Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.Lazzaroni sie wolle auch einmal ein Glas Wein trinken wie die reichen Signori, und Andre vom Lazzaronitum unzertrennliche Begriffe sind Lumpen und Lazzaroni sie wolle auch einmal ein Glas Wein trinken wie die reichen Signori, und Andre vom Lazzaronitum unzertrennliche Begriffe sind Lumpen und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0123" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225709"/> <fw type="header" place="top"> Lazzaroni</fw><lb/> <p xml:id="ID_296" prev="#ID_295"> sie wolle auch einmal ein Glas Wein trinken wie die reichen Signori, und<lb/> zwar werde sie es thun auf das Wohl des gütigen Signore. Diese Frau,<lb/> die dem eigentlichen Lazzaronitum sern stand, hatte in fünf Minute,? drei<lb/> Register zur Verfügung, die handeltreibende, die jammernde und die schmeichelnde<lb/> Bettelei. Um wie viel mehr das wirkliche Lazzaronitum, das mit Krankheit<lb/> und Hunger kämpft! Während einer Heiligenfeier in einer Kathedrale inmitten<lb/> der dichtgedrängten Volksmenge umschlingt ein kleiner elender Junge den<lb/> Fremden und fleht weinend um eine Gabe. Seine Bitte wird erfüllt. Nach<lb/> einigen Minuten fühlt sich der Fremde in gleicher Weise bearbeitet und erblickt<lb/> dasselbe unglückliche Gesicht. Auf seine unwillige Bemerkung hat der Bube<lb/> die schlagfertige Antwort: Herr. Sie irren sich, das war mein Bruder, der<lb/> mir sehr ähnlich sieht! Um in dem Gedränge der Festfeier nicht die Aufmerk¬<lb/> samkeit auf sich zu lenken, giebt der Fremde noch einen Soldo. Aber nach<lb/> einer etwas längern Pause erscheint der Junge mit größter Seelenruhe zum<lb/> drittenmale und nimmt in diesem Falle den Katzenkopf ebenso ruhig hin wie<lb/> vorher das Geldstück. Er ist sich nur darüber klar, daß er diese Einnahme¬<lb/> quelle erschöpft hat, und setzt den Betrieb an andrer Stelle mit gleicher Gründ¬<lb/> lichkeit fort.</p><lb/> <p xml:id="ID_297" next="#ID_298"> Andre vom Lazzaronitum unzertrennliche Begriffe sind Lumpen und<lb/> Schmutz. Aber sicherlich hätte das Lazzaronitum mit all diesen unwürdigen Er¬<lb/> scheinungen das Volksleben uicht so tief durchdringen können, wenn nicht auch<lb/> die Natur günstige Bedingungen geschaffen hätte. Das menschenfreundliche<lb/> Klima wurde ein Fluch für das Volk, es lernte sich nicht nur in der Be¬<lb/> dürfnislosigkeit, sondern selbst im unwürdigsten Schmutz und in Lumpen be¬<lb/> haglich fühlen. Es ist wohl künstlerisch berechtigt und begreiflich, wenn ein<lb/> W. von Kaulbach durch einen niedlichen Betteljungen oder von Üchtritz<lb/> durch einen kleinen Pifferaro so begeistert wurden, daß sie diese Lazzaroni-<lb/> geftalten im Gemälde und in Terrakotta verewigten. Die angeborne Anmut eines<lb/> niedlichen Buben mit schwarzen Augen und Locken, die selbst den Schmutz und<lb/> die Lumpen siegreich überstrahlt, betrachtet in dem milden Sonnenglanze des<lb/> italienischen Himmels, wirkt versöhnend. Aber diese harmlose Auffassung auf<lb/> das gescnnmte Lazzaronitum auszudehnen ist uns heute nicht mehr möglich.<lb/> Welche furchtbare Kluft die Masse des Lazzaronitums von dem modern auf¬<lb/> strebenden Teile des Volkes trennt, beweisen am besten die jüngsten Stadt¬<lb/> viertel Roms, Neubauten aus der Zeit der jungen nationalen Hoffnungs¬<lb/> freudigkeit und der optimistischen Spekulation. Die im Sprunge errafften<lb/> Politischen Erfolge des Siegesjahres und die kraftvolle Bethätigung des<lb/> nationalen Gedankens hatten zu der Hoffnung verführt, das königliche Rom<lb/> werde in schnellem Aufschwünge das alte päpstliche in weiten Straßennetzen<lb/> einsargen. Der Zuzug unternehmungslustiger Bürger blieb aus, und in die<lb/> wohlfeilen Quartiere hielt das Lazzaronitum seinen Einzug. Als Riesenspeicher</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0123]
Lazzaroni
sie wolle auch einmal ein Glas Wein trinken wie die reichen Signori, und
zwar werde sie es thun auf das Wohl des gütigen Signore. Diese Frau,
die dem eigentlichen Lazzaronitum sern stand, hatte in fünf Minute,? drei
Register zur Verfügung, die handeltreibende, die jammernde und die schmeichelnde
Bettelei. Um wie viel mehr das wirkliche Lazzaronitum, das mit Krankheit
und Hunger kämpft! Während einer Heiligenfeier in einer Kathedrale inmitten
der dichtgedrängten Volksmenge umschlingt ein kleiner elender Junge den
Fremden und fleht weinend um eine Gabe. Seine Bitte wird erfüllt. Nach
einigen Minuten fühlt sich der Fremde in gleicher Weise bearbeitet und erblickt
dasselbe unglückliche Gesicht. Auf seine unwillige Bemerkung hat der Bube
die schlagfertige Antwort: Herr. Sie irren sich, das war mein Bruder, der
mir sehr ähnlich sieht! Um in dem Gedränge der Festfeier nicht die Aufmerk¬
samkeit auf sich zu lenken, giebt der Fremde noch einen Soldo. Aber nach
einer etwas längern Pause erscheint der Junge mit größter Seelenruhe zum
drittenmale und nimmt in diesem Falle den Katzenkopf ebenso ruhig hin wie
vorher das Geldstück. Er ist sich nur darüber klar, daß er diese Einnahme¬
quelle erschöpft hat, und setzt den Betrieb an andrer Stelle mit gleicher Gründ¬
lichkeit fort.
Andre vom Lazzaronitum unzertrennliche Begriffe sind Lumpen und
Schmutz. Aber sicherlich hätte das Lazzaronitum mit all diesen unwürdigen Er¬
scheinungen das Volksleben uicht so tief durchdringen können, wenn nicht auch
die Natur günstige Bedingungen geschaffen hätte. Das menschenfreundliche
Klima wurde ein Fluch für das Volk, es lernte sich nicht nur in der Be¬
dürfnislosigkeit, sondern selbst im unwürdigsten Schmutz und in Lumpen be¬
haglich fühlen. Es ist wohl künstlerisch berechtigt und begreiflich, wenn ein
W. von Kaulbach durch einen niedlichen Betteljungen oder von Üchtritz
durch einen kleinen Pifferaro so begeistert wurden, daß sie diese Lazzaroni-
geftalten im Gemälde und in Terrakotta verewigten. Die angeborne Anmut eines
niedlichen Buben mit schwarzen Augen und Locken, die selbst den Schmutz und
die Lumpen siegreich überstrahlt, betrachtet in dem milden Sonnenglanze des
italienischen Himmels, wirkt versöhnend. Aber diese harmlose Auffassung auf
das gescnnmte Lazzaronitum auszudehnen ist uns heute nicht mehr möglich.
Welche furchtbare Kluft die Masse des Lazzaronitums von dem modern auf¬
strebenden Teile des Volkes trennt, beweisen am besten die jüngsten Stadt¬
viertel Roms, Neubauten aus der Zeit der jungen nationalen Hoffnungs¬
freudigkeit und der optimistischen Spekulation. Die im Sprunge errafften
Politischen Erfolge des Siegesjahres und die kraftvolle Bethätigung des
nationalen Gedankens hatten zu der Hoffnung verführt, das königliche Rom
werde in schnellem Aufschwünge das alte päpstliche in weiten Straßennetzen
einsargen. Der Zuzug unternehmungslustiger Bürger blieb aus, und in die
wohlfeilen Quartiere hielt das Lazzaronitum seinen Einzug. Als Riesenspeicher
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