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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Religionsunterricht

zwingt eine ganze Schulklasse, aus langer Weile Allotria zu treiben, verurteilt
einen hochgebildeten, geistreichen Mann zum schmählichen Handwerk eines gewöhn¬
lichen Einpaukers und verurteilt ein gedächtnisschwaches Mädchen zur geistigen
Marter, weil es für unumgänglich notwendig erachtet wird, daß jeder evan¬
gelisch-lutherische Christ sechs Zeilen einer Poesie von sehr zweifelhaftem Wert
auswendig hersagen könne, die er jederzeit in seinem Gesangbuche findet, wenn
ihn etwa einmal die Lust anwandelt, sie zu singen! Wir versuchen es noch
mit einer katholischen Dorfschule. Dort kommen wir zu spät, und der Kantor,
der schou beim Mittagessen sitzt, klagt scherzend, seine Frau habe ihm die
Suppe versalzen. Das geschehe jetzt überhaupt öfter, d. h. nur Dienstags und
Freitags. An diesen beiden Tagen sei nämlich von elf bis zwölf Uhr Religions-
stunde. Der frühere Pfarrer habe nun die ganze Stunde hindurch so an¬
haltend und hübsch im Takte zugehauen, daß seine Frau an das Geknall
gewöhnt gewesen sei, wie der Müller ans Klappern der Mühle; seit ein paar
Monaten habe man einen neuen Pfarrer, bei tems nicht knalle, und da gerate
sie beim Kochen in Verwirrung. Auch die Leute im Dorfe schüttelten schon
die Köpfe und sprächen: "Dar verstiehts nee!" fehle doch am Religionsunter¬
richt die Hauptsache.

Ich habe drei Arten von geistlichen Religionslehrern kennen gelernt.
Einige wissen in der Religionsstunde gar nichts anzufangen, schwarzen so
oft wie möglich und überlassen das unangenehme Geschäft dem Kaplan oder
dem Lehrer. Andre verstehen mit Kindern zu reden und verplaudern ein
halbes Stündchen mit ihnen; davon behalten die Kinder eine freundliche
Erinnerung, die ja auch wohl meistens einige nützliche Anregungen enthalten
mag; das "Schulplanmäßige" muß dann freilich der Lehrer nachholen, wenn
der Pfarrer hinaus ist. Noch andre -- und die bilden wohl jetzt bei der
heutigen bessern Vorbereitung die Mehrzahl -- versteh" zu schulmeistern
und betreiben den Religionsunterricht, wie man jeden andern Unterricht be¬
treibt; das geht aber meistens nicht ohne Stock, weil der Religionsunterricht
der schwierigste ist und am wenigsten natürliche Anziehungskraft auf die Kinder
ausübt. Auf den höhern Lehranstalten bedarf man des Stockes nur darum
nicht, weil da andre Disziplinarmittel zur Verfügung stehn, aber erzwingen
muß sich der Lehrer auch da die Aufmerksamkeit. In der untern Abteilung
einer höhern Töchterschule hatte ich ein Dutzend reizender kleiner Mädchen
beisammen, und ich kann versichern, die rohesten vierzehnjährigen Ochsenjungen
haben mir nicht so viel zu schaffen gemacht wie diese Engelein. Kommt man
mit einem handfesten Burschen einmal nicht anders zurecht, so reißt man ihm
eben eins über, aber was soll man mit kleinen feinen Mädchen aus gebildeter
Familie anfangen, wenn sie wie Vögelchen herumhüpfen und zwitschern anstatt
aufzupassen? Auf zehn Minuten kann man sie schon mit einer biblischen Ge¬
schichte oder mit einer Katechisation über einen ihnen nicht gar zu fern liegenden


Religionsunterricht

zwingt eine ganze Schulklasse, aus langer Weile Allotria zu treiben, verurteilt
einen hochgebildeten, geistreichen Mann zum schmählichen Handwerk eines gewöhn¬
lichen Einpaukers und verurteilt ein gedächtnisschwaches Mädchen zur geistigen
Marter, weil es für unumgänglich notwendig erachtet wird, daß jeder evan¬
gelisch-lutherische Christ sechs Zeilen einer Poesie von sehr zweifelhaftem Wert
auswendig hersagen könne, die er jederzeit in seinem Gesangbuche findet, wenn
ihn etwa einmal die Lust anwandelt, sie zu singen! Wir versuchen es noch
mit einer katholischen Dorfschule. Dort kommen wir zu spät, und der Kantor,
der schou beim Mittagessen sitzt, klagt scherzend, seine Frau habe ihm die
Suppe versalzen. Das geschehe jetzt überhaupt öfter, d. h. nur Dienstags und
Freitags. An diesen beiden Tagen sei nämlich von elf bis zwölf Uhr Religions-
stunde. Der frühere Pfarrer habe nun die ganze Stunde hindurch so an¬
haltend und hübsch im Takte zugehauen, daß seine Frau an das Geknall
gewöhnt gewesen sei, wie der Müller ans Klappern der Mühle; seit ein paar
Monaten habe man einen neuen Pfarrer, bei tems nicht knalle, und da gerate
sie beim Kochen in Verwirrung. Auch die Leute im Dorfe schüttelten schon
die Köpfe und sprächen: „Dar verstiehts nee!" fehle doch am Religionsunter¬
richt die Hauptsache.

Ich habe drei Arten von geistlichen Religionslehrern kennen gelernt.
Einige wissen in der Religionsstunde gar nichts anzufangen, schwarzen so
oft wie möglich und überlassen das unangenehme Geschäft dem Kaplan oder
dem Lehrer. Andre verstehen mit Kindern zu reden und verplaudern ein
halbes Stündchen mit ihnen; davon behalten die Kinder eine freundliche
Erinnerung, die ja auch wohl meistens einige nützliche Anregungen enthalten
mag; das „Schulplanmäßige" muß dann freilich der Lehrer nachholen, wenn
der Pfarrer hinaus ist. Noch andre — und die bilden wohl jetzt bei der
heutigen bessern Vorbereitung die Mehrzahl — versteh» zu schulmeistern
und betreiben den Religionsunterricht, wie man jeden andern Unterricht be¬
treibt; das geht aber meistens nicht ohne Stock, weil der Religionsunterricht
der schwierigste ist und am wenigsten natürliche Anziehungskraft auf die Kinder
ausübt. Auf den höhern Lehranstalten bedarf man des Stockes nur darum
nicht, weil da andre Disziplinarmittel zur Verfügung stehn, aber erzwingen
muß sich der Lehrer auch da die Aufmerksamkeit. In der untern Abteilung
einer höhern Töchterschule hatte ich ein Dutzend reizender kleiner Mädchen
beisammen, und ich kann versichern, die rohesten vierzehnjährigen Ochsenjungen
haben mir nicht so viel zu schaffen gemacht wie diese Engelein. Kommt man
mit einem handfesten Burschen einmal nicht anders zurecht, so reißt man ihm
eben eins über, aber was soll man mit kleinen feinen Mädchen aus gebildeter
Familie anfangen, wenn sie wie Vögelchen herumhüpfen und zwitschern anstatt
aufzupassen? Auf zehn Minuten kann man sie schon mit einer biblischen Ge¬
schichte oder mit einer Katechisation über einen ihnen nicht gar zu fern liegenden


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[0162] Religionsunterricht zwingt eine ganze Schulklasse, aus langer Weile Allotria zu treiben, verurteilt einen hochgebildeten, geistreichen Mann zum schmählichen Handwerk eines gewöhn¬ lichen Einpaukers und verurteilt ein gedächtnisschwaches Mädchen zur geistigen Marter, weil es für unumgänglich notwendig erachtet wird, daß jeder evan¬ gelisch-lutherische Christ sechs Zeilen einer Poesie von sehr zweifelhaftem Wert auswendig hersagen könne, die er jederzeit in seinem Gesangbuche findet, wenn ihn etwa einmal die Lust anwandelt, sie zu singen! Wir versuchen es noch mit einer katholischen Dorfschule. Dort kommen wir zu spät, und der Kantor, der schou beim Mittagessen sitzt, klagt scherzend, seine Frau habe ihm die Suppe versalzen. Das geschehe jetzt überhaupt öfter, d. h. nur Dienstags und Freitags. An diesen beiden Tagen sei nämlich von elf bis zwölf Uhr Religions- stunde. Der frühere Pfarrer habe nun die ganze Stunde hindurch so an¬ haltend und hübsch im Takte zugehauen, daß seine Frau an das Geknall gewöhnt gewesen sei, wie der Müller ans Klappern der Mühle; seit ein paar Monaten habe man einen neuen Pfarrer, bei tems nicht knalle, und da gerate sie beim Kochen in Verwirrung. Auch die Leute im Dorfe schüttelten schon die Köpfe und sprächen: „Dar verstiehts nee!" fehle doch am Religionsunter¬ richt die Hauptsache. Ich habe drei Arten von geistlichen Religionslehrern kennen gelernt. Einige wissen in der Religionsstunde gar nichts anzufangen, schwarzen so oft wie möglich und überlassen das unangenehme Geschäft dem Kaplan oder dem Lehrer. Andre verstehen mit Kindern zu reden und verplaudern ein halbes Stündchen mit ihnen; davon behalten die Kinder eine freundliche Erinnerung, die ja auch wohl meistens einige nützliche Anregungen enthalten mag; das „Schulplanmäßige" muß dann freilich der Lehrer nachholen, wenn der Pfarrer hinaus ist. Noch andre — und die bilden wohl jetzt bei der heutigen bessern Vorbereitung die Mehrzahl — versteh» zu schulmeistern und betreiben den Religionsunterricht, wie man jeden andern Unterricht be¬ treibt; das geht aber meistens nicht ohne Stock, weil der Religionsunterricht der schwierigste ist und am wenigsten natürliche Anziehungskraft auf die Kinder ausübt. Auf den höhern Lehranstalten bedarf man des Stockes nur darum nicht, weil da andre Disziplinarmittel zur Verfügung stehn, aber erzwingen muß sich der Lehrer auch da die Aufmerksamkeit. In der untern Abteilung einer höhern Töchterschule hatte ich ein Dutzend reizender kleiner Mädchen beisammen, und ich kann versichern, die rohesten vierzehnjährigen Ochsenjungen haben mir nicht so viel zu schaffen gemacht wie diese Engelein. Kommt man mit einem handfesten Burschen einmal nicht anders zurecht, so reißt man ihm eben eins über, aber was soll man mit kleinen feinen Mädchen aus gebildeter Familie anfangen, wenn sie wie Vögelchen herumhüpfen und zwitschern anstatt aufzupassen? Auf zehn Minuten kann man sie schon mit einer biblischen Ge¬ schichte oder mit einer Katechisation über einen ihnen nicht gar zu fern liegenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/162>, abgerufen am 24.07.2024.