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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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LazM'oni

Wagenkasten ein Paar gebundner Hühner hervor, zum Erstaunen des ahnungs¬
losen Reisenden, der von der Terrasse des Klosters Camaldoli den Sonnenaufgang
bewunderte, während der Kutscher im Dorfe die Hühner kaufte, um sie bei der
Rückfahrt durchzuschmuggeln. Während die Beamten mit dem Missethäter
streng ins Gericht gehen, benutzen einige Jungen diesen Augenblick, um mit
ihren Päckchen durch das Thor in die Stadt zu schlüpfen. Einer wird ge¬
fangen und geohrfeigt, aber niemand aus dem Publikum kümmert sich um den
Jammernden. Solche Zufälle bringt das Geschäft eben mit sich.

Wie der jährliche Zug der Thunfische und Vögel, so gilt auch der
Fremdenschwarm dem italienischen Lazzaronitum als eine natürliche, vorteilhafte
Einrichtung, aus der Groß und Klein Gewinn zu ziehen sucht, wenn nicht in
Scheffeln, so doch mit Löffeln. Das gute Herz verleitet die Reisenden zunächst
unterschiedslos zu spenden, wo immer sich das Lazzaronitum an sie herandrängt;
denn der moderne Mensch schämt sich, vor den Augen der Elenden in vollen
Zügen zu genießen. Andrerseits hat sich das Lazzaronitum dem großen Reise¬
publikum, seinen Bedürfnissen und Schwächen allmählich so angepaßt, daß es
schwer ist, sich auch nur einigermaßen von dem aufdringlichen Angebot kleiner
Dienstleistungen freizuhalten. Je stärker der Fremdenverkehr ist und je flüchtiger
die Besucher sind, um so mehr blüht das Gewerbe der Ciceroni, von dem
gebildeten Fremdenführer, der das junge Ehepaar durch die Säle des Dogen¬
palastes mit deutschem, englischem oder französischem Kommentar geleitet, in
zahlreichen Schattirungen herab bis zum Betteljungen, der dem Fremden seine
Führung anbietet, sobald sich dieser nach einem Straßenschild umsieht.

In den schönen, von Niccolo Pisano zierlich geschmückten Marmor¬
kuppelball des Baptisteriums zu Pisa drängt sich ein Lazzarone mit dem
Fremden herein und bittet, ihm etwas Vorsingen zu dürfen. Über die Zurück¬
weisung überlegen lächelnd, tritt er einen Schritt zurück und sendet mit klang¬
voller Stimme einen Ton zur Höhe der Kuppel hinauf. Bald erkennt man
die lange geübte Praxis, zuletzt klingen vier hiuaufgesandte Töne als rauschender
langsam verhallender Akkord von oben wieder. Der Lazzarone sieht mit Genug¬
thuung, daß es dich freut, und streicht seine Centesimi mit dem Bewußtsein
ein, seine von dir bezweifelte Daseinsberechtigung glänzend bewiesen zu haben.

Während einer herrlichen Mondscheinfahrt von Salerno nach Amalfi auf
hohem Felspfade vou Bucht zu Bucht längs des Golfes steigen in den Städtchen
Vietri und Cetara fünf Freipasfagiere auf. Allerdings wagen sie es nicht, im
Wagen Platz zu nehmen. Zwei hocken auf dem Bock, die andern sitzen hinten
auf. Die Aufmerksamkeit des Reisenden wird zunächst von dem Genuß der
Landschaft und der lauen Nacht mit ihrem Limonenduft abgelenkt auf die
sonderbaren nächtlichen Reisebegleiter vor und hinter ihm. Aber diese Wege¬
lagerer haben sich uur zu harmlosen Wettbewerb vereinigt, um durch allerlei
Erzählungen und Kommentare zur Gegend von dem Fremden einige Cigarren


Grenzboten 111 1897 Is
LazM'oni

Wagenkasten ein Paar gebundner Hühner hervor, zum Erstaunen des ahnungs¬
losen Reisenden, der von der Terrasse des Klosters Camaldoli den Sonnenaufgang
bewunderte, während der Kutscher im Dorfe die Hühner kaufte, um sie bei der
Rückfahrt durchzuschmuggeln. Während die Beamten mit dem Missethäter
streng ins Gericht gehen, benutzen einige Jungen diesen Augenblick, um mit
ihren Päckchen durch das Thor in die Stadt zu schlüpfen. Einer wird ge¬
fangen und geohrfeigt, aber niemand aus dem Publikum kümmert sich um den
Jammernden. Solche Zufälle bringt das Geschäft eben mit sich.

Wie der jährliche Zug der Thunfische und Vögel, so gilt auch der
Fremdenschwarm dem italienischen Lazzaronitum als eine natürliche, vorteilhafte
Einrichtung, aus der Groß und Klein Gewinn zu ziehen sucht, wenn nicht in
Scheffeln, so doch mit Löffeln. Das gute Herz verleitet die Reisenden zunächst
unterschiedslos zu spenden, wo immer sich das Lazzaronitum an sie herandrängt;
denn der moderne Mensch schämt sich, vor den Augen der Elenden in vollen
Zügen zu genießen. Andrerseits hat sich das Lazzaronitum dem großen Reise¬
publikum, seinen Bedürfnissen und Schwächen allmählich so angepaßt, daß es
schwer ist, sich auch nur einigermaßen von dem aufdringlichen Angebot kleiner
Dienstleistungen freizuhalten. Je stärker der Fremdenverkehr ist und je flüchtiger
die Besucher sind, um so mehr blüht das Gewerbe der Ciceroni, von dem
gebildeten Fremdenführer, der das junge Ehepaar durch die Säle des Dogen¬
palastes mit deutschem, englischem oder französischem Kommentar geleitet, in
zahlreichen Schattirungen herab bis zum Betteljungen, der dem Fremden seine
Führung anbietet, sobald sich dieser nach einem Straßenschild umsieht.

In den schönen, von Niccolo Pisano zierlich geschmückten Marmor¬
kuppelball des Baptisteriums zu Pisa drängt sich ein Lazzarone mit dem
Fremden herein und bittet, ihm etwas Vorsingen zu dürfen. Über die Zurück¬
weisung überlegen lächelnd, tritt er einen Schritt zurück und sendet mit klang¬
voller Stimme einen Ton zur Höhe der Kuppel hinauf. Bald erkennt man
die lange geübte Praxis, zuletzt klingen vier hiuaufgesandte Töne als rauschender
langsam verhallender Akkord von oben wieder. Der Lazzarone sieht mit Genug¬
thuung, daß es dich freut, und streicht seine Centesimi mit dem Bewußtsein
ein, seine von dir bezweifelte Daseinsberechtigung glänzend bewiesen zu haben.

Während einer herrlichen Mondscheinfahrt von Salerno nach Amalfi auf
hohem Felspfade vou Bucht zu Bucht längs des Golfes steigen in den Städtchen
Vietri und Cetara fünf Freipasfagiere auf. Allerdings wagen sie es nicht, im
Wagen Platz zu nehmen. Zwei hocken auf dem Bock, die andern sitzen hinten
auf. Die Aufmerksamkeit des Reisenden wird zunächst von dem Genuß der
Landschaft und der lauen Nacht mit ihrem Limonenduft abgelenkt auf die
sonderbaren nächtlichen Reisebegleiter vor und hinter ihm. Aber diese Wege¬
lagerer haben sich uur zu harmlosen Wettbewerb vereinigt, um durch allerlei
Erzählungen und Kommentare zur Gegend von dem Fremden einige Cigarren


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[0121] LazM'oni Wagenkasten ein Paar gebundner Hühner hervor, zum Erstaunen des ahnungs¬ losen Reisenden, der von der Terrasse des Klosters Camaldoli den Sonnenaufgang bewunderte, während der Kutscher im Dorfe die Hühner kaufte, um sie bei der Rückfahrt durchzuschmuggeln. Während die Beamten mit dem Missethäter streng ins Gericht gehen, benutzen einige Jungen diesen Augenblick, um mit ihren Päckchen durch das Thor in die Stadt zu schlüpfen. Einer wird ge¬ fangen und geohrfeigt, aber niemand aus dem Publikum kümmert sich um den Jammernden. Solche Zufälle bringt das Geschäft eben mit sich. Wie der jährliche Zug der Thunfische und Vögel, so gilt auch der Fremdenschwarm dem italienischen Lazzaronitum als eine natürliche, vorteilhafte Einrichtung, aus der Groß und Klein Gewinn zu ziehen sucht, wenn nicht in Scheffeln, so doch mit Löffeln. Das gute Herz verleitet die Reisenden zunächst unterschiedslos zu spenden, wo immer sich das Lazzaronitum an sie herandrängt; denn der moderne Mensch schämt sich, vor den Augen der Elenden in vollen Zügen zu genießen. Andrerseits hat sich das Lazzaronitum dem großen Reise¬ publikum, seinen Bedürfnissen und Schwächen allmählich so angepaßt, daß es schwer ist, sich auch nur einigermaßen von dem aufdringlichen Angebot kleiner Dienstleistungen freizuhalten. Je stärker der Fremdenverkehr ist und je flüchtiger die Besucher sind, um so mehr blüht das Gewerbe der Ciceroni, von dem gebildeten Fremdenführer, der das junge Ehepaar durch die Säle des Dogen¬ palastes mit deutschem, englischem oder französischem Kommentar geleitet, in zahlreichen Schattirungen herab bis zum Betteljungen, der dem Fremden seine Führung anbietet, sobald sich dieser nach einem Straßenschild umsieht. In den schönen, von Niccolo Pisano zierlich geschmückten Marmor¬ kuppelball des Baptisteriums zu Pisa drängt sich ein Lazzarone mit dem Fremden herein und bittet, ihm etwas Vorsingen zu dürfen. Über die Zurück¬ weisung überlegen lächelnd, tritt er einen Schritt zurück und sendet mit klang¬ voller Stimme einen Ton zur Höhe der Kuppel hinauf. Bald erkennt man die lange geübte Praxis, zuletzt klingen vier hiuaufgesandte Töne als rauschender langsam verhallender Akkord von oben wieder. Der Lazzarone sieht mit Genug¬ thuung, daß es dich freut, und streicht seine Centesimi mit dem Bewußtsein ein, seine von dir bezweifelte Daseinsberechtigung glänzend bewiesen zu haben. Während einer herrlichen Mondscheinfahrt von Salerno nach Amalfi auf hohem Felspfade vou Bucht zu Bucht längs des Golfes steigen in den Städtchen Vietri und Cetara fünf Freipasfagiere auf. Allerdings wagen sie es nicht, im Wagen Platz zu nehmen. Zwei hocken auf dem Bock, die andern sitzen hinten auf. Die Aufmerksamkeit des Reisenden wird zunächst von dem Genuß der Landschaft und der lauen Nacht mit ihrem Limonenduft abgelenkt auf die sonderbaren nächtlichen Reisebegleiter vor und hinter ihm. Aber diese Wege¬ lagerer haben sich uur zu harmlosen Wettbewerb vereinigt, um durch allerlei Erzählungen und Kommentare zur Gegend von dem Fremden einige Cigarren Grenzboten 111 1897 Is

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/121>, abgerufen am 24.07.2024.