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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Ästhetisches

Büchern, und was Wischers berühmte Ästhetik betrifft, so wurde sie schon vor
dreißig und vierzig Jahren, als sie eben fertig geworden war, vielleicht noch
von den Alten und außerdem jedenfalls nur noch von den Professoren der
Philosophie gelesen. Die Jüngern und die, die sich in ernsthafter Absicht mit
der bildenden Kunst beschäftigten, wollten nichts davon wissen: sie war eine
Sache, und das, was sie trieben, war eine andre. So ist es im wesent¬
lichen auch heute. Wir haben uns zwar gewöhnt, gewisse Seiten der Kunst¬
betrachtung als ästhetisch zu bezeichnen, aber mit der philosophischen Ästhetik
hat dennoch der eigentliche Kunstforscher ebenso wenig zu thun, wie der Kunst-
freund als solcher von ihr zu erwarten hat. Lehrt sie ihn etwas über Kunst,
nützt sie ihm zum Verständnis bestimmter einzelner Kunstwerke, so thut sie es
nicht als philosophische Disziplin, sondern vermöge der besondern Art und
Bildung ihres Verfassers. In Wischers Ästhetik sind für den Kunstfreund
solche Stellen am meisten wert, die für die philosophische Lehre am wenigsten
in Betracht kommen, und zum Verständnis der Kunst haben z. B. Jakob
Burckhardt und Schnaase mehr beigetragen, als alle philosophischen Ästhetiker
zusammen.

Diese Bemerkungen scheinen sich uns auch an einem kleinen Buche zu be¬
währen, das aus dem Nachlasse eines jungen akademischen Lehrers von dessen
Freunden herausgegeben worden ist: Vorlesungen über Ästhetik von
K. Heinrich von Stein, nach vorhandnen Aufzeichnungen bearbeitet (Stutt¬
gart, Cotta). Es ist zunächst ganz ausgezeichnet geschrieben: richtig im Aus¬
druck, klar, anschaulich und anziehend. Der Verfasser war ein Verehrer
Schopenhauers, und der war bekanntlich ebenfalls ein Künstler der Sprache.
Stein schwärmt ferner unbedingt für Richard Wagner; was davon in die
Gesamtauffassung übergegangen ist, muß der Leser, dem etwa dieser Stand¬
punkt nicht zusagt, abzutrennen suchen. Der systematische Teil des Buches,
das Philosophische, macht nur reichlich ein Viertel des Ganzen aus. Er ist
gemeinverständlich und anregend, die Formulirung ist persönlich, nicht allgemein-
giltig, Vieles zufällig und zu andrer Auffassung oder Einkleidung auffordernd.
Der wertvollere, jedenfalls der für den Kunstfreund wichtigere Teil sind Be¬
merkungen über die Kunstanffassnng bei den verschiednen modernen Kultur¬
völkern in geschichtlicher Folge, mit der italienischen Renaissance beginnend. Hier
steht soviel gutes, feines, belehrendes und, wenn es schon allgemeiner bekannt
war, doch besonders gut ausgedrücktes, daß das Buch allen, die sich für die
bildende Kunst interessiren, aufs beste empfohlen werden kann. Der Verfasser
war nicht nur in der Poesie und überhaupt der Nationallitteratur der einzelnen
Völker bewandert und belesen, er hat auch viel Kunst gesehen und verstanden.
Schade, daß mau nicht für solche Mitteilungen den fachmäßig geprägten Titel
"Ästhetik," der nach dem zu Anfang bemerkten gar nicht mehr zu diesem Inhalt
Paßt, fallen läßt und dafür "Kuustbetrachtung" sagt. Ein Buch wie dies


Ästhetisches

Büchern, und was Wischers berühmte Ästhetik betrifft, so wurde sie schon vor
dreißig und vierzig Jahren, als sie eben fertig geworden war, vielleicht noch
von den Alten und außerdem jedenfalls nur noch von den Professoren der
Philosophie gelesen. Die Jüngern und die, die sich in ernsthafter Absicht mit
der bildenden Kunst beschäftigten, wollten nichts davon wissen: sie war eine
Sache, und das, was sie trieben, war eine andre. So ist es im wesent¬
lichen auch heute. Wir haben uns zwar gewöhnt, gewisse Seiten der Kunst¬
betrachtung als ästhetisch zu bezeichnen, aber mit der philosophischen Ästhetik
hat dennoch der eigentliche Kunstforscher ebenso wenig zu thun, wie der Kunst-
freund als solcher von ihr zu erwarten hat. Lehrt sie ihn etwas über Kunst,
nützt sie ihm zum Verständnis bestimmter einzelner Kunstwerke, so thut sie es
nicht als philosophische Disziplin, sondern vermöge der besondern Art und
Bildung ihres Verfassers. In Wischers Ästhetik sind für den Kunstfreund
solche Stellen am meisten wert, die für die philosophische Lehre am wenigsten
in Betracht kommen, und zum Verständnis der Kunst haben z. B. Jakob
Burckhardt und Schnaase mehr beigetragen, als alle philosophischen Ästhetiker
zusammen.

Diese Bemerkungen scheinen sich uns auch an einem kleinen Buche zu be¬
währen, das aus dem Nachlasse eines jungen akademischen Lehrers von dessen
Freunden herausgegeben worden ist: Vorlesungen über Ästhetik von
K. Heinrich von Stein, nach vorhandnen Aufzeichnungen bearbeitet (Stutt¬
gart, Cotta). Es ist zunächst ganz ausgezeichnet geschrieben: richtig im Aus¬
druck, klar, anschaulich und anziehend. Der Verfasser war ein Verehrer
Schopenhauers, und der war bekanntlich ebenfalls ein Künstler der Sprache.
Stein schwärmt ferner unbedingt für Richard Wagner; was davon in die
Gesamtauffassung übergegangen ist, muß der Leser, dem etwa dieser Stand¬
punkt nicht zusagt, abzutrennen suchen. Der systematische Teil des Buches,
das Philosophische, macht nur reichlich ein Viertel des Ganzen aus. Er ist
gemeinverständlich und anregend, die Formulirung ist persönlich, nicht allgemein-
giltig, Vieles zufällig und zu andrer Auffassung oder Einkleidung auffordernd.
Der wertvollere, jedenfalls der für den Kunstfreund wichtigere Teil sind Be¬
merkungen über die Kunstanffassnng bei den verschiednen modernen Kultur¬
völkern in geschichtlicher Folge, mit der italienischen Renaissance beginnend. Hier
steht soviel gutes, feines, belehrendes und, wenn es schon allgemeiner bekannt
war, doch besonders gut ausgedrücktes, daß das Buch allen, die sich für die
bildende Kunst interessiren, aufs beste empfohlen werden kann. Der Verfasser
war nicht nur in der Poesie und überhaupt der Nationallitteratur der einzelnen
Völker bewandert und belesen, er hat auch viel Kunst gesehen und verstanden.
Schade, daß mau nicht für solche Mitteilungen den fachmäßig geprägten Titel
„Ästhetik," der nach dem zu Anfang bemerkten gar nicht mehr zu diesem Inhalt
Paßt, fallen läßt und dafür „Kuustbetrachtung" sagt. Ein Buch wie dies


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/183>, abgerufen am 29.12.2024.