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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Religionsunterricht

heit des eignen Handelns, kann aber nur im Handeln, im Leben gebildet
werden, also zunächst im Hause. Hier sieht das Kind handeln und handelt
es selbst und erfährt aus Lob und Tadel, aus freundlichen und zornigen und
betrübten Gesichtern, aus Strafen, aus den Gesprächen seiner Eltern und
andrer Leute, wie Handlungen zu beurteilen seien. In der Schule, wo es
zudem nur den kleinern Teil seiner wachen Zeit zubringt, leidet es mehr, als
es handelt. Gewöhnlich ist ihm hier nur eine höchst einseitige Art des
Handelns gestattet, die vorgeschriebne Denk-, Schreib- und Sprechthätigkeit,
und oft hat es stundenlang gar nichts zu thun, als unbeweglich da zu sitzen,
was freilich als Übung in der Selbstbeherrschung auch eine Seite der Sitt¬
lichkeit fördert, andre Seiten aber desto mehr schädigt. Die Schulsittlichkeit
kann eben ihrer Naur nach nicht anders als einseitig sein. Fleiß, Ordnungs¬
liebe, Verträglichkeit, Gehorsam werden in der Schule meistens kräftiger
gefördert als zu Hause. Dafür hat das sehnlicher seine eigentümlichen
Gefahren: schwierige Aufgaben erzeugen die Gewohnheit des Vetrügens, ein
langweiliger Unterricht -- und den bessern Köpfen wird fast jeder Schulunter¬
richt langweilig, weil er auf die Bedürfnisse der Mittelmäßigen zugeschnitten sein
muß -- verführt zum Brüten und Phantasiren, die Passivität, die dem Schüler
so lange Jahre hindurch zugemutet wird, schwächt die Anlage zur Thätigkeit;
ein fleißiger Schüler kann später ein unthätiger Mensch werden, dem die Lust
und Fähigkeit zu selbständigen Unternehmungen fehlt, weil er gewöhnt worden
ist, zwar alles Aufgegebne ordentlich zu verrichten, aber nichts zu thun, was
ihm nicht aufgegeben ist. Das allerwichtigste: die Kunst, in jeder Lage dieses
wechselvollen Lebens die richtige Entscheidung zu treffen, die angemessene
Haltung zu bewahren, die kann in der Schule weniger als sonst überall ein¬
geübt werden; dazu bieten das Haus, der Spielplatz, die Werkstatt, der
Umgang mit Kameraden weit mehr Gelegenheit.

Das alles gilt nun auch vom Religionsunterricht, der an diesen guten
und schlimmen Wirkungen teilnimmt -- im Verhältnis seiner Stundenzahl,
sodaß er von der Verantwortung für den guten und schlimmen Einfluß des
Gesamtunterrichts in den höhern Lehranstalten etwa ein Sechzehntel und in
den Volksschulen etwa ein Viertel zu tragen hat. Aber, wird der Geistliche
einwenden, der Religionsunterricht soll doch in ganz andrer Weise auf die
Sittlichkeit einwirken als der Gesamtunterricht, nämlich durch seinen Inhalt.
Ich will hier nicht daran erinnern, daß nach einer ziemlich weit verbreiteten
Meinung, die sich auf ein sehr umfangreiches Material trauriger geschichtlicher
Erfahrungen berufen kann, die Leute, die den allergründlichsten Religions¬
unterricht genossen haben, nämlich die Geistlichen, im allgemeinen eher unter
als über dem Durchschnitt der Volksstttlichkeit ihrer Zeit zu stehen pflegen;
das ist eine Seite der Sache, der es ja an Bearbeitern niemals fehlt. Ich
halte mich nur an das Technische. Man meint, der Religionsunterricht solle


Religionsunterricht

heit des eignen Handelns, kann aber nur im Handeln, im Leben gebildet
werden, also zunächst im Hause. Hier sieht das Kind handeln und handelt
es selbst und erfährt aus Lob und Tadel, aus freundlichen und zornigen und
betrübten Gesichtern, aus Strafen, aus den Gesprächen seiner Eltern und
andrer Leute, wie Handlungen zu beurteilen seien. In der Schule, wo es
zudem nur den kleinern Teil seiner wachen Zeit zubringt, leidet es mehr, als
es handelt. Gewöhnlich ist ihm hier nur eine höchst einseitige Art des
Handelns gestattet, die vorgeschriebne Denk-, Schreib- und Sprechthätigkeit,
und oft hat es stundenlang gar nichts zu thun, als unbeweglich da zu sitzen,
was freilich als Übung in der Selbstbeherrschung auch eine Seite der Sitt¬
lichkeit fördert, andre Seiten aber desto mehr schädigt. Die Schulsittlichkeit
kann eben ihrer Naur nach nicht anders als einseitig sein. Fleiß, Ordnungs¬
liebe, Verträglichkeit, Gehorsam werden in der Schule meistens kräftiger
gefördert als zu Hause. Dafür hat das sehnlicher seine eigentümlichen
Gefahren: schwierige Aufgaben erzeugen die Gewohnheit des Vetrügens, ein
langweiliger Unterricht — und den bessern Köpfen wird fast jeder Schulunter¬
richt langweilig, weil er auf die Bedürfnisse der Mittelmäßigen zugeschnitten sein
muß — verführt zum Brüten und Phantasiren, die Passivität, die dem Schüler
so lange Jahre hindurch zugemutet wird, schwächt die Anlage zur Thätigkeit;
ein fleißiger Schüler kann später ein unthätiger Mensch werden, dem die Lust
und Fähigkeit zu selbständigen Unternehmungen fehlt, weil er gewöhnt worden
ist, zwar alles Aufgegebne ordentlich zu verrichten, aber nichts zu thun, was
ihm nicht aufgegeben ist. Das allerwichtigste: die Kunst, in jeder Lage dieses
wechselvollen Lebens die richtige Entscheidung zu treffen, die angemessene
Haltung zu bewahren, die kann in der Schule weniger als sonst überall ein¬
geübt werden; dazu bieten das Haus, der Spielplatz, die Werkstatt, der
Umgang mit Kameraden weit mehr Gelegenheit.

Das alles gilt nun auch vom Religionsunterricht, der an diesen guten
und schlimmen Wirkungen teilnimmt — im Verhältnis seiner Stundenzahl,
sodaß er von der Verantwortung für den guten und schlimmen Einfluß des
Gesamtunterrichts in den höhern Lehranstalten etwa ein Sechzehntel und in
den Volksschulen etwa ein Viertel zu tragen hat. Aber, wird der Geistliche
einwenden, der Religionsunterricht soll doch in ganz andrer Weise auf die
Sittlichkeit einwirken als der Gesamtunterricht, nämlich durch seinen Inhalt.
Ich will hier nicht daran erinnern, daß nach einer ziemlich weit verbreiteten
Meinung, die sich auf ein sehr umfangreiches Material trauriger geschichtlicher
Erfahrungen berufen kann, die Leute, die den allergründlichsten Religions¬
unterricht genossen haben, nämlich die Geistlichen, im allgemeinen eher unter
als über dem Durchschnitt der Volksstttlichkeit ihrer Zeit zu stehen pflegen;
das ist eine Seite der Sache, der es ja an Bearbeitern niemals fehlt. Ich
halte mich nur an das Technische. Man meint, der Religionsunterricht solle


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[0166] Religionsunterricht heit des eignen Handelns, kann aber nur im Handeln, im Leben gebildet werden, also zunächst im Hause. Hier sieht das Kind handeln und handelt es selbst und erfährt aus Lob und Tadel, aus freundlichen und zornigen und betrübten Gesichtern, aus Strafen, aus den Gesprächen seiner Eltern und andrer Leute, wie Handlungen zu beurteilen seien. In der Schule, wo es zudem nur den kleinern Teil seiner wachen Zeit zubringt, leidet es mehr, als es handelt. Gewöhnlich ist ihm hier nur eine höchst einseitige Art des Handelns gestattet, die vorgeschriebne Denk-, Schreib- und Sprechthätigkeit, und oft hat es stundenlang gar nichts zu thun, als unbeweglich da zu sitzen, was freilich als Übung in der Selbstbeherrschung auch eine Seite der Sitt¬ lichkeit fördert, andre Seiten aber desto mehr schädigt. Die Schulsittlichkeit kann eben ihrer Naur nach nicht anders als einseitig sein. Fleiß, Ordnungs¬ liebe, Verträglichkeit, Gehorsam werden in der Schule meistens kräftiger gefördert als zu Hause. Dafür hat das sehnlicher seine eigentümlichen Gefahren: schwierige Aufgaben erzeugen die Gewohnheit des Vetrügens, ein langweiliger Unterricht — und den bessern Köpfen wird fast jeder Schulunter¬ richt langweilig, weil er auf die Bedürfnisse der Mittelmäßigen zugeschnitten sein muß — verführt zum Brüten und Phantasiren, die Passivität, die dem Schüler so lange Jahre hindurch zugemutet wird, schwächt die Anlage zur Thätigkeit; ein fleißiger Schüler kann später ein unthätiger Mensch werden, dem die Lust und Fähigkeit zu selbständigen Unternehmungen fehlt, weil er gewöhnt worden ist, zwar alles Aufgegebne ordentlich zu verrichten, aber nichts zu thun, was ihm nicht aufgegeben ist. Das allerwichtigste: die Kunst, in jeder Lage dieses wechselvollen Lebens die richtige Entscheidung zu treffen, die angemessene Haltung zu bewahren, die kann in der Schule weniger als sonst überall ein¬ geübt werden; dazu bieten das Haus, der Spielplatz, die Werkstatt, der Umgang mit Kameraden weit mehr Gelegenheit. Das alles gilt nun auch vom Religionsunterricht, der an diesen guten und schlimmen Wirkungen teilnimmt — im Verhältnis seiner Stundenzahl, sodaß er von der Verantwortung für den guten und schlimmen Einfluß des Gesamtunterrichts in den höhern Lehranstalten etwa ein Sechzehntel und in den Volksschulen etwa ein Viertel zu tragen hat. Aber, wird der Geistliche einwenden, der Religionsunterricht soll doch in ganz andrer Weise auf die Sittlichkeit einwirken als der Gesamtunterricht, nämlich durch seinen Inhalt. Ich will hier nicht daran erinnern, daß nach einer ziemlich weit verbreiteten Meinung, die sich auf ein sehr umfangreiches Material trauriger geschichtlicher Erfahrungen berufen kann, die Leute, die den allergründlichsten Religions¬ unterricht genossen haben, nämlich die Geistlichen, im allgemeinen eher unter als über dem Durchschnitt der Volksstttlichkeit ihrer Zeit zu stehen pflegen; das ist eine Seite der Sache, der es ja an Bearbeitern niemals fehlt. Ich halte mich nur an das Technische. Man meint, der Religionsunterricht solle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/166>, abgerufen am 29.12.2024.