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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Ästhetisches

greifen wäre. Aber hat die Erfindung der Modernen denn genügt, oder ist
sie überhaupt eine Erfindung? "Fröhlicher Raubbau auf kultivirten Stoff¬
gebieten" lesen wir einmal; wir unterschreiben das mit allem, was daraus
folgt, und was bei Knille nach einzelnen Stoffgruppen ausgeführt wird. Die
Satyrn und Nymphen von Rubens bis Boucher, die biblischen Gestalten von
Adam und Eva bis zum Ende der Passion in italienischer oder nordischer
Künstlerredaktion, das ist die "Erfindung" der Modernen, und was gut heraus¬
gekommen ist, Pflegt eine Reminiszenz an etwas schon besser dagewesenes zu
sein. Dazu, meint Knille mit vollem Recht, brauchte man sich doch nicht auf¬
zulehnen und abzutrennen, denn unterdrückt war doch keiner. Er erinnert uns
sehr gut daran, daß, wenn früher Künstler in ähnlicher Lage gewesen und sich
nicht hinlänglich hochgeschätzt vorgekommen wären, sie dagegen ein Mittel ge¬
habt hätten, nämlich Stillschweigen und Bessermachen. "Menzel und Böcklin
schrieen nicht Verfolgung, sondern nährten still ihre Überzeugungen, besserer
Tage harrend." Liegt nun aber der Modernen Verdienst, wenn es nicht in
der Erfindung gefunden werden kann, in ihrer Art, zu sehen und wiederzugeben?
Kein Künstlerauge sieht absolut richtig, die Unterschiede des Formen- und
Farbensehcns zwischen den Modernen und den Fortsetzern der Tradition sind
aber oft so außerordentlich, daß der Gegensatz viel tiefer liegen muß. Der
Verfasser kommt dadurch zu einem Dilemma, das ungefähr lautet: Ent¬
weder sind die verrückt, oder wir! Er zeigt, wie die Modernen anders sehen
als alle frühern Künstlergenerationen, anders in Formen, anders in Farben,
und doch habe sich die Natur inzwischen nicht geändert, also hätten es die
Künstler gethan, die nun der Natur Gewalt cmthüten. Seine Zuflucht und
Bundesgenossin ist also die Historie, er halt sie für stärker als die Willkür
einer von wenigen vertretnen Richtung und läßt nun das Publikum einen
Einblick thun in das, was beide "können," die Alten und die Neuern auf der
einen, die Modernen auf der andern Seite. Darnach mag das Publikum
wühlen. Hier treffen wir auf ausgezeichnete und überraschend einfache Be¬
obachtungen, z. B. über den mangelhaften Naumsinn der Modernen, ihr Ver¬
schwenden von unbenützter Fläche, im Gegensatz zu dem Bemühen der großen
Meister, die "Zoll um Zoll dem gegebnen Raume abgewannen, damit in ihm
die lebendige Gestalt triumphire." Nun, wir meinen, ein gebildeter Leser wird
nicht zweifeln, auf welche Seite er zu treten habe. Denn soviel ist klar: ver¬
einzelte Ausnahmen vorbehalten, die "Moderne" der Malerei und die der
Litteratur sind einander wert. An der einen fällt das Nichtkönnen, an der
andern das Nichtwissen zunächst mehr auf, aber an beiden, haben beide teil,
Stümper und Ignoranten sind die "Modernen" fast alle. Wir möchten noch
auf einige Stellen hinweisen, an denen Knille Gebhardts und Abtes gedenkt,
weil sie gar nicht in jene Gesellschaft gehören, und auf eine sehr gut
empfundne Charakteristik Böcklins, mit dem sich die Modernen gern zu decken


Ästhetisches

greifen wäre. Aber hat die Erfindung der Modernen denn genügt, oder ist
sie überhaupt eine Erfindung? „Fröhlicher Raubbau auf kultivirten Stoff¬
gebieten" lesen wir einmal; wir unterschreiben das mit allem, was daraus
folgt, und was bei Knille nach einzelnen Stoffgruppen ausgeführt wird. Die
Satyrn und Nymphen von Rubens bis Boucher, die biblischen Gestalten von
Adam und Eva bis zum Ende der Passion in italienischer oder nordischer
Künstlerredaktion, das ist die „Erfindung" der Modernen, und was gut heraus¬
gekommen ist, Pflegt eine Reminiszenz an etwas schon besser dagewesenes zu
sein. Dazu, meint Knille mit vollem Recht, brauchte man sich doch nicht auf¬
zulehnen und abzutrennen, denn unterdrückt war doch keiner. Er erinnert uns
sehr gut daran, daß, wenn früher Künstler in ähnlicher Lage gewesen und sich
nicht hinlänglich hochgeschätzt vorgekommen wären, sie dagegen ein Mittel ge¬
habt hätten, nämlich Stillschweigen und Bessermachen. „Menzel und Böcklin
schrieen nicht Verfolgung, sondern nährten still ihre Überzeugungen, besserer
Tage harrend." Liegt nun aber der Modernen Verdienst, wenn es nicht in
der Erfindung gefunden werden kann, in ihrer Art, zu sehen und wiederzugeben?
Kein Künstlerauge sieht absolut richtig, die Unterschiede des Formen- und
Farbensehcns zwischen den Modernen und den Fortsetzern der Tradition sind
aber oft so außerordentlich, daß der Gegensatz viel tiefer liegen muß. Der
Verfasser kommt dadurch zu einem Dilemma, das ungefähr lautet: Ent¬
weder sind die verrückt, oder wir! Er zeigt, wie die Modernen anders sehen
als alle frühern Künstlergenerationen, anders in Formen, anders in Farben,
und doch habe sich die Natur inzwischen nicht geändert, also hätten es die
Künstler gethan, die nun der Natur Gewalt cmthüten. Seine Zuflucht und
Bundesgenossin ist also die Historie, er halt sie für stärker als die Willkür
einer von wenigen vertretnen Richtung und läßt nun das Publikum einen
Einblick thun in das, was beide „können," die Alten und die Neuern auf der
einen, die Modernen auf der andern Seite. Darnach mag das Publikum
wühlen. Hier treffen wir auf ausgezeichnete und überraschend einfache Be¬
obachtungen, z. B. über den mangelhaften Naumsinn der Modernen, ihr Ver¬
schwenden von unbenützter Fläche, im Gegensatz zu dem Bemühen der großen
Meister, die „Zoll um Zoll dem gegebnen Raume abgewannen, damit in ihm
die lebendige Gestalt triumphire." Nun, wir meinen, ein gebildeter Leser wird
nicht zweifeln, auf welche Seite er zu treten habe. Denn soviel ist klar: ver¬
einzelte Ausnahmen vorbehalten, die „Moderne" der Malerei und die der
Litteratur sind einander wert. An der einen fällt das Nichtkönnen, an der
andern das Nichtwissen zunächst mehr auf, aber an beiden, haben beide teil,
Stümper und Ignoranten sind die „Modernen" fast alle. Wir möchten noch
auf einige Stellen hinweisen, an denen Knille Gebhardts und Abtes gedenkt,
weil sie gar nicht in jene Gesellschaft gehören, und auf eine sehr gut
empfundne Charakteristik Böcklins, mit dem sich die Modernen gern zu decken


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/190>, abgerufen am 24.07.2024.