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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Religionsunterricht

nicht erhöht worden wäre -- sie könnte sogar dadurch, daß ihnen der Zugang
zum Wissen allzu leicht gemacht worden ist, vermindert worden sein --, so
wäre es doch nicht gleichartig, wie jeder seine Jugend zugebracht hat. Es
ist unverständig, bei Kindern ausschließlich an ihre Zukunft zu denken. Freilich
enthält die Gegenwart der meisten Kinder mehr Zukunft als die der Er¬
wachsenen, aber dem ungeachtet hat das Kind so gut ein Recht auf seine
Gegenwart wie der Erwachsene. Weiß man doch gar nicht, ob ihm eine
irdische Zukunft beschieden ist; stirbt es mit vierzehn Jahren, und enthielt seine
Schulzeit mehr Qual als Freude, so ist ihm die größere und wichtigere Hälfte
seiner Lebenszeit verdorben worden. Die Möglichkeit dieses Unglücks haben
nun die Fortschritte der Pädagogik ganz bedeutend vermindert, und nachdem
für den Schulunterricht im allgemeinen so viel erreicht worden ist, darf man
wohl die Hoffnung nicht aufgeben, daß auch der Religionsunterricht noch
einmal gründlich reformirt werden wird. Sind doch manche der von mir hervor¬
gehobnen Übelstände auch schon von den Behörden anerkannt worden, z. B.
wie mißlich es ist, kleine Kinder eine ganze Stunde mit Religion beschäftigen
zu sollen; vor längerer Zeit hat schon der preußische Kultusminister ange¬
ordnet, es solle, damit der Unterricht an jedem Wochentage mit Religion be¬
ginnen könne, wenigstens eine halbe Stunde Religion angesetzt werden, wenn
eine ganze nicht zur Verfügung stehe, und es wurde dabei bemerkt, daß sich
solche Halbstunden auch aus andern Gründen empfohlen, womit doch wohl die von
mir angeführten gemeint sind. Gestatten wir uns also eine Zukunftsphantasie

Wir nehmen an, daß es die Kulturvölker mit der Zeit wieder zu einer
einigermaßen einheitlichen Weltanschauung bringen werden, daß ein christlich
gefärbter Theismus allgemein herrschen wird, und daß einander nicht mehr
Gläubige und Ungläubige in tötlicher Feindschaft gegenüberstehen werden, wenn
es auch an Meinungsverschiedenheiten nicht fehlen wird. Wir nehmen ferner
an, daß es zwar noch Kirchen und Sekten, aber keinen Konfessionshaß mehr
geben wird; daß die Kirchen einander die historische und geographische Be¬
rechtigung zugestehen werden, daß daher ein simultaner Unterricht nicht allein
in der alten, sondern auch in der mittlern und neuern Geschichte möglich ist,
der weder Katholiken noch Protestanten verletzt und doch auch nicht die un¬
würdige Form eines diplomatischen Eiertanzes annimmt. Wir setzen ferner
voraus, daß auf den untern Stufen nicht von verschiednen Fachlehrern
"Wissenschaften" gelehrt werden, sondern daß da der Unterricht, wie es die
Pädagogische Rücksicht auf die Natur des Kindes fordert, von einem einzigen
Klassenlehrer erteilt wird, der jeden Lehrstoff nicht nach Fächern zerrissen und
abstrakt, sondern als ein lebendiges Ganze übermittelt, also z. B. nicht die
Nüsse, Berge und Grenzen eines Landes in der Geographie, seine Mineralien
in der Mineralogie, seine Pflanzen und Tiere in der Botanik und Zoologie
und seine Menschen in der Geschichte beschreibt, sondern das Land mit allem
was darin ist, wie es leibt und lebt und in der Vergangenheit gelebt hat; wo


Religionsunterricht

nicht erhöht worden wäre — sie könnte sogar dadurch, daß ihnen der Zugang
zum Wissen allzu leicht gemacht worden ist, vermindert worden sein —, so
wäre es doch nicht gleichartig, wie jeder seine Jugend zugebracht hat. Es
ist unverständig, bei Kindern ausschließlich an ihre Zukunft zu denken. Freilich
enthält die Gegenwart der meisten Kinder mehr Zukunft als die der Er¬
wachsenen, aber dem ungeachtet hat das Kind so gut ein Recht auf seine
Gegenwart wie der Erwachsene. Weiß man doch gar nicht, ob ihm eine
irdische Zukunft beschieden ist; stirbt es mit vierzehn Jahren, und enthielt seine
Schulzeit mehr Qual als Freude, so ist ihm die größere und wichtigere Hälfte
seiner Lebenszeit verdorben worden. Die Möglichkeit dieses Unglücks haben
nun die Fortschritte der Pädagogik ganz bedeutend vermindert, und nachdem
für den Schulunterricht im allgemeinen so viel erreicht worden ist, darf man
wohl die Hoffnung nicht aufgeben, daß auch der Religionsunterricht noch
einmal gründlich reformirt werden wird. Sind doch manche der von mir hervor¬
gehobnen Übelstände auch schon von den Behörden anerkannt worden, z. B.
wie mißlich es ist, kleine Kinder eine ganze Stunde mit Religion beschäftigen
zu sollen; vor längerer Zeit hat schon der preußische Kultusminister ange¬
ordnet, es solle, damit der Unterricht an jedem Wochentage mit Religion be¬
ginnen könne, wenigstens eine halbe Stunde Religion angesetzt werden, wenn
eine ganze nicht zur Verfügung stehe, und es wurde dabei bemerkt, daß sich
solche Halbstunden auch aus andern Gründen empfohlen, womit doch wohl die von
mir angeführten gemeint sind. Gestatten wir uns also eine Zukunftsphantasie

Wir nehmen an, daß es die Kulturvölker mit der Zeit wieder zu einer
einigermaßen einheitlichen Weltanschauung bringen werden, daß ein christlich
gefärbter Theismus allgemein herrschen wird, und daß einander nicht mehr
Gläubige und Ungläubige in tötlicher Feindschaft gegenüberstehen werden, wenn
es auch an Meinungsverschiedenheiten nicht fehlen wird. Wir nehmen ferner
an, daß es zwar noch Kirchen und Sekten, aber keinen Konfessionshaß mehr
geben wird; daß die Kirchen einander die historische und geographische Be¬
rechtigung zugestehen werden, daß daher ein simultaner Unterricht nicht allein
in der alten, sondern auch in der mittlern und neuern Geschichte möglich ist,
der weder Katholiken noch Protestanten verletzt und doch auch nicht die un¬
würdige Form eines diplomatischen Eiertanzes annimmt. Wir setzen ferner
voraus, daß auf den untern Stufen nicht von verschiednen Fachlehrern
"Wissenschaften" gelehrt werden, sondern daß da der Unterricht, wie es die
Pädagogische Rücksicht auf die Natur des Kindes fordert, von einem einzigen
Klassenlehrer erteilt wird, der jeden Lehrstoff nicht nach Fächern zerrissen und
abstrakt, sondern als ein lebendiges Ganze übermittelt, also z. B. nicht die
Nüsse, Berge und Grenzen eines Landes in der Geographie, seine Mineralien
in der Mineralogie, seine Pflanzen und Tiere in der Botanik und Zoologie
und seine Menschen in der Geschichte beschreibt, sondern das Land mit allem
was darin ist, wie es leibt und lebt und in der Vergangenheit gelebt hat; wo


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[0215] Religionsunterricht nicht erhöht worden wäre — sie könnte sogar dadurch, daß ihnen der Zugang zum Wissen allzu leicht gemacht worden ist, vermindert worden sein —, so wäre es doch nicht gleichartig, wie jeder seine Jugend zugebracht hat. Es ist unverständig, bei Kindern ausschließlich an ihre Zukunft zu denken. Freilich enthält die Gegenwart der meisten Kinder mehr Zukunft als die der Er¬ wachsenen, aber dem ungeachtet hat das Kind so gut ein Recht auf seine Gegenwart wie der Erwachsene. Weiß man doch gar nicht, ob ihm eine irdische Zukunft beschieden ist; stirbt es mit vierzehn Jahren, und enthielt seine Schulzeit mehr Qual als Freude, so ist ihm die größere und wichtigere Hälfte seiner Lebenszeit verdorben worden. Die Möglichkeit dieses Unglücks haben nun die Fortschritte der Pädagogik ganz bedeutend vermindert, und nachdem für den Schulunterricht im allgemeinen so viel erreicht worden ist, darf man wohl die Hoffnung nicht aufgeben, daß auch der Religionsunterricht noch einmal gründlich reformirt werden wird. Sind doch manche der von mir hervor¬ gehobnen Übelstände auch schon von den Behörden anerkannt worden, z. B. wie mißlich es ist, kleine Kinder eine ganze Stunde mit Religion beschäftigen zu sollen; vor längerer Zeit hat schon der preußische Kultusminister ange¬ ordnet, es solle, damit der Unterricht an jedem Wochentage mit Religion be¬ ginnen könne, wenigstens eine halbe Stunde Religion angesetzt werden, wenn eine ganze nicht zur Verfügung stehe, und es wurde dabei bemerkt, daß sich solche Halbstunden auch aus andern Gründen empfohlen, womit doch wohl die von mir angeführten gemeint sind. Gestatten wir uns also eine Zukunftsphantasie Wir nehmen an, daß es die Kulturvölker mit der Zeit wieder zu einer einigermaßen einheitlichen Weltanschauung bringen werden, daß ein christlich gefärbter Theismus allgemein herrschen wird, und daß einander nicht mehr Gläubige und Ungläubige in tötlicher Feindschaft gegenüberstehen werden, wenn es auch an Meinungsverschiedenheiten nicht fehlen wird. Wir nehmen ferner an, daß es zwar noch Kirchen und Sekten, aber keinen Konfessionshaß mehr geben wird; daß die Kirchen einander die historische und geographische Be¬ rechtigung zugestehen werden, daß daher ein simultaner Unterricht nicht allein in der alten, sondern auch in der mittlern und neuern Geschichte möglich ist, der weder Katholiken noch Protestanten verletzt und doch auch nicht die un¬ würdige Form eines diplomatischen Eiertanzes annimmt. Wir setzen ferner voraus, daß auf den untern Stufen nicht von verschiednen Fachlehrern "Wissenschaften" gelehrt werden, sondern daß da der Unterricht, wie es die Pädagogische Rücksicht auf die Natur des Kindes fordert, von einem einzigen Klassenlehrer erteilt wird, der jeden Lehrstoff nicht nach Fächern zerrissen und abstrakt, sondern als ein lebendiges Ganze übermittelt, also z. B. nicht die Nüsse, Berge und Grenzen eines Landes in der Geographie, seine Mineralien in der Mineralogie, seine Pflanzen und Tiere in der Botanik und Zoologie und seine Menschen in der Geschichte beschreibt, sondern das Land mit allem was darin ist, wie es leibt und lebt und in der Vergangenheit gelebt hat; wo

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/215>, abgerufen am 24.07.2024.