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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Dichter und Kritiker

auch nicht immer der eine Teil dabei Dichter nennt. Fast das meiste, was
heute als Lyrik auf den Markt gebracht wird, hat polemischen Inhalt. Sind
die Dichter jung, so lieben sie es besonders, ihre Kritiker als Schulmeister zu
bezeichnen. Sie haben damit insofern Recht, als diese gewöhnlich mehr gelernt
haben als sie selbst, die vielleicht etwas früh aus der Schule genommen worden
und wohl auch einst hinter die Schule gelaufen sind. So ist denn die Folge
davon,, daß die einen nichts können als Verse machen, und die andern vermöge
ihrer bessern Kenntnis der Vergangenheit manchmal meinen, solche Verse hätte
man früher viel besser gemacht, und diese seien das Drucken nicht wert. Wenn
sich die Kritiker gewöhnt haben, in der Vergangenheit auch mit dem Herzen zu
lesen, so ist kaum anzunehmen, daß sie sich nicht mehr freuen sollten, unter
ihren Zeitgenossen guten Dichtern zu begegnen, als schlechten. Vielleicht aber
sind sie voreingenommen und beschwert durch die Last der Tradition? Gewiß
nicht, wenn ihr Blick nur weit genug reicht, denn das Vergangne ist im einzelnen
so verschieden, daß es Beispiele, Analogien, Muster hergiebt für alles, was sich
nur in diesem Bereiche ähnliches wieder zeigen kann. Ein Kritiker, wie er
sein soll, wird andrerseits kein besondres Bedürfnis fühlen, den lebenden
Dichter zu schulmeistern. Wenn es möglich ist, möchte er ihn genießen, wie
es alle andern Menschen zu thun wünschen, jedenfalls aber will er ihn ver¬
stehen als geistige Erscheinung der Zeit, also das thun, was später der
Litteraturhistoriker thut, wenn der es auch bei den meisten dieser Dichter nicht
mehr nötig haben wird, weil sie bald vergessen sein werden. Um so mehr
Hütten es ihm solche zu danken, daß er durch die Aufmerksamkeit, die er ihnen
schenkt, ihr Andenken wenigstens vorläufig bei den Zeitgenossen erhält.

Diese Gedanken kamen mir beim Lesen eines starken Quartbandes, den
Wilhelm Arme als Deutschen Musenalmanach für das Jahr 1897
herausgegeben hat mit dem Untertitel: "Blätter neuer deutscher Litteratur und
Kunst" und einem Motto nach Herder: "Poesie ist die Muttersprache des
menschlichen Geschlechts" (Leipzig und Wien, Litterarische Anstalt, Inhaber:
Schulze). Es ist ein hoher Name und ein vornehmes Banner, unter dem sich
hier fünfunddreißig Dichter und Schriftsteller mit ihren Beiträgen zusammen¬
gefunden haben- An die gute Vergangenheit erinnert es auch, daß die Gegenden
Deutschlands hervorgehoben werden, aus denen die Dichter stammen, daß Wert
gelegt wird auf das Natürliche, am Boden haftende, daß der "Moderne" mit
ihren fremden Rattenfängern, Ibsen, Björnson und den französischen Impressio¬
nisten und Symbolisten ausdrücklich abgesagt wird. Mit den Modernen hatte
sich der Herausgeber früher in ähnlichen Sammetbänder zusammengefunden.
In dem neuen Musenalmanach werden die Bierbaum, Hartleben, Dehmel,
Flaischlen usw. unter Namenaufruf scharf abgekanzelt, woraus man nebenbei
sieht, daß die Dichter, wenn sie untereinander handgemein werden, mindestens
nicht höflicher sind, als es die hier zugleich mit abgewandelte" Leipziger Schul-


Dichter und Kritiker

auch nicht immer der eine Teil dabei Dichter nennt. Fast das meiste, was
heute als Lyrik auf den Markt gebracht wird, hat polemischen Inhalt. Sind
die Dichter jung, so lieben sie es besonders, ihre Kritiker als Schulmeister zu
bezeichnen. Sie haben damit insofern Recht, als diese gewöhnlich mehr gelernt
haben als sie selbst, die vielleicht etwas früh aus der Schule genommen worden
und wohl auch einst hinter die Schule gelaufen sind. So ist denn die Folge
davon,, daß die einen nichts können als Verse machen, und die andern vermöge
ihrer bessern Kenntnis der Vergangenheit manchmal meinen, solche Verse hätte
man früher viel besser gemacht, und diese seien das Drucken nicht wert. Wenn
sich die Kritiker gewöhnt haben, in der Vergangenheit auch mit dem Herzen zu
lesen, so ist kaum anzunehmen, daß sie sich nicht mehr freuen sollten, unter
ihren Zeitgenossen guten Dichtern zu begegnen, als schlechten. Vielleicht aber
sind sie voreingenommen und beschwert durch die Last der Tradition? Gewiß
nicht, wenn ihr Blick nur weit genug reicht, denn das Vergangne ist im einzelnen
so verschieden, daß es Beispiele, Analogien, Muster hergiebt für alles, was sich
nur in diesem Bereiche ähnliches wieder zeigen kann. Ein Kritiker, wie er
sein soll, wird andrerseits kein besondres Bedürfnis fühlen, den lebenden
Dichter zu schulmeistern. Wenn es möglich ist, möchte er ihn genießen, wie
es alle andern Menschen zu thun wünschen, jedenfalls aber will er ihn ver¬
stehen als geistige Erscheinung der Zeit, also das thun, was später der
Litteraturhistoriker thut, wenn der es auch bei den meisten dieser Dichter nicht
mehr nötig haben wird, weil sie bald vergessen sein werden. Um so mehr
Hütten es ihm solche zu danken, daß er durch die Aufmerksamkeit, die er ihnen
schenkt, ihr Andenken wenigstens vorläufig bei den Zeitgenossen erhält.

Diese Gedanken kamen mir beim Lesen eines starken Quartbandes, den
Wilhelm Arme als Deutschen Musenalmanach für das Jahr 1897
herausgegeben hat mit dem Untertitel: „Blätter neuer deutscher Litteratur und
Kunst" und einem Motto nach Herder: „Poesie ist die Muttersprache des
menschlichen Geschlechts" (Leipzig und Wien, Litterarische Anstalt, Inhaber:
Schulze). Es ist ein hoher Name und ein vornehmes Banner, unter dem sich
hier fünfunddreißig Dichter und Schriftsteller mit ihren Beiträgen zusammen¬
gefunden haben- An die gute Vergangenheit erinnert es auch, daß die Gegenden
Deutschlands hervorgehoben werden, aus denen die Dichter stammen, daß Wert
gelegt wird auf das Natürliche, am Boden haftende, daß der „Moderne" mit
ihren fremden Rattenfängern, Ibsen, Björnson und den französischen Impressio¬
nisten und Symbolisten ausdrücklich abgesagt wird. Mit den Modernen hatte
sich der Herausgeber früher in ähnlichen Sammetbänder zusammengefunden.
In dem neuen Musenalmanach werden die Bierbaum, Hartleben, Dehmel,
Flaischlen usw. unter Namenaufruf scharf abgekanzelt, woraus man nebenbei
sieht, daß die Dichter, wenn sie untereinander handgemein werden, mindestens
nicht höflicher sind, als es die hier zugleich mit abgewandelte» Leipziger Schul-


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[0142] Dichter und Kritiker auch nicht immer der eine Teil dabei Dichter nennt. Fast das meiste, was heute als Lyrik auf den Markt gebracht wird, hat polemischen Inhalt. Sind die Dichter jung, so lieben sie es besonders, ihre Kritiker als Schulmeister zu bezeichnen. Sie haben damit insofern Recht, als diese gewöhnlich mehr gelernt haben als sie selbst, die vielleicht etwas früh aus der Schule genommen worden und wohl auch einst hinter die Schule gelaufen sind. So ist denn die Folge davon,, daß die einen nichts können als Verse machen, und die andern vermöge ihrer bessern Kenntnis der Vergangenheit manchmal meinen, solche Verse hätte man früher viel besser gemacht, und diese seien das Drucken nicht wert. Wenn sich die Kritiker gewöhnt haben, in der Vergangenheit auch mit dem Herzen zu lesen, so ist kaum anzunehmen, daß sie sich nicht mehr freuen sollten, unter ihren Zeitgenossen guten Dichtern zu begegnen, als schlechten. Vielleicht aber sind sie voreingenommen und beschwert durch die Last der Tradition? Gewiß nicht, wenn ihr Blick nur weit genug reicht, denn das Vergangne ist im einzelnen so verschieden, daß es Beispiele, Analogien, Muster hergiebt für alles, was sich nur in diesem Bereiche ähnliches wieder zeigen kann. Ein Kritiker, wie er sein soll, wird andrerseits kein besondres Bedürfnis fühlen, den lebenden Dichter zu schulmeistern. Wenn es möglich ist, möchte er ihn genießen, wie es alle andern Menschen zu thun wünschen, jedenfalls aber will er ihn ver¬ stehen als geistige Erscheinung der Zeit, also das thun, was später der Litteraturhistoriker thut, wenn der es auch bei den meisten dieser Dichter nicht mehr nötig haben wird, weil sie bald vergessen sein werden. Um so mehr Hütten es ihm solche zu danken, daß er durch die Aufmerksamkeit, die er ihnen schenkt, ihr Andenken wenigstens vorläufig bei den Zeitgenossen erhält. Diese Gedanken kamen mir beim Lesen eines starken Quartbandes, den Wilhelm Arme als Deutschen Musenalmanach für das Jahr 1897 herausgegeben hat mit dem Untertitel: „Blätter neuer deutscher Litteratur und Kunst" und einem Motto nach Herder: „Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts" (Leipzig und Wien, Litterarische Anstalt, Inhaber: Schulze). Es ist ein hoher Name und ein vornehmes Banner, unter dem sich hier fünfunddreißig Dichter und Schriftsteller mit ihren Beiträgen zusammen¬ gefunden haben- An die gute Vergangenheit erinnert es auch, daß die Gegenden Deutschlands hervorgehoben werden, aus denen die Dichter stammen, daß Wert gelegt wird auf das Natürliche, am Boden haftende, daß der „Moderne" mit ihren fremden Rattenfängern, Ibsen, Björnson und den französischen Impressio¬ nisten und Symbolisten ausdrücklich abgesagt wird. Mit den Modernen hatte sich der Herausgeber früher in ähnlichen Sammetbänder zusammengefunden. In dem neuen Musenalmanach werden die Bierbaum, Hartleben, Dehmel, Flaischlen usw. unter Namenaufruf scharf abgekanzelt, woraus man nebenbei sieht, daß die Dichter, wenn sie untereinander handgemein werden, mindestens nicht höflicher sind, als es die hier zugleich mit abgewandelte» Leipziger Schul-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/142>, abgerufen am 24.07.2024.