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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Lazzaroni

des Proletariats, mit offnen oder durch Bretter verrammelten Fensterhöhlen,
in einem Schmutz, der jeder Beschreibung spottet, zerfallen diese modernen
Ruinen, ein Bild hoffnungsloser Verwahrlosung. Unweit dieser Stätte der
UnWürde erheben sich in der Straße mit dem stolzen Namen: Ve-uti Lsttenibrs
die modernen Prachtbauten des Kriegs- und Finanzministeriums. Natürlich
wuchert das Lcizzarvnitum am furchtbarsten in den großen Städten, und nach
Süden hin geht mit der zunehmenden Wärme und zunehmenden Armut die
Gleichgiltigkeit gegen äußere Würde mehr und mehr in die Breite. Manche
Vergnester in Sizilien, die trotz ihrer zehntausend Einwohner weder Wasser¬
leitung noch Brunnen haben und auf das Wasser angewiesen sind, das die
Maultiere aus dem Thale herausschleppen, sind ein großes Konglomerat von
Schmutz. Oft bleibt eine solche Stadt, die auf dem Berge liegt, dem Auge
lange verborgen. Es ist eine große erdfarbne Masse, die sich vom Gebirge
kaum abhebt. Die Weiber wasche" uur, wenn nach einem Regenguß das
Wasser in den Steinrinnen zur Seite der bergigen Straßen thalwärts strömt.
Dann beherrschen aber anch die gesäuberten Kleidungsstücke die Stufen der
Kathedrale und die Marktplatze. In dem milden Klima genügt dem Lazzarone
die dürftigste Kleidung. Aber bezeichnend für ihn ist nicht der Mangel,
sondern die Vernachlässigung, Verwahrlosung und Benutzung der Lumpen zur
Reklame. Die Lumpen werden getragen, bis sie vom Leibe fallen. Flicken
und Reinigen ist nicht standesgemäß. Im Gegenteil, man sieht Burschen, denen
die Lumpen ihrer abgetragnen Thcaterjacke uicht genügen. Sie haben die
seidne Deckschicht in parallelen Streifen losgeschnitten und tanzen in diesem
Kostüm in den tollsten Sprüngen vor dir her, daß die seidnen Flitter nach
allen Seiten hin auf und nieder flattern. Ein halbwüchsiger Bursche, ein
ständiger Ceriniverkäufer in der Galleria Umberto, erschien wochenlang in
einer Hose, deren Räte von der Hüfte bis zum Knöchel aufgetrennt waren.
Nur der untere Stepprand hielt das Gebäude noch zusammen, und bei
jedem Schritt klaffte die Wunde in ihrer ganzen Länge. Solche Zerlumpt¬
heit ist natürlich auf Eindruck berechnet; aber wie viel Schamlosigkeit und
innere Nacktheit, Faulheit und schließlich auch Dummheit der Berechnung liegt
solchen Erscheinungen zu Grunde!

Trotz solcher widerlichen Erfahrungen bleibt der Grundton unsrer Stim¬
mung doch tiefes Mitleid mit dem wirklichen Elend, das die Gassen aller
italienischen Städte mehr oder weniger füllt. Im dichten Wirbel des Straßen¬
lebens lebt die große Masse des Lazzaronitnms von der Kindheit bis zum
Grabe und zwackt von allen Erscheinungen des öffentlichen Lebens seinen be¬
scheidnen Teil zur Beruhigung des Magens und der Sinne ab. Wen aber
Krankheit und Unglück ereilt, der sinkt in diesem Getriebe von Stufe zu Stufe,
bis der Lazzarone, der einst drollige Purzelbäume schoß, schließlich auch körper¬
lich verkommen am Boden liegen bleibt, auf das Mitleid der Vorübergehenden


Lazzaroni

des Proletariats, mit offnen oder durch Bretter verrammelten Fensterhöhlen,
in einem Schmutz, der jeder Beschreibung spottet, zerfallen diese modernen
Ruinen, ein Bild hoffnungsloser Verwahrlosung. Unweit dieser Stätte der
UnWürde erheben sich in der Straße mit dem stolzen Namen: Ve-uti Lsttenibrs
die modernen Prachtbauten des Kriegs- und Finanzministeriums. Natürlich
wuchert das Lcizzarvnitum am furchtbarsten in den großen Städten, und nach
Süden hin geht mit der zunehmenden Wärme und zunehmenden Armut die
Gleichgiltigkeit gegen äußere Würde mehr und mehr in die Breite. Manche
Vergnester in Sizilien, die trotz ihrer zehntausend Einwohner weder Wasser¬
leitung noch Brunnen haben und auf das Wasser angewiesen sind, das die
Maultiere aus dem Thale herausschleppen, sind ein großes Konglomerat von
Schmutz. Oft bleibt eine solche Stadt, die auf dem Berge liegt, dem Auge
lange verborgen. Es ist eine große erdfarbne Masse, die sich vom Gebirge
kaum abhebt. Die Weiber wasche» uur, wenn nach einem Regenguß das
Wasser in den Steinrinnen zur Seite der bergigen Straßen thalwärts strömt.
Dann beherrschen aber anch die gesäuberten Kleidungsstücke die Stufen der
Kathedrale und die Marktplatze. In dem milden Klima genügt dem Lazzarone
die dürftigste Kleidung. Aber bezeichnend für ihn ist nicht der Mangel,
sondern die Vernachlässigung, Verwahrlosung und Benutzung der Lumpen zur
Reklame. Die Lumpen werden getragen, bis sie vom Leibe fallen. Flicken
und Reinigen ist nicht standesgemäß. Im Gegenteil, man sieht Burschen, denen
die Lumpen ihrer abgetragnen Thcaterjacke uicht genügen. Sie haben die
seidne Deckschicht in parallelen Streifen losgeschnitten und tanzen in diesem
Kostüm in den tollsten Sprüngen vor dir her, daß die seidnen Flitter nach
allen Seiten hin auf und nieder flattern. Ein halbwüchsiger Bursche, ein
ständiger Ceriniverkäufer in der Galleria Umberto, erschien wochenlang in
einer Hose, deren Räte von der Hüfte bis zum Knöchel aufgetrennt waren.
Nur der untere Stepprand hielt das Gebäude noch zusammen, und bei
jedem Schritt klaffte die Wunde in ihrer ganzen Länge. Solche Zerlumpt¬
heit ist natürlich auf Eindruck berechnet; aber wie viel Schamlosigkeit und
innere Nacktheit, Faulheit und schließlich auch Dummheit der Berechnung liegt
solchen Erscheinungen zu Grunde!

Trotz solcher widerlichen Erfahrungen bleibt der Grundton unsrer Stim¬
mung doch tiefes Mitleid mit dem wirklichen Elend, das die Gassen aller
italienischen Städte mehr oder weniger füllt. Im dichten Wirbel des Straßen¬
lebens lebt die große Masse des Lazzaronitnms von der Kindheit bis zum
Grabe und zwackt von allen Erscheinungen des öffentlichen Lebens seinen be¬
scheidnen Teil zur Beruhigung des Magens und der Sinne ab. Wen aber
Krankheit und Unglück ereilt, der sinkt in diesem Getriebe von Stufe zu Stufe,
bis der Lazzarone, der einst drollige Purzelbäume schoß, schließlich auch körper¬
lich verkommen am Boden liegen bleibt, auf das Mitleid der Vorübergehenden


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[0124] Lazzaroni des Proletariats, mit offnen oder durch Bretter verrammelten Fensterhöhlen, in einem Schmutz, der jeder Beschreibung spottet, zerfallen diese modernen Ruinen, ein Bild hoffnungsloser Verwahrlosung. Unweit dieser Stätte der UnWürde erheben sich in der Straße mit dem stolzen Namen: Ve-uti Lsttenibrs die modernen Prachtbauten des Kriegs- und Finanzministeriums. Natürlich wuchert das Lcizzarvnitum am furchtbarsten in den großen Städten, und nach Süden hin geht mit der zunehmenden Wärme und zunehmenden Armut die Gleichgiltigkeit gegen äußere Würde mehr und mehr in die Breite. Manche Vergnester in Sizilien, die trotz ihrer zehntausend Einwohner weder Wasser¬ leitung noch Brunnen haben und auf das Wasser angewiesen sind, das die Maultiere aus dem Thale herausschleppen, sind ein großes Konglomerat von Schmutz. Oft bleibt eine solche Stadt, die auf dem Berge liegt, dem Auge lange verborgen. Es ist eine große erdfarbne Masse, die sich vom Gebirge kaum abhebt. Die Weiber wasche» uur, wenn nach einem Regenguß das Wasser in den Steinrinnen zur Seite der bergigen Straßen thalwärts strömt. Dann beherrschen aber anch die gesäuberten Kleidungsstücke die Stufen der Kathedrale und die Marktplatze. In dem milden Klima genügt dem Lazzarone die dürftigste Kleidung. Aber bezeichnend für ihn ist nicht der Mangel, sondern die Vernachlässigung, Verwahrlosung und Benutzung der Lumpen zur Reklame. Die Lumpen werden getragen, bis sie vom Leibe fallen. Flicken und Reinigen ist nicht standesgemäß. Im Gegenteil, man sieht Burschen, denen die Lumpen ihrer abgetragnen Thcaterjacke uicht genügen. Sie haben die seidne Deckschicht in parallelen Streifen losgeschnitten und tanzen in diesem Kostüm in den tollsten Sprüngen vor dir her, daß die seidnen Flitter nach allen Seiten hin auf und nieder flattern. Ein halbwüchsiger Bursche, ein ständiger Ceriniverkäufer in der Galleria Umberto, erschien wochenlang in einer Hose, deren Räte von der Hüfte bis zum Knöchel aufgetrennt waren. Nur der untere Stepprand hielt das Gebäude noch zusammen, und bei jedem Schritt klaffte die Wunde in ihrer ganzen Länge. Solche Zerlumpt¬ heit ist natürlich auf Eindruck berechnet; aber wie viel Schamlosigkeit und innere Nacktheit, Faulheit und schließlich auch Dummheit der Berechnung liegt solchen Erscheinungen zu Grunde! Trotz solcher widerlichen Erfahrungen bleibt der Grundton unsrer Stim¬ mung doch tiefes Mitleid mit dem wirklichen Elend, das die Gassen aller italienischen Städte mehr oder weniger füllt. Im dichten Wirbel des Straßen¬ lebens lebt die große Masse des Lazzaronitnms von der Kindheit bis zum Grabe und zwackt von allen Erscheinungen des öffentlichen Lebens seinen be¬ scheidnen Teil zur Beruhigung des Magens und der Sinne ab. Wen aber Krankheit und Unglück ereilt, der sinkt in diesem Getriebe von Stufe zu Stufe, bis der Lazzarone, der einst drollige Purzelbäume schoß, schließlich auch körper¬ lich verkommen am Boden liegen bleibt, auf das Mitleid der Vorübergehenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/124>, abgerufen am 24.07.2024.