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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Die Poesie des Sternenhimmels

gerufnen innern Wirksamkeiten auf, so würde ein inneres Zurruhegehen folgen,
begleitet von einem allgemeinen Hinschwinden und Zusammenfallen und einem
endlichen Stillstand und Tod. Demnach ist der Finsterniszustand nicht nur
ein Mangel an Licht, sondern eine innere Bewegung gegen Vernichtung und
Tod. Und so liegt hier die physiologische Wurzel unsrer Freude am Licht
und der Symbolik von Lickit und Leben, von Finsternis und Tod, wie sich
auf dieser in sich selbst notwendigen Natureingebung auch der Unterschied in
der Charakteranlage der Völker in dem trüben, wolkigen, licht- und wärme¬
losen Norden und der heitern Südländer gründet, die in lichten Farben ihren
schönheitsfreudigen Sinn sättigen.

Doch die dunkle Nacht wirkt auch noch in andrer Hinsicht auf die Seele
des Menschen ein. Wenn sich der Geist ans dein Banne löst, den die Finsternis
mit ihren Schrecken schafft, so fühlt er sich, in sein Inneres zurückgewiesen,
durch Entfernung des Lichts der bunten Mannichfaltigkeit der Dinge entrückt,
und läßt desto freier "eine nach dem Unendlichen gerichtete Geisteswirksamkeit"
in sich herrschen. Und so nennt Örsted in seiner "Naturlehre des Schönen"
die Finsternis auch die Mutter des Feierlicher, den Vater aber den reinen,
geistigen Inhalt der Lichtwelt, die von keiner Finsternis vernichtet werden kann.
Und dieses feierliche Gefühl wird noch gesteigert durch die tiefblaue Farbe, die
am Nachthimmel erscheint; denn wie uns das Weiße sinnbildlich Reinheit und
Unschuld, das Schwarze Trauer bezeichnet, so scheint uns das Blaue in seiner
tiefen Färbung die Bedeutung des Leeren, Unkörperlichen, vom Irdischen Ab¬
leitenden, kurz der Sehnsucht anzunehmen. Das Blau ist ein anlockendes
Nichts, sagt Goethe. Auch im Blau verschmilzt der objektive Natureindruck
mit dem subjektiven. Was wir unter seiner Einwirkung als Eindruck em¬
pfinden, nämlich die sanfte, milde Berührung des Auges, übertragen wir auf
die Naturgegenstände, die uns in dieser Farbe erscheinen, und so offenbaren
sie uns eine heitere, feierliche Ruhe. So besonders das Blau des Himmels,
wenn es sich im Wasser, im See spiegelt. Doch auch hier ist wieder der
Kontrast das Wirksamste. Die blauen Seen scheinen uns im Gegensatze zu der
dunkeln, starren, leblosen Erdoberfläche lebensvoll, beseelt, dem strahlenden
Menschenauge gleich, das zu uns eine seelische Sprache spricht, und so würde
auch der blaue Nachthimmel nicht so feierlich und doch zugleich lebendig wirken,
wenn nicht die Leuchtkraft, die schon von seinem Blau allein ausgeht, den
Gegensatz zu der nächtlichen Lichtschwäche der Erde bildete.

Was aber vom Nachthimmel im allgemeinen gilt, das gilt noch mehr
vom gestirnten. Auch sein Eindruck gründet sich auf Lichtfreude und auf
Kontrast. "Das Auge empfängt hier den Eindruck von Lichtpunkten, von
denen jeder in seinem Kampfe mit der Finsternis eine im Verhältnis zu seiner
Kleinheit unermeßliche Lichtkraft zeigt. Diese klaren Lichter besiegen zwar die
Finsternis im Himmelsraum, aber die Erde liegt finster und tot vor uns


Die Poesie des Sternenhimmels

gerufnen innern Wirksamkeiten auf, so würde ein inneres Zurruhegehen folgen,
begleitet von einem allgemeinen Hinschwinden und Zusammenfallen und einem
endlichen Stillstand und Tod. Demnach ist der Finsterniszustand nicht nur
ein Mangel an Licht, sondern eine innere Bewegung gegen Vernichtung und
Tod. Und so liegt hier die physiologische Wurzel unsrer Freude am Licht
und der Symbolik von Lickit und Leben, von Finsternis und Tod, wie sich
auf dieser in sich selbst notwendigen Natureingebung auch der Unterschied in
der Charakteranlage der Völker in dem trüben, wolkigen, licht- und wärme¬
losen Norden und der heitern Südländer gründet, die in lichten Farben ihren
schönheitsfreudigen Sinn sättigen.

Doch die dunkle Nacht wirkt auch noch in andrer Hinsicht auf die Seele
des Menschen ein. Wenn sich der Geist ans dein Banne löst, den die Finsternis
mit ihren Schrecken schafft, so fühlt er sich, in sein Inneres zurückgewiesen,
durch Entfernung des Lichts der bunten Mannichfaltigkeit der Dinge entrückt,
und läßt desto freier „eine nach dem Unendlichen gerichtete Geisteswirksamkeit"
in sich herrschen. Und so nennt Örsted in seiner „Naturlehre des Schönen"
die Finsternis auch die Mutter des Feierlicher, den Vater aber den reinen,
geistigen Inhalt der Lichtwelt, die von keiner Finsternis vernichtet werden kann.
Und dieses feierliche Gefühl wird noch gesteigert durch die tiefblaue Farbe, die
am Nachthimmel erscheint; denn wie uns das Weiße sinnbildlich Reinheit und
Unschuld, das Schwarze Trauer bezeichnet, so scheint uns das Blaue in seiner
tiefen Färbung die Bedeutung des Leeren, Unkörperlichen, vom Irdischen Ab¬
leitenden, kurz der Sehnsucht anzunehmen. Das Blau ist ein anlockendes
Nichts, sagt Goethe. Auch im Blau verschmilzt der objektive Natureindruck
mit dem subjektiven. Was wir unter seiner Einwirkung als Eindruck em¬
pfinden, nämlich die sanfte, milde Berührung des Auges, übertragen wir auf
die Naturgegenstände, die uns in dieser Farbe erscheinen, und so offenbaren
sie uns eine heitere, feierliche Ruhe. So besonders das Blau des Himmels,
wenn es sich im Wasser, im See spiegelt. Doch auch hier ist wieder der
Kontrast das Wirksamste. Die blauen Seen scheinen uns im Gegensatze zu der
dunkeln, starren, leblosen Erdoberfläche lebensvoll, beseelt, dem strahlenden
Menschenauge gleich, das zu uns eine seelische Sprache spricht, und so würde
auch der blaue Nachthimmel nicht so feierlich und doch zugleich lebendig wirken,
wenn nicht die Leuchtkraft, die schon von seinem Blau allein ausgeht, den
Gegensatz zu der nächtlichen Lichtschwäche der Erde bildete.

Was aber vom Nachthimmel im allgemeinen gilt, das gilt noch mehr
vom gestirnten. Auch sein Eindruck gründet sich auf Lichtfreude und auf
Kontrast. „Das Auge empfängt hier den Eindruck von Lichtpunkten, von
denen jeder in seinem Kampfe mit der Finsternis eine im Verhältnis zu seiner
Kleinheit unermeßliche Lichtkraft zeigt. Diese klaren Lichter besiegen zwar die
Finsternis im Himmelsraum, aber die Erde liegt finster und tot vor uns


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[0170] Die Poesie des Sternenhimmels gerufnen innern Wirksamkeiten auf, so würde ein inneres Zurruhegehen folgen, begleitet von einem allgemeinen Hinschwinden und Zusammenfallen und einem endlichen Stillstand und Tod. Demnach ist der Finsterniszustand nicht nur ein Mangel an Licht, sondern eine innere Bewegung gegen Vernichtung und Tod. Und so liegt hier die physiologische Wurzel unsrer Freude am Licht und der Symbolik von Lickit und Leben, von Finsternis und Tod, wie sich auf dieser in sich selbst notwendigen Natureingebung auch der Unterschied in der Charakteranlage der Völker in dem trüben, wolkigen, licht- und wärme¬ losen Norden und der heitern Südländer gründet, die in lichten Farben ihren schönheitsfreudigen Sinn sättigen. Doch die dunkle Nacht wirkt auch noch in andrer Hinsicht auf die Seele des Menschen ein. Wenn sich der Geist ans dein Banne löst, den die Finsternis mit ihren Schrecken schafft, so fühlt er sich, in sein Inneres zurückgewiesen, durch Entfernung des Lichts der bunten Mannichfaltigkeit der Dinge entrückt, und läßt desto freier „eine nach dem Unendlichen gerichtete Geisteswirksamkeit" in sich herrschen. Und so nennt Örsted in seiner „Naturlehre des Schönen" die Finsternis auch die Mutter des Feierlicher, den Vater aber den reinen, geistigen Inhalt der Lichtwelt, die von keiner Finsternis vernichtet werden kann. Und dieses feierliche Gefühl wird noch gesteigert durch die tiefblaue Farbe, die am Nachthimmel erscheint; denn wie uns das Weiße sinnbildlich Reinheit und Unschuld, das Schwarze Trauer bezeichnet, so scheint uns das Blaue in seiner tiefen Färbung die Bedeutung des Leeren, Unkörperlichen, vom Irdischen Ab¬ leitenden, kurz der Sehnsucht anzunehmen. Das Blau ist ein anlockendes Nichts, sagt Goethe. Auch im Blau verschmilzt der objektive Natureindruck mit dem subjektiven. Was wir unter seiner Einwirkung als Eindruck em¬ pfinden, nämlich die sanfte, milde Berührung des Auges, übertragen wir auf die Naturgegenstände, die uns in dieser Farbe erscheinen, und so offenbaren sie uns eine heitere, feierliche Ruhe. So besonders das Blau des Himmels, wenn es sich im Wasser, im See spiegelt. Doch auch hier ist wieder der Kontrast das Wirksamste. Die blauen Seen scheinen uns im Gegensatze zu der dunkeln, starren, leblosen Erdoberfläche lebensvoll, beseelt, dem strahlenden Menschenauge gleich, das zu uns eine seelische Sprache spricht, und so würde auch der blaue Nachthimmel nicht so feierlich und doch zugleich lebendig wirken, wenn nicht die Leuchtkraft, die schon von seinem Blau allein ausgeht, den Gegensatz zu der nächtlichen Lichtschwäche der Erde bildete. Was aber vom Nachthimmel im allgemeinen gilt, das gilt noch mehr vom gestirnten. Auch sein Eindruck gründet sich auf Lichtfreude und auf Kontrast. „Das Auge empfängt hier den Eindruck von Lichtpunkten, von denen jeder in seinem Kampfe mit der Finsternis eine im Verhältnis zu seiner Kleinheit unermeßliche Lichtkraft zeigt. Diese klaren Lichter besiegen zwar die Finsternis im Himmelsraum, aber die Erde liegt finster und tot vor uns

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/170>, abgerufen am 29.12.2024.