Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Religionsunterricht

lichkeit: Liebe zur Kirche, Ehrfurcht vor der Kirche, wenn auch allerdings der
Eingang wirklich religiöser Empfindungen in sein Herz, sofern der Unterricht
solche zu erwecken geeignet ist, durch die Zuneigung zu dem, der ihn erteilt,
sehr erleichtert wird.

Sollte mir nun jemand entgegenhalten, daß ich ein hyperkritischer Narr
sei, der sich durch Grübelei eine nützliche Thätigkeit verleidet habe, so würde
ich ihm einfach Recht geben. Ich erkenne ohne weiteres an, daß der Religions¬
unterricht, so unvollkommen er sein mag, manches gute stiftet, und bestünde
auch seine ganze Wirkung bloß darin, daß sich der eine oder der andre Schüler
einen Bibelspruch gemerkt hat, der als Samenkorn in ihm schlummert und,
nach vielen Jahren vielleicht, durch eine Seelenerschütterung zum Leben erweckt,
dem Verständnis aufgeht und Frucht trägt, so wäre er nicht ganz vergebens
gewesen; ist es doch im Geistesleben wie im Naturleben: soll wenigstens an
einigen Stellen Leben einer gewissen Art sprießen, so müssen Milliarden Samen
verschwendet werden. Ich erkenne ferner an, daß der Religionsunterricht not¬
wendig ist; denn ich halte das Christentum für notwendig, und soll dieses
nicht absterben und gleich den alten Philosophenlehren vom Volke vergessen
werden, so muß jedes heranwachsende Geschlecht damit bekannt gemacht werden.
Es ist also ein Glück, daß die meisten Geistlichen keine Grübler sind, und daß
ihnen die Widersprüche und Vernunstwidrigkeiten dessen, was sie thun, gar
nicht zum Bewußtsein kommen. Wenn aber einer nun einmal so geartet ist,
daß er diese Widersprüche klar erkennt und lebhaft empfindet, so soll man es
ihm nicht verübeln, daß er sie unerträglich findet und sich ihnen entzieht. Und
die scharfe Kritik, die von solchen Grüblern geübt wird, ist doch auch nicht
ganz nutzlos, da sie zum Fortschritt, zu Verbesserungen spornt. Denken wir
nur an die Fortschritte der Pädagogik im allgemeinen! Noch vor anderthalb¬
hundert Jahren war die Unterrichtsmethode so unvollkommen, daß die Kinder
Grund hatten, die Schule als eine Marterkammer zu fürchten und zu hassen.
Die begeisterten Schulreformatoren des vorigen Jahrhunderts sind natürlich
von den Anhängern des Alten teils verspottet, teils als gefährliche Neuerer
verfolgt worden, und mancher von ihnen hat mit seinen praktischen Versuchen
Schiffbruch gelitten; aber das Endergebnis ist doch unsre heutige weit bessere
Lehrmethode, die den Kindern das Lernen nicht bloß leicht, sondern vielfach
sogar zu einer Lust macht und fast überall da, wo nicht überfüllte Klassen,
Mehrsprachigkeit oder andre äußere Umstände den Unterricht erschweren, die
körperlichen Züchtigungen auf ein erträgliches Maß zurückgeführt hat. Gerade
die Unterrichtsstunden der ersten Jahre bereiten heute den Kindern vielfach
wahren Genuß, und für manches arme Kind aus zerrütteten Familien sind
die Schulstunden die einzigen glücklichen Stunden seines Lebens. Das ist doch
kein kleiner Erfolg und gewiß nicht gleichgiltig; am allerwenigsten dem ein¬
zelnen Schüler, und der ist doch die Hauptperson. Selbst wenn die Tüchtig¬
keit unsrer heutigen Männer und Frauen durch den bessern Schulunterricht


Religionsunterricht

lichkeit: Liebe zur Kirche, Ehrfurcht vor der Kirche, wenn auch allerdings der
Eingang wirklich religiöser Empfindungen in sein Herz, sofern der Unterricht
solche zu erwecken geeignet ist, durch die Zuneigung zu dem, der ihn erteilt,
sehr erleichtert wird.

Sollte mir nun jemand entgegenhalten, daß ich ein hyperkritischer Narr
sei, der sich durch Grübelei eine nützliche Thätigkeit verleidet habe, so würde
ich ihm einfach Recht geben. Ich erkenne ohne weiteres an, daß der Religions¬
unterricht, so unvollkommen er sein mag, manches gute stiftet, und bestünde
auch seine ganze Wirkung bloß darin, daß sich der eine oder der andre Schüler
einen Bibelspruch gemerkt hat, der als Samenkorn in ihm schlummert und,
nach vielen Jahren vielleicht, durch eine Seelenerschütterung zum Leben erweckt,
dem Verständnis aufgeht und Frucht trägt, so wäre er nicht ganz vergebens
gewesen; ist es doch im Geistesleben wie im Naturleben: soll wenigstens an
einigen Stellen Leben einer gewissen Art sprießen, so müssen Milliarden Samen
verschwendet werden. Ich erkenne ferner an, daß der Religionsunterricht not¬
wendig ist; denn ich halte das Christentum für notwendig, und soll dieses
nicht absterben und gleich den alten Philosophenlehren vom Volke vergessen
werden, so muß jedes heranwachsende Geschlecht damit bekannt gemacht werden.
Es ist also ein Glück, daß die meisten Geistlichen keine Grübler sind, und daß
ihnen die Widersprüche und Vernunstwidrigkeiten dessen, was sie thun, gar
nicht zum Bewußtsein kommen. Wenn aber einer nun einmal so geartet ist,
daß er diese Widersprüche klar erkennt und lebhaft empfindet, so soll man es
ihm nicht verübeln, daß er sie unerträglich findet und sich ihnen entzieht. Und
die scharfe Kritik, die von solchen Grüblern geübt wird, ist doch auch nicht
ganz nutzlos, da sie zum Fortschritt, zu Verbesserungen spornt. Denken wir
nur an die Fortschritte der Pädagogik im allgemeinen! Noch vor anderthalb¬
hundert Jahren war die Unterrichtsmethode so unvollkommen, daß die Kinder
Grund hatten, die Schule als eine Marterkammer zu fürchten und zu hassen.
Die begeisterten Schulreformatoren des vorigen Jahrhunderts sind natürlich
von den Anhängern des Alten teils verspottet, teils als gefährliche Neuerer
verfolgt worden, und mancher von ihnen hat mit seinen praktischen Versuchen
Schiffbruch gelitten; aber das Endergebnis ist doch unsre heutige weit bessere
Lehrmethode, die den Kindern das Lernen nicht bloß leicht, sondern vielfach
sogar zu einer Lust macht und fast überall da, wo nicht überfüllte Klassen,
Mehrsprachigkeit oder andre äußere Umstände den Unterricht erschweren, die
körperlichen Züchtigungen auf ein erträgliches Maß zurückgeführt hat. Gerade
die Unterrichtsstunden der ersten Jahre bereiten heute den Kindern vielfach
wahren Genuß, und für manches arme Kind aus zerrütteten Familien sind
die Schulstunden die einzigen glücklichen Stunden seines Lebens. Das ist doch
kein kleiner Erfolg und gewiß nicht gleichgiltig; am allerwenigsten dem ein¬
zelnen Schüler, und der ist doch die Hauptperson. Selbst wenn die Tüchtig¬
keit unsrer heutigen Männer und Frauen durch den bessern Schulunterricht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0214" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225800"/>
          <fw type="header" place="top"> Religionsunterricht</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_519" prev="#ID_518"> lichkeit: Liebe zur Kirche, Ehrfurcht vor der Kirche, wenn auch allerdings der<lb/>
Eingang wirklich religiöser Empfindungen in sein Herz, sofern der Unterricht<lb/>
solche zu erwecken geeignet ist, durch die Zuneigung zu dem, der ihn erteilt,<lb/>
sehr erleichtert wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_520" next="#ID_521"> Sollte mir nun jemand entgegenhalten, daß ich ein hyperkritischer Narr<lb/>
sei, der sich durch Grübelei eine nützliche Thätigkeit verleidet habe, so würde<lb/>
ich ihm einfach Recht geben. Ich erkenne ohne weiteres an, daß der Religions¬<lb/>
unterricht, so unvollkommen er sein mag, manches gute stiftet, und bestünde<lb/>
auch seine ganze Wirkung bloß darin, daß sich der eine oder der andre Schüler<lb/>
einen Bibelspruch gemerkt hat, der als Samenkorn in ihm schlummert und,<lb/>
nach vielen Jahren vielleicht, durch eine Seelenerschütterung zum Leben erweckt,<lb/>
dem Verständnis aufgeht und Frucht trägt, so wäre er nicht ganz vergebens<lb/>
gewesen; ist es doch im Geistesleben wie im Naturleben: soll wenigstens an<lb/>
einigen Stellen Leben einer gewissen Art sprießen, so müssen Milliarden Samen<lb/>
verschwendet werden. Ich erkenne ferner an, daß der Religionsunterricht not¬<lb/>
wendig ist; denn ich halte das Christentum für notwendig, und soll dieses<lb/>
nicht absterben und gleich den alten Philosophenlehren vom Volke vergessen<lb/>
werden, so muß jedes heranwachsende Geschlecht damit bekannt gemacht werden.<lb/>
Es ist also ein Glück, daß die meisten Geistlichen keine Grübler sind, und daß<lb/>
ihnen die Widersprüche und Vernunstwidrigkeiten dessen, was sie thun, gar<lb/>
nicht zum Bewußtsein kommen. Wenn aber einer nun einmal so geartet ist,<lb/>
daß er diese Widersprüche klar erkennt und lebhaft empfindet, so soll man es<lb/>
ihm nicht verübeln, daß er sie unerträglich findet und sich ihnen entzieht. Und<lb/>
die scharfe Kritik, die von solchen Grüblern geübt wird, ist doch auch nicht<lb/>
ganz nutzlos, da sie zum Fortschritt, zu Verbesserungen spornt. Denken wir<lb/>
nur an die Fortschritte der Pädagogik im allgemeinen! Noch vor anderthalb¬<lb/>
hundert Jahren war die Unterrichtsmethode so unvollkommen, daß die Kinder<lb/>
Grund hatten, die Schule als eine Marterkammer zu fürchten und zu hassen.<lb/>
Die begeisterten Schulreformatoren des vorigen Jahrhunderts sind natürlich<lb/>
von den Anhängern des Alten teils verspottet, teils als gefährliche Neuerer<lb/>
verfolgt worden, und mancher von ihnen hat mit seinen praktischen Versuchen<lb/>
Schiffbruch gelitten; aber das Endergebnis ist doch unsre heutige weit bessere<lb/>
Lehrmethode, die den Kindern das Lernen nicht bloß leicht, sondern vielfach<lb/>
sogar zu einer Lust macht und fast überall da, wo nicht überfüllte Klassen,<lb/>
Mehrsprachigkeit oder andre äußere Umstände den Unterricht erschweren, die<lb/>
körperlichen Züchtigungen auf ein erträgliches Maß zurückgeführt hat. Gerade<lb/>
die Unterrichtsstunden der ersten Jahre bereiten heute den Kindern vielfach<lb/>
wahren Genuß, und für manches arme Kind aus zerrütteten Familien sind<lb/>
die Schulstunden die einzigen glücklichen Stunden seines Lebens. Das ist doch<lb/>
kein kleiner Erfolg und gewiß nicht gleichgiltig; am allerwenigsten dem ein¬<lb/>
zelnen Schüler, und der ist doch die Hauptperson. Selbst wenn die Tüchtig¬<lb/>
keit unsrer heutigen Männer und Frauen durch den bessern Schulunterricht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0214] Religionsunterricht lichkeit: Liebe zur Kirche, Ehrfurcht vor der Kirche, wenn auch allerdings der Eingang wirklich religiöser Empfindungen in sein Herz, sofern der Unterricht solche zu erwecken geeignet ist, durch die Zuneigung zu dem, der ihn erteilt, sehr erleichtert wird. Sollte mir nun jemand entgegenhalten, daß ich ein hyperkritischer Narr sei, der sich durch Grübelei eine nützliche Thätigkeit verleidet habe, so würde ich ihm einfach Recht geben. Ich erkenne ohne weiteres an, daß der Religions¬ unterricht, so unvollkommen er sein mag, manches gute stiftet, und bestünde auch seine ganze Wirkung bloß darin, daß sich der eine oder der andre Schüler einen Bibelspruch gemerkt hat, der als Samenkorn in ihm schlummert und, nach vielen Jahren vielleicht, durch eine Seelenerschütterung zum Leben erweckt, dem Verständnis aufgeht und Frucht trägt, so wäre er nicht ganz vergebens gewesen; ist es doch im Geistesleben wie im Naturleben: soll wenigstens an einigen Stellen Leben einer gewissen Art sprießen, so müssen Milliarden Samen verschwendet werden. Ich erkenne ferner an, daß der Religionsunterricht not¬ wendig ist; denn ich halte das Christentum für notwendig, und soll dieses nicht absterben und gleich den alten Philosophenlehren vom Volke vergessen werden, so muß jedes heranwachsende Geschlecht damit bekannt gemacht werden. Es ist also ein Glück, daß die meisten Geistlichen keine Grübler sind, und daß ihnen die Widersprüche und Vernunstwidrigkeiten dessen, was sie thun, gar nicht zum Bewußtsein kommen. Wenn aber einer nun einmal so geartet ist, daß er diese Widersprüche klar erkennt und lebhaft empfindet, so soll man es ihm nicht verübeln, daß er sie unerträglich findet und sich ihnen entzieht. Und die scharfe Kritik, die von solchen Grüblern geübt wird, ist doch auch nicht ganz nutzlos, da sie zum Fortschritt, zu Verbesserungen spornt. Denken wir nur an die Fortschritte der Pädagogik im allgemeinen! Noch vor anderthalb¬ hundert Jahren war die Unterrichtsmethode so unvollkommen, daß die Kinder Grund hatten, die Schule als eine Marterkammer zu fürchten und zu hassen. Die begeisterten Schulreformatoren des vorigen Jahrhunderts sind natürlich von den Anhängern des Alten teils verspottet, teils als gefährliche Neuerer verfolgt worden, und mancher von ihnen hat mit seinen praktischen Versuchen Schiffbruch gelitten; aber das Endergebnis ist doch unsre heutige weit bessere Lehrmethode, die den Kindern das Lernen nicht bloß leicht, sondern vielfach sogar zu einer Lust macht und fast überall da, wo nicht überfüllte Klassen, Mehrsprachigkeit oder andre äußere Umstände den Unterricht erschweren, die körperlichen Züchtigungen auf ein erträgliches Maß zurückgeführt hat. Gerade die Unterrichtsstunden der ersten Jahre bereiten heute den Kindern vielfach wahren Genuß, und für manches arme Kind aus zerrütteten Familien sind die Schulstunden die einzigen glücklichen Stunden seines Lebens. Das ist doch kein kleiner Erfolg und gewiß nicht gleichgiltig; am allerwenigsten dem ein¬ zelnen Schüler, und der ist doch die Hauptperson. Selbst wenn die Tüchtig¬ keit unsrer heutigen Männer und Frauen durch den bessern Schulunterricht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/214
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/214>, abgerufen am 24.07.2024.