sie ans Umgekehrte und an einen
Ausgleich vor dem ewigen Richter wirklich glaubten, so würden sie schleunig
ihren Hvnigtvpf den Armen überlassen und Steine kauen, um auf diese Weise
ein kurzes und bittres Erdenleben gegen eine lange und süße Seligkeit ein¬
zutauschen. Es steht also dem Glauben, daß einst die Menschheit einer seligen
Verklärung auf Erden entgegengehe, nichts im Wege, und wir haben den
herrlichen Trost, daß wir, indem wir aufrichtig an unsrer Verbesserung arbeiten
und das höchste Gebot der Christenliebe am Nächsten erfüllen, auf Erden ein
schönes, reines Leben führen können, das wert ist, gelebt zu werden, ohne daß
wir uns zu grämen und zu härmen brauchen über die Endlichkeit desselben
und deu Gedanken, daß alles Staub werde. Denn Staub werden wir ja
uicht, sofern wir jenes Gebot erfüllen: Wir haben gesäet, und die Saat wird
aufgehen. Wir leben in dem, was nach uns kommt." Wahrscheinlich hat
schon mancher von uns solch einen Pfarrer angetroffen, wir verstehen es, wie
er seinen ebenso praktisch empfindenden Gemeindegliedern raten und helfen kann,
begreifen aber auch, daß sein "neues Gewissen" nicht für alle Anforderungen
seines geistlichen Berufes ausreicht, sodaß er am Schluß des Buches in die
Kantonshauptstadt zieht und dort ein tüchtiger Schulprofessor wird. Aber
vorher schildert uns der Roman sein Wirken unter deu Leuten des Dorfes.
Die Hauptpersonen sind ein armer, sehr tüchtiger Hüusliugssohn und seine
Braut und spätere Frau. Sie wird von dem reichen Sonnenwirtssohn ver-


volkstümliche und landschaftliche Erzählungen

bezogne Lehre des Christentums, die sich manchmal gegen die „alte," die den
Zweck ins Jenseits setzt, auflehnt und von einem vortrefflichen Dorfpfarrer
vertreten wird. Hören wir ihm eine Weile zu. „Jedenfalls dürfen wir unser
wirkliches Leben nicht so einrichten, als ob unsre Hoffnungen sich im jenseitigen
erfüllen müßten. Wer das thut, giebt das blühende wirkliche Leben preis zu
Gunsten eines schattenhaften, eingebildeten. Und könnte es denn im Sinne des
Schöpfers gelegen haben, uns das schöne Leben zu geben, damit wir es ver¬
trödeln und verplempern, anstatt es so vielseitig und so lange als möglich
auszunützen?" Von der Kanzel herab straft er ein Gemeindemitglied mit den
Worten: „Wenn der. von dem die Rede ist, einen Fehler begangen, so können
wir uns denken, daß er unter der Behandlung, die ihm seitdem zu teil ge¬
worden, genugsam gelitten und gebüßt hat; aber auch sonst wird sich Gott
an ihm erweisen, da jede Schuld sich auf Erden rächt." — „Im Himmel,"
unterbrach ihn einer von den Ältesten. — „Ach, entgegnete der Pfarrer ruhig,
fast wehmütig, meinetwegen im Himmel. Aber wer weiß, ob es ohne die
Verheißung des jüngsten Gerichts und der Seligkeit im Himmel nicht besser
stünde auf Erden? Wie viele stumpfen sich gegen ihre bessern Regungen und
Gewissensbisse ab, quälen ihre Nächsten, versäumen es den Notleidenden mit¬
zuteilen und für das Wohl der Gesamtheit zu arbeiten, bestündig von dem
erfahrungslosen Gedanken beherrscht, daß die, die auf Erden Steine gekaut,
im Himmel Honig essen werden? Wenn sie ans Umgekehrte und an einen
Ausgleich vor dem ewigen Richter wirklich glaubten, so würden sie schleunig
ihren Hvnigtvpf den Armen überlassen und Steine kauen, um auf diese Weise
ein kurzes und bittres Erdenleben gegen eine lange und süße Seligkeit ein¬
zutauschen. Es steht also dem Glauben, daß einst die Menschheit einer seligen
Verklärung auf Erden entgegengehe, nichts im Wege, und wir haben den
herrlichen Trost, daß wir, indem wir aufrichtig an unsrer Verbesserung arbeiten
und das höchste Gebot der Christenliebe am Nächsten erfüllen, auf Erden ein
schönes, reines Leben führen können, das wert ist, gelebt zu werden, ohne daß
wir uns zu grämen und zu härmen brauchen über die Endlichkeit desselben
und deu Gedanken, daß alles Staub werde. Denn Staub werden wir ja
uicht, sofern wir jenes Gebot erfüllen: Wir haben gesäet, und die Saat wird
aufgehen. Wir leben in dem, was nach uns kommt." Wahrscheinlich hat
schon mancher von uns solch einen Pfarrer angetroffen, wir verstehen es, wie
er seinen ebenso praktisch empfindenden Gemeindegliedern raten und helfen kann,
begreifen aber auch, daß sein „neues Gewissen" nicht für alle Anforderungen
seines geistlichen Berufes ausreicht, sodaß er am Schluß des Buches in die
Kantonshauptstadt zieht und dort ein tüchtiger Schulprofessor wird. Aber
vorher schildert uns der Roman sein Wirken unter deu Leuten des Dorfes.
Die Hauptpersonen sind ein armer, sehr tüchtiger Hüusliugssohn und seine
Braut und spätere Frau. Sie wird von dem reichen Sonnenwirtssohn ver-


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[0221] volkstümliche und landschaftliche Erzählungen bezogne Lehre des Christentums, die sich manchmal gegen die „alte," die den Zweck ins Jenseits setzt, auflehnt und von einem vortrefflichen Dorfpfarrer vertreten wird. Hören wir ihm eine Weile zu. „Jedenfalls dürfen wir unser wirkliches Leben nicht so einrichten, als ob unsre Hoffnungen sich im jenseitigen erfüllen müßten. Wer das thut, giebt das blühende wirkliche Leben preis zu Gunsten eines schattenhaften, eingebildeten. Und könnte es denn im Sinne des Schöpfers gelegen haben, uns das schöne Leben zu geben, damit wir es ver¬ trödeln und verplempern, anstatt es so vielseitig und so lange als möglich auszunützen?" Von der Kanzel herab straft er ein Gemeindemitglied mit den Worten: „Wenn der. von dem die Rede ist, einen Fehler begangen, so können wir uns denken, daß er unter der Behandlung, die ihm seitdem zu teil ge¬ worden, genugsam gelitten und gebüßt hat; aber auch sonst wird sich Gott an ihm erweisen, da jede Schuld sich auf Erden rächt." — „Im Himmel," unterbrach ihn einer von den Ältesten. — „Ach, entgegnete der Pfarrer ruhig, fast wehmütig, meinetwegen im Himmel. Aber wer weiß, ob es ohne die Verheißung des jüngsten Gerichts und der Seligkeit im Himmel nicht besser stünde auf Erden? Wie viele stumpfen sich gegen ihre bessern Regungen und Gewissensbisse ab, quälen ihre Nächsten, versäumen es den Notleidenden mit¬ zuteilen und für das Wohl der Gesamtheit zu arbeiten, bestündig von dem erfahrungslosen Gedanken beherrscht, daß die, die auf Erden Steine gekaut, im Himmel Honig essen werden? Wenn sie ans Umgekehrte und an einen Ausgleich vor dem ewigen Richter wirklich glaubten, so würden sie schleunig ihren Hvnigtvpf den Armen überlassen und Steine kauen, um auf diese Weise ein kurzes und bittres Erdenleben gegen eine lange und süße Seligkeit ein¬ zutauschen. Es steht also dem Glauben, daß einst die Menschheit einer seligen Verklärung auf Erden entgegengehe, nichts im Wege, und wir haben den herrlichen Trost, daß wir, indem wir aufrichtig an unsrer Verbesserung arbeiten und das höchste Gebot der Christenliebe am Nächsten erfüllen, auf Erden ein schönes, reines Leben führen können, das wert ist, gelebt zu werden, ohne daß wir uns zu grämen und zu härmen brauchen über die Endlichkeit desselben und deu Gedanken, daß alles Staub werde. Denn Staub werden wir ja uicht, sofern wir jenes Gebot erfüllen: Wir haben gesäet, und die Saat wird aufgehen. Wir leben in dem, was nach uns kommt." Wahrscheinlich hat schon mancher von uns solch einen Pfarrer angetroffen, wir verstehen es, wie er seinen ebenso praktisch empfindenden Gemeindegliedern raten und helfen kann, begreifen aber auch, daß sein „neues Gewissen" nicht für alle Anforderungen seines geistlichen Berufes ausreicht, sodaß er am Schluß des Buches in die Kantonshauptstadt zieht und dort ein tüchtiger Schulprofessor wird. Aber vorher schildert uns der Roman sein Wirken unter deu Leuten des Dorfes. Die Hauptpersonen sind ein armer, sehr tüchtiger Hüusliugssohn und seine Braut und spätere Frau. Sie wird von dem reichen Sonnenwirtssohn ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/221>, abgerufen am 24.07.2024.