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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Religionsunterricht

messen können usw. Weil aber ein Junge mit zehn Jahren noch nicht weiß,
was er dereinst für einen Beruf wählen wird, darum muß er vielerlei lernen,
außerdem auch deshalb, weil die hohe Obrigkeit die Thür zu den ver-
schiednen Ämtern nur solchen erschließt, die die vorgeschrieben Prüfungen
bestehn. Daneben wird dann freilich von jedem Fach auch eine günstige Ein¬
wirkung auf Denkkraft und Charakter erwartet, aber die Hauptsache bleibt
doch, daß man das gelernte in seinem Berufe oder wenigstens für die Prüfung
braucht. Den Stoff des Religionsunterrichts dagegen braucht niemand für
seinen Beruf (die wissenschaftlichen Neligionskenntnisfe des Theologen sind
ganz andrer Art) und als Eintrittskarte zu den Staatsämtern wird der Nach¬
weis von Religionskenntnissen in Preußen allerdings noch gefordert, in Baden
hingegen schon nicht mehr, dort hat man die Religionsprüfung aus dem
Abiturientenexamen gestrichen. Dyß der Gebildete auch in Religionssachen
"etwas" wissen müsse, halten zwar die meisten für selbstverständlich; fragt
man aber: Was und wieviel? so bemerkt man bald, daß jede objektive Norm
fehlt, während eine solche bei Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften
vorhanden ist. Stöcker hat einmal die Heiterkeit des liberalen Deutschlands
erregt, indem er seinen Unwillen darüber aussprach, daß eine ganze Abteilung
Berliner Konfirmationsschüler von der Krankheit des Königs Histia nichts
gewußt habe; man sagte es ihm gerade heraus, daß die moderne Bildung
über den König Histia und die übrigen obskuren Judenkönige längst hinaus¬
geschritten sei; der "Gebildete" findet oder sand wenigstens noch vor zwanzig
Jahren, wo es ihm eine höchst gebildete und aufgeklärte Negierung gestattete,
die meisten Katechismusantworten, biblischen Geschichten und Kirchenlieder
so überflüssig wie die Geschichte vom König Histia und der Sonnenuhr. Und
ginge es einmal ans Streichen, die Liberalen würden manchen Bundesgenossen
finden unter den Frommen. Was nützen meinem Jungen, so denkt gar mancher
Vater, die vielen Lieder, Bibelsprüche und gelehrten Katechismussätze! Soll
er doch kein Prediger werden, sondern nur ein rechtschaffner und gottes-
fürchtiger Mensch.

Und das wird nun allerdings ziemlich allgemein als der eigentliche Zweck
des Religionsunterrichts angesehn, daß er rechtschaffne und gottesfürchtige
Menschen aus den Kindern machen solle. Aber die Zahl derer ist schon längst
nicht mehr klein, die da einsehen, daß Religion und Sittlichkeit nicht gelehrt
werden können, daß sie den Religionsunterricht also nicht erzengen kann, und
daß das, was er etwa zu ihrer Förderung beitragen mag, von den Geistlichen
und vom Staate außerordentlich überschätzt wird. Was ist denn Sittlichkeit?
Was sie dem Inhalt nach sei, darüber gehen die Ansichten weit auseinander,
aber wenigstens über die Form herrscht kein Streit. Der Form nach besteht
Sittlichkeit in einer gewissen Art, Handlungen zu beurteilen und selbst zu
handeln. Beides, das Urteil über die Handlungen andrer wie die Gewöhn-


Religionsunterricht

messen können usw. Weil aber ein Junge mit zehn Jahren noch nicht weiß,
was er dereinst für einen Beruf wählen wird, darum muß er vielerlei lernen,
außerdem auch deshalb, weil die hohe Obrigkeit die Thür zu den ver-
schiednen Ämtern nur solchen erschließt, die die vorgeschrieben Prüfungen
bestehn. Daneben wird dann freilich von jedem Fach auch eine günstige Ein¬
wirkung auf Denkkraft und Charakter erwartet, aber die Hauptsache bleibt
doch, daß man das gelernte in seinem Berufe oder wenigstens für die Prüfung
braucht. Den Stoff des Religionsunterrichts dagegen braucht niemand für
seinen Beruf (die wissenschaftlichen Neligionskenntnisfe des Theologen sind
ganz andrer Art) und als Eintrittskarte zu den Staatsämtern wird der Nach¬
weis von Religionskenntnissen in Preußen allerdings noch gefordert, in Baden
hingegen schon nicht mehr, dort hat man die Religionsprüfung aus dem
Abiturientenexamen gestrichen. Dyß der Gebildete auch in Religionssachen
„etwas" wissen müsse, halten zwar die meisten für selbstverständlich; fragt
man aber: Was und wieviel? so bemerkt man bald, daß jede objektive Norm
fehlt, während eine solche bei Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften
vorhanden ist. Stöcker hat einmal die Heiterkeit des liberalen Deutschlands
erregt, indem er seinen Unwillen darüber aussprach, daß eine ganze Abteilung
Berliner Konfirmationsschüler von der Krankheit des Königs Histia nichts
gewußt habe; man sagte es ihm gerade heraus, daß die moderne Bildung
über den König Histia und die übrigen obskuren Judenkönige längst hinaus¬
geschritten sei; der „Gebildete" findet oder sand wenigstens noch vor zwanzig
Jahren, wo es ihm eine höchst gebildete und aufgeklärte Negierung gestattete,
die meisten Katechismusantworten, biblischen Geschichten und Kirchenlieder
so überflüssig wie die Geschichte vom König Histia und der Sonnenuhr. Und
ginge es einmal ans Streichen, die Liberalen würden manchen Bundesgenossen
finden unter den Frommen. Was nützen meinem Jungen, so denkt gar mancher
Vater, die vielen Lieder, Bibelsprüche und gelehrten Katechismussätze! Soll
er doch kein Prediger werden, sondern nur ein rechtschaffner und gottes-
fürchtiger Mensch.

Und das wird nun allerdings ziemlich allgemein als der eigentliche Zweck
des Religionsunterrichts angesehn, daß er rechtschaffne und gottesfürchtige
Menschen aus den Kindern machen solle. Aber die Zahl derer ist schon längst
nicht mehr klein, die da einsehen, daß Religion und Sittlichkeit nicht gelehrt
werden können, daß sie den Religionsunterricht also nicht erzengen kann, und
daß das, was er etwa zu ihrer Förderung beitragen mag, von den Geistlichen
und vom Staate außerordentlich überschätzt wird. Was ist denn Sittlichkeit?
Was sie dem Inhalt nach sei, darüber gehen die Ansichten weit auseinander,
aber wenigstens über die Form herrscht kein Streit. Der Form nach besteht
Sittlichkeit in einer gewissen Art, Handlungen zu beurteilen und selbst zu
handeln. Beides, das Urteil über die Handlungen andrer wie die Gewöhn-


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[0165] Religionsunterricht messen können usw. Weil aber ein Junge mit zehn Jahren noch nicht weiß, was er dereinst für einen Beruf wählen wird, darum muß er vielerlei lernen, außerdem auch deshalb, weil die hohe Obrigkeit die Thür zu den ver- schiednen Ämtern nur solchen erschließt, die die vorgeschrieben Prüfungen bestehn. Daneben wird dann freilich von jedem Fach auch eine günstige Ein¬ wirkung auf Denkkraft und Charakter erwartet, aber die Hauptsache bleibt doch, daß man das gelernte in seinem Berufe oder wenigstens für die Prüfung braucht. Den Stoff des Religionsunterrichts dagegen braucht niemand für seinen Beruf (die wissenschaftlichen Neligionskenntnisfe des Theologen sind ganz andrer Art) und als Eintrittskarte zu den Staatsämtern wird der Nach¬ weis von Religionskenntnissen in Preußen allerdings noch gefordert, in Baden hingegen schon nicht mehr, dort hat man die Religionsprüfung aus dem Abiturientenexamen gestrichen. Dyß der Gebildete auch in Religionssachen „etwas" wissen müsse, halten zwar die meisten für selbstverständlich; fragt man aber: Was und wieviel? so bemerkt man bald, daß jede objektive Norm fehlt, während eine solche bei Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften vorhanden ist. Stöcker hat einmal die Heiterkeit des liberalen Deutschlands erregt, indem er seinen Unwillen darüber aussprach, daß eine ganze Abteilung Berliner Konfirmationsschüler von der Krankheit des Königs Histia nichts gewußt habe; man sagte es ihm gerade heraus, daß die moderne Bildung über den König Histia und die übrigen obskuren Judenkönige längst hinaus¬ geschritten sei; der „Gebildete" findet oder sand wenigstens noch vor zwanzig Jahren, wo es ihm eine höchst gebildete und aufgeklärte Negierung gestattete, die meisten Katechismusantworten, biblischen Geschichten und Kirchenlieder so überflüssig wie die Geschichte vom König Histia und der Sonnenuhr. Und ginge es einmal ans Streichen, die Liberalen würden manchen Bundesgenossen finden unter den Frommen. Was nützen meinem Jungen, so denkt gar mancher Vater, die vielen Lieder, Bibelsprüche und gelehrten Katechismussätze! Soll er doch kein Prediger werden, sondern nur ein rechtschaffner und gottes- fürchtiger Mensch. Und das wird nun allerdings ziemlich allgemein als der eigentliche Zweck des Religionsunterrichts angesehn, daß er rechtschaffne und gottesfürchtige Menschen aus den Kindern machen solle. Aber die Zahl derer ist schon längst nicht mehr klein, die da einsehen, daß Religion und Sittlichkeit nicht gelehrt werden können, daß sie den Religionsunterricht also nicht erzengen kann, und daß das, was er etwa zu ihrer Förderung beitragen mag, von den Geistlichen und vom Staate außerordentlich überschätzt wird. Was ist denn Sittlichkeit? Was sie dem Inhalt nach sei, darüber gehen die Ansichten weit auseinander, aber wenigstens über die Form herrscht kein Streit. Der Form nach besteht Sittlichkeit in einer gewissen Art, Handlungen zu beurteilen und selbst zu handeln. Beides, das Urteil über die Handlungen andrer wie die Gewöhn-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/165>, abgerufen am 24.07.2024.