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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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volkstümliche und landschaftliche Erzählungen

der rechtgläubige Schulmeister ins Unrecht gesetzt werden, daß gegen ihre buch¬
stäbliche Auffassung des Christentums ein Konflikt herbeigeführt wird, in dem
die Gegenseite, der Bauer mit seiner natürlichen Anschauung, Recht bekommt.
Die Tendenz ist ja nicht neu. und sie wird vielen zusagen. Wir wollen uus
wenigstens nicht durch sie stören lassen und uns an der guten Beobachtung
und der deutlichen Schilderung erfreuen, die von einer nicht gewöhnlichen Be¬
gabung zeugen. Eine einzige Erzählung, die letzte, ist abgeschmackt und ganz
unwahrscheinlich, alle andern behandeln Dinge, die vorkommen können, jeder
von uns hat ähnliches erlebt, einige sind ganz vortrefflich: Vom langen Franz.
Der Fiskusbauer, Der Mahlknecht. Weil es nun aber dem Kanzelsricdrich
gefallen hat, seine Weisheit an den zehn Geboten aufzuhängen, so müßte es
auch seinen Lesern möglich sein, sie stückweise von ihrem bestimmte!: Haken
herunterzunehmen, und gewiß giebt es kaum einen, der auf dieses Spiel des
Verstandes als Zugabe zu der Unterhaltung verzichtete und nicht den Versuch
machte, die einzelnen Gebote in den Erzählungen wiederzufinden. Die ersten
sechs Gebote und das achte wird er finden, das siebente kaum (Der Mahl¬
knecht?), die letzten zwei überhaupt nicht, und doch sind es zehn Geschichten,
wovon also zwei ohne ihr Gebot bleiben, wenn wir recht gesehen haben.
Vielleicht erhöht es sür manchen Leser den Reiz der Unterhaltung, das nach¬
zurechnen. Ob es aber der Verfasser beabsichtigt hat, ihm solche Freude zu
bereiten? Da wo der kopfhängerische Pate aus dem Wupperthal den langen
Franz schilt, daß er seiner Mutter ein besondres Stübchen gemauert hat, damit
sie nicht mit seiner jungen Frau zanke, daß er sie nicht zu sich an den Tisch
nehme, wie es Christenleuten gezieme, sondern sie allein essen lasse, da fragt
er den jungen Ehemann und seine Frau: ob sie nicht in der Schule oder im
Konfirmandenunterricht, denn in der Schule würde ja nichts als neumodische
Gottlosigkeit gelehrt, ob sie da nicht das sünfte Gebot gelernt hätten? Mit
Verlaub. Herr Kanzelfriedrich, das hat der Pate nicht gesagt. Und früher
hätte einer, der über die zehn Gebote schreiben wollte, auch vorher nachge¬
schlagen, wenn er nicht mehr recht wußte, was drin stand, aber die Menschen
wußten es auch, denn es gehörte mit zur allgemeinen Bildung. Vielleicht hat
aber auch schon der Kanzelfriedrich nicht mehr recht gewußt, wo und wie, als
er die einzelnen Haken zum Anhängen suchte, denn mag sein Bauernkostüm
auch schön echt und alt sein, seine Seele neigt doch stark zur "Moderne," und
die vorhin erwähnte Tendenz drängt sich massiver vor, als es für die Stim¬
mung eines Kunstwerks gut ist.

Ebenso gut im Ausdruck und in manchen Beziehungen sehr ähnlich diesen
kleinen Erzählungen ist ein ausgeführter Roman aus dem Schweizer Leben
(deutscher Jura), höchst charakteristisch für Sitte, Denkweise und Äußerungsart:
Das neue Gewissen von Adolf Voegelin (Leipzig, H. Haessel). Verstanden
ist unter der Fassung des Titels die ganz praktische und ans das Diesseits


volkstümliche und landschaftliche Erzählungen

der rechtgläubige Schulmeister ins Unrecht gesetzt werden, daß gegen ihre buch¬
stäbliche Auffassung des Christentums ein Konflikt herbeigeführt wird, in dem
die Gegenseite, der Bauer mit seiner natürlichen Anschauung, Recht bekommt.
Die Tendenz ist ja nicht neu. und sie wird vielen zusagen. Wir wollen uus
wenigstens nicht durch sie stören lassen und uns an der guten Beobachtung
und der deutlichen Schilderung erfreuen, die von einer nicht gewöhnlichen Be¬
gabung zeugen. Eine einzige Erzählung, die letzte, ist abgeschmackt und ganz
unwahrscheinlich, alle andern behandeln Dinge, die vorkommen können, jeder
von uns hat ähnliches erlebt, einige sind ganz vortrefflich: Vom langen Franz.
Der Fiskusbauer, Der Mahlknecht. Weil es nun aber dem Kanzelsricdrich
gefallen hat, seine Weisheit an den zehn Geboten aufzuhängen, so müßte es
auch seinen Lesern möglich sein, sie stückweise von ihrem bestimmte!: Haken
herunterzunehmen, und gewiß giebt es kaum einen, der auf dieses Spiel des
Verstandes als Zugabe zu der Unterhaltung verzichtete und nicht den Versuch
machte, die einzelnen Gebote in den Erzählungen wiederzufinden. Die ersten
sechs Gebote und das achte wird er finden, das siebente kaum (Der Mahl¬
knecht?), die letzten zwei überhaupt nicht, und doch sind es zehn Geschichten,
wovon also zwei ohne ihr Gebot bleiben, wenn wir recht gesehen haben.
Vielleicht erhöht es sür manchen Leser den Reiz der Unterhaltung, das nach¬
zurechnen. Ob es aber der Verfasser beabsichtigt hat, ihm solche Freude zu
bereiten? Da wo der kopfhängerische Pate aus dem Wupperthal den langen
Franz schilt, daß er seiner Mutter ein besondres Stübchen gemauert hat, damit
sie nicht mit seiner jungen Frau zanke, daß er sie nicht zu sich an den Tisch
nehme, wie es Christenleuten gezieme, sondern sie allein essen lasse, da fragt
er den jungen Ehemann und seine Frau: ob sie nicht in der Schule oder im
Konfirmandenunterricht, denn in der Schule würde ja nichts als neumodische
Gottlosigkeit gelehrt, ob sie da nicht das sünfte Gebot gelernt hätten? Mit
Verlaub. Herr Kanzelfriedrich, das hat der Pate nicht gesagt. Und früher
hätte einer, der über die zehn Gebote schreiben wollte, auch vorher nachge¬
schlagen, wenn er nicht mehr recht wußte, was drin stand, aber die Menschen
wußten es auch, denn es gehörte mit zur allgemeinen Bildung. Vielleicht hat
aber auch schon der Kanzelfriedrich nicht mehr recht gewußt, wo und wie, als
er die einzelnen Haken zum Anhängen suchte, denn mag sein Bauernkostüm
auch schön echt und alt sein, seine Seele neigt doch stark zur „Moderne," und
die vorhin erwähnte Tendenz drängt sich massiver vor, als es für die Stim¬
mung eines Kunstwerks gut ist.

Ebenso gut im Ausdruck und in manchen Beziehungen sehr ähnlich diesen
kleinen Erzählungen ist ein ausgeführter Roman aus dem Schweizer Leben
(deutscher Jura), höchst charakteristisch für Sitte, Denkweise und Äußerungsart:
Das neue Gewissen von Adolf Voegelin (Leipzig, H. Haessel). Verstanden
ist unter der Fassung des Titels die ganz praktische und ans das Diesseits


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/220>, abgerufen am 24.07.2024.