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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Religionsunterricht

lichen und gewaltthätigen Vater hat, empfindet bei der Nennung dieses Namens
nicht Liebe, sondern Abscheu; der verständige Lehrer wird sich also nicht wundern,
wenn die Kinder auf seine Weckversuche verschieden und manche auf manchen
gar nicht reagiren. Alles das ist demnach Sache des allgemeinen Unterrichts;
wozu also noch eine besondre Religionsstunde, in der doch nur wiedergekäut
werden könnte, was im übrigen Unterricht schon oft vorgekommen ist, und wo
das unnatürliche Streben, gewisse Empfindungen halbe und ganze Stunden
lang wach zu erhalten, die Wirkung der gelegentlichen, daher kräftigen und
gesunden Erweckungen nur abschwächt oder wohl gar in Widerwillen gegen
die beabsichtigte Empfindung und Stimmung verwandelt?

Wo bleibt aber das eigentümlich Christliche? Nun, das braucht nicht zu
kurz zu kommen. Warum sollen die biblischen Personen getrennt von denen
der Profangeschichte behandelt werden? Warum soll von den alten Juden
nicht in demselben Zusammenhange die Rede sein wie von den alten Deutschen?
Warum soll im Lesebuche neben der Geschichte vom naschhaften Jakob, den
die gute kluge Anna durch die Vorstellung von der Gegenwart Gottes abhält,
böses zu thun, nicht auch die von Kam und Abel, warum neben dem Liede
eines deutschen Dichters nicht auch ein Psalm stehen? Und warum sollte der
Lehrer nicht auch manchmal in der Bibel lesen lassen und einige Anweisungen
für den Gebrauch dieses Buches geben? Warum sollen die biblischen Sprüche
und die Choräle von den profanen Sprichwörtern und Liedern getrennt ein¬
geprägt werden? Und warum sollen die Gewohnheiten des täglichen Gebets,
der Besuch des Gottesdienstes und das Verhalten dabei in besondern Stunden
gelehrt und eingeschärft werden, da sie doch zur christlichen Lebensordnung ge¬
hören und nicht anders zu behandeln sind wie das Waschen nach dem Aufstehen,
das Grüßen auf der Straße und die "Tischzucht," wie man es vor vierhundert
Jahren nannte?

Ein besondrer Religionsunterricht würde nur der Konfirmandenunterricht
sein. Dieser ist notwendig, weil der junge Mensch unterrichtet werden muß,
wie er sich als selbständiges Mitglied seiner kirchlichen Gemeinschaft zu ver¬
halten und welche Pflichten er gegen sie zu erfüllen hat. Dieser Unterricht
würde mit der klaren Erkenntnis erteilt werden, daß er nicht den Zweck hat,
Religion und Sittlichkeit zu lehren, was beides die Konfirmanden von Hause
und aus der Schule schon mitbringen, sondern daß er eben nur über die Teil¬
nahme an den Kultushandlungen, über den Gebrauch der Gnadenmittel, über
die Organisation der Gesamtkirche und der Gemeinde, sowie über die Rechte
und Pflichten der Gemeindemitglieder Aufschluß zu geben und darin zu unter¬
weisen hat. Natürlich kann es, wenn er von einem aufrichtig religiösen Manne
erteilt wird, nicht ausbleiben, daß die Schüler dabei auch religiös erwärmt
und in ihrem sittlichen Leben gefördert werden. Für die Oberklassen des
Gymnasiums endlich wäre ein Unterricht in der Religionswissenschaft ein-


Grmzbotcn III 1897 27
Religionsunterricht

lichen und gewaltthätigen Vater hat, empfindet bei der Nennung dieses Namens
nicht Liebe, sondern Abscheu; der verständige Lehrer wird sich also nicht wundern,
wenn die Kinder auf seine Weckversuche verschieden und manche auf manchen
gar nicht reagiren. Alles das ist demnach Sache des allgemeinen Unterrichts;
wozu also noch eine besondre Religionsstunde, in der doch nur wiedergekäut
werden könnte, was im übrigen Unterricht schon oft vorgekommen ist, und wo
das unnatürliche Streben, gewisse Empfindungen halbe und ganze Stunden
lang wach zu erhalten, die Wirkung der gelegentlichen, daher kräftigen und
gesunden Erweckungen nur abschwächt oder wohl gar in Widerwillen gegen
die beabsichtigte Empfindung und Stimmung verwandelt?

Wo bleibt aber das eigentümlich Christliche? Nun, das braucht nicht zu
kurz zu kommen. Warum sollen die biblischen Personen getrennt von denen
der Profangeschichte behandelt werden? Warum soll von den alten Juden
nicht in demselben Zusammenhange die Rede sein wie von den alten Deutschen?
Warum soll im Lesebuche neben der Geschichte vom naschhaften Jakob, den
die gute kluge Anna durch die Vorstellung von der Gegenwart Gottes abhält,
böses zu thun, nicht auch die von Kam und Abel, warum neben dem Liede
eines deutschen Dichters nicht auch ein Psalm stehen? Und warum sollte der
Lehrer nicht auch manchmal in der Bibel lesen lassen und einige Anweisungen
für den Gebrauch dieses Buches geben? Warum sollen die biblischen Sprüche
und die Choräle von den profanen Sprichwörtern und Liedern getrennt ein¬
geprägt werden? Und warum sollen die Gewohnheiten des täglichen Gebets,
der Besuch des Gottesdienstes und das Verhalten dabei in besondern Stunden
gelehrt und eingeschärft werden, da sie doch zur christlichen Lebensordnung ge¬
hören und nicht anders zu behandeln sind wie das Waschen nach dem Aufstehen,
das Grüßen auf der Straße und die „Tischzucht," wie man es vor vierhundert
Jahren nannte?

Ein besondrer Religionsunterricht würde nur der Konfirmandenunterricht
sein. Dieser ist notwendig, weil der junge Mensch unterrichtet werden muß,
wie er sich als selbständiges Mitglied seiner kirchlichen Gemeinschaft zu ver¬
halten und welche Pflichten er gegen sie zu erfüllen hat. Dieser Unterricht
würde mit der klaren Erkenntnis erteilt werden, daß er nicht den Zweck hat,
Religion und Sittlichkeit zu lehren, was beides die Konfirmanden von Hause
und aus der Schule schon mitbringen, sondern daß er eben nur über die Teil¬
nahme an den Kultushandlungen, über den Gebrauch der Gnadenmittel, über
die Organisation der Gesamtkirche und der Gemeinde, sowie über die Rechte
und Pflichten der Gemeindemitglieder Aufschluß zu geben und darin zu unter¬
weisen hat. Natürlich kann es, wenn er von einem aufrichtig religiösen Manne
erteilt wird, nicht ausbleiben, daß die Schüler dabei auch religiös erwärmt
und in ihrem sittlichen Leben gefördert werden. Für die Oberklassen des
Gymnasiums endlich wäre ein Unterricht in der Religionswissenschaft ein-


Grmzbotcn III 1897 27
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[0217] Religionsunterricht lichen und gewaltthätigen Vater hat, empfindet bei der Nennung dieses Namens nicht Liebe, sondern Abscheu; der verständige Lehrer wird sich also nicht wundern, wenn die Kinder auf seine Weckversuche verschieden und manche auf manchen gar nicht reagiren. Alles das ist demnach Sache des allgemeinen Unterrichts; wozu also noch eine besondre Religionsstunde, in der doch nur wiedergekäut werden könnte, was im übrigen Unterricht schon oft vorgekommen ist, und wo das unnatürliche Streben, gewisse Empfindungen halbe und ganze Stunden lang wach zu erhalten, die Wirkung der gelegentlichen, daher kräftigen und gesunden Erweckungen nur abschwächt oder wohl gar in Widerwillen gegen die beabsichtigte Empfindung und Stimmung verwandelt? Wo bleibt aber das eigentümlich Christliche? Nun, das braucht nicht zu kurz zu kommen. Warum sollen die biblischen Personen getrennt von denen der Profangeschichte behandelt werden? Warum soll von den alten Juden nicht in demselben Zusammenhange die Rede sein wie von den alten Deutschen? Warum soll im Lesebuche neben der Geschichte vom naschhaften Jakob, den die gute kluge Anna durch die Vorstellung von der Gegenwart Gottes abhält, böses zu thun, nicht auch die von Kam und Abel, warum neben dem Liede eines deutschen Dichters nicht auch ein Psalm stehen? Und warum sollte der Lehrer nicht auch manchmal in der Bibel lesen lassen und einige Anweisungen für den Gebrauch dieses Buches geben? Warum sollen die biblischen Sprüche und die Choräle von den profanen Sprichwörtern und Liedern getrennt ein¬ geprägt werden? Und warum sollen die Gewohnheiten des täglichen Gebets, der Besuch des Gottesdienstes und das Verhalten dabei in besondern Stunden gelehrt und eingeschärft werden, da sie doch zur christlichen Lebensordnung ge¬ hören und nicht anders zu behandeln sind wie das Waschen nach dem Aufstehen, das Grüßen auf der Straße und die „Tischzucht," wie man es vor vierhundert Jahren nannte? Ein besondrer Religionsunterricht würde nur der Konfirmandenunterricht sein. Dieser ist notwendig, weil der junge Mensch unterrichtet werden muß, wie er sich als selbständiges Mitglied seiner kirchlichen Gemeinschaft zu ver¬ halten und welche Pflichten er gegen sie zu erfüllen hat. Dieser Unterricht würde mit der klaren Erkenntnis erteilt werden, daß er nicht den Zweck hat, Religion und Sittlichkeit zu lehren, was beides die Konfirmanden von Hause und aus der Schule schon mitbringen, sondern daß er eben nur über die Teil¬ nahme an den Kultushandlungen, über den Gebrauch der Gnadenmittel, über die Organisation der Gesamtkirche und der Gemeinde, sowie über die Rechte und Pflichten der Gemeindemitglieder Aufschluß zu geben und darin zu unter¬ weisen hat. Natürlich kann es, wenn er von einem aufrichtig religiösen Manne erteilt wird, nicht ausbleiben, daß die Schüler dabei auch religiös erwärmt und in ihrem sittlichen Leben gefördert werden. Für die Oberklassen des Gymnasiums endlich wäre ein Unterricht in der Religionswissenschaft ein- Grmzbotcn III 1897 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/217>, abgerufen am 24.07.2024.