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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Der Personenwechsel in de" Reichsämtern

wird endlich einmal Zeit, daß sich das gebildete Bürgertum im Reiche darauf
besinnt, daß soziale Reformen nicht getrennt von der geschichtlichen Ent¬
wicklung, nicht ohne klar erkennbare, in ihren praktischen Folgen zu beur¬
teilende Ziele, nicht im Sinne einseitiger Doktrinäre und Modepolitiker, nicht
unter Verzicht auf die Gerechtigkeit gegen alle Stände und Klassen vom
Staate und seinem verantwortlichen Oberhaupte verfolgt werden können. Un¬
glaubliches ist in dieser Beziehung in den letzten Jahren in gebauten- und
ziellosen Politisiren, Drängen, Lärmen und Nörgeln geleistet worden, und
das nicht etwa bloß von den Sozialdemokraten und von den zur Unzufrieden¬
heit erzvgnen Arbeitern, sondern gerade von Männern in besserer Lage, in
Amt und Wurden, Professoren und Doktoren, Angehörigen des gebildeten
Mittelstandes überhaupt. Der Gedanke, daß in der praktischen Staatskunst
gewissenhaft jeder Schritt vorwärts und vollends öffentlich verkündete Ziele
auf ihre Wirkungen unter den heute gegebnen Verhältnissen, bei dem heute
vorhandnen Bildungsstande der Massen, bei den heute herrschenden Rechts-
uud Sittlichkeitsanschauungen des Volks geprüft werden müssen, scheint diesem
gebildeten Mittelstande in erschreckendem Maße verloren gegangen zu sein.
Kongresse von hervorragenden Vertretern der sozialen Bildung verlaufen seit
Jahren in zunehmendem Maße in nutzlosen Verhandlungen, ohne daß der
praktische Politiker, der ernsthaft die Förderung des Gemeinwohls und be¬
sonders des Wohls der arbeitenden Klassen verlangt, auch nur die geringste
Belehrung aus den weisen Reden und Gegenreden entnehmen könnte, was
die Herren eigentlich und wie sie es erreicht sehen wollen, ohne thatsächlich
das oberste zu unterst zu kehren, ohne den offenbarsten Umsturz unsers
ganzen Kulturlebens. Es ist doch wahrhaftig eine unverantwortliche Ober¬
flächlichkeit, wenn gebildete Männer den, der diesem Treiben entschieden absagt,
und sei es der Kaiser selbst, ohne weiteres der Verleugnung des sozialen Fort¬
schritts, des Umkippens, wie man zu sagen Pflegt, zu Gunsten des sozialen
Rückschritts zeihen. Auf Einzelheiten gehe" wir nicht ein, die Zukunft wird
noch genug Gelegenheit geben zum Kampf gegen die sozialpolitischen Über¬
treibungen, Einseitigkeiten, Ungerechtigkeiten und Ncirrheiten. Nur auf die
ungeheure Gefahr sei hingewiesen, die in dieser Haltung gerade des ge¬
bildeten Mittelstandes liegt, heute, wo der Kaiser auf ihn mehr als jemals
rechnen können sollte zur Abwehr der Nückschrittler. Die Leute verrennen
sich blind in verbitterte und verbitternde Opposition und erschweren die
Lösung der gewaltigen Aufgaben, die der Staatsleitung obliegen, bis zur Un¬
möglichkeit. Ernst genug hat der Kaiser in seiner jüngsten programmatischen
Äußerung in Bielefeld diesen Modepolitikern eine Lehre gegeben, aber eine
Geschichtsfülschung ist es, wenn man in die Äußerungen eine Verleugnung der
sozialreformatorischen Ziele legt, zu denen er sich vor sieben Jahren bekannt hat,
und zu deren Anbahnung er die Staaten der zivilisirten Welt aufgerufen hat.


Der Personenwechsel in de» Reichsämtern

wird endlich einmal Zeit, daß sich das gebildete Bürgertum im Reiche darauf
besinnt, daß soziale Reformen nicht getrennt von der geschichtlichen Ent¬
wicklung, nicht ohne klar erkennbare, in ihren praktischen Folgen zu beur¬
teilende Ziele, nicht im Sinne einseitiger Doktrinäre und Modepolitiker, nicht
unter Verzicht auf die Gerechtigkeit gegen alle Stände und Klassen vom
Staate und seinem verantwortlichen Oberhaupte verfolgt werden können. Un¬
glaubliches ist in dieser Beziehung in den letzten Jahren in gebauten- und
ziellosen Politisiren, Drängen, Lärmen und Nörgeln geleistet worden, und
das nicht etwa bloß von den Sozialdemokraten und von den zur Unzufrieden¬
heit erzvgnen Arbeitern, sondern gerade von Männern in besserer Lage, in
Amt und Wurden, Professoren und Doktoren, Angehörigen des gebildeten
Mittelstandes überhaupt. Der Gedanke, daß in der praktischen Staatskunst
gewissenhaft jeder Schritt vorwärts und vollends öffentlich verkündete Ziele
auf ihre Wirkungen unter den heute gegebnen Verhältnissen, bei dem heute
vorhandnen Bildungsstande der Massen, bei den heute herrschenden Rechts-
uud Sittlichkeitsanschauungen des Volks geprüft werden müssen, scheint diesem
gebildeten Mittelstande in erschreckendem Maße verloren gegangen zu sein.
Kongresse von hervorragenden Vertretern der sozialen Bildung verlaufen seit
Jahren in zunehmendem Maße in nutzlosen Verhandlungen, ohne daß der
praktische Politiker, der ernsthaft die Förderung des Gemeinwohls und be¬
sonders des Wohls der arbeitenden Klassen verlangt, auch nur die geringste
Belehrung aus den weisen Reden und Gegenreden entnehmen könnte, was
die Herren eigentlich und wie sie es erreicht sehen wollen, ohne thatsächlich
das oberste zu unterst zu kehren, ohne den offenbarsten Umsturz unsers
ganzen Kulturlebens. Es ist doch wahrhaftig eine unverantwortliche Ober¬
flächlichkeit, wenn gebildete Männer den, der diesem Treiben entschieden absagt,
und sei es der Kaiser selbst, ohne weiteres der Verleugnung des sozialen Fort¬
schritts, des Umkippens, wie man zu sagen Pflegt, zu Gunsten des sozialen
Rückschritts zeihen. Auf Einzelheiten gehe» wir nicht ein, die Zukunft wird
noch genug Gelegenheit geben zum Kampf gegen die sozialpolitischen Über¬
treibungen, Einseitigkeiten, Ungerechtigkeiten und Ncirrheiten. Nur auf die
ungeheure Gefahr sei hingewiesen, die in dieser Haltung gerade des ge¬
bildeten Mittelstandes liegt, heute, wo der Kaiser auf ihn mehr als jemals
rechnen können sollte zur Abwehr der Nückschrittler. Die Leute verrennen
sich blind in verbitterte und verbitternde Opposition und erschweren die
Lösung der gewaltigen Aufgaben, die der Staatsleitung obliegen, bis zur Un¬
möglichkeit. Ernst genug hat der Kaiser in seiner jüngsten programmatischen
Äußerung in Bielefeld diesen Modepolitikern eine Lehre gegeben, aber eine
Geschichtsfülschung ist es, wenn man in die Äußerungen eine Verleugnung der
sozialreformatorischen Ziele legt, zu denen er sich vor sieben Jahren bekannt hat,
und zu deren Anbahnung er die Staaten der zivilisirten Welt aufgerufen hat.


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[0012] Der Personenwechsel in de» Reichsämtern wird endlich einmal Zeit, daß sich das gebildete Bürgertum im Reiche darauf besinnt, daß soziale Reformen nicht getrennt von der geschichtlichen Ent¬ wicklung, nicht ohne klar erkennbare, in ihren praktischen Folgen zu beur¬ teilende Ziele, nicht im Sinne einseitiger Doktrinäre und Modepolitiker, nicht unter Verzicht auf die Gerechtigkeit gegen alle Stände und Klassen vom Staate und seinem verantwortlichen Oberhaupte verfolgt werden können. Un¬ glaubliches ist in dieser Beziehung in den letzten Jahren in gebauten- und ziellosen Politisiren, Drängen, Lärmen und Nörgeln geleistet worden, und das nicht etwa bloß von den Sozialdemokraten und von den zur Unzufrieden¬ heit erzvgnen Arbeitern, sondern gerade von Männern in besserer Lage, in Amt und Wurden, Professoren und Doktoren, Angehörigen des gebildeten Mittelstandes überhaupt. Der Gedanke, daß in der praktischen Staatskunst gewissenhaft jeder Schritt vorwärts und vollends öffentlich verkündete Ziele auf ihre Wirkungen unter den heute gegebnen Verhältnissen, bei dem heute vorhandnen Bildungsstande der Massen, bei den heute herrschenden Rechts- uud Sittlichkeitsanschauungen des Volks geprüft werden müssen, scheint diesem gebildeten Mittelstande in erschreckendem Maße verloren gegangen zu sein. Kongresse von hervorragenden Vertretern der sozialen Bildung verlaufen seit Jahren in zunehmendem Maße in nutzlosen Verhandlungen, ohne daß der praktische Politiker, der ernsthaft die Förderung des Gemeinwohls und be¬ sonders des Wohls der arbeitenden Klassen verlangt, auch nur die geringste Belehrung aus den weisen Reden und Gegenreden entnehmen könnte, was die Herren eigentlich und wie sie es erreicht sehen wollen, ohne thatsächlich das oberste zu unterst zu kehren, ohne den offenbarsten Umsturz unsers ganzen Kulturlebens. Es ist doch wahrhaftig eine unverantwortliche Ober¬ flächlichkeit, wenn gebildete Männer den, der diesem Treiben entschieden absagt, und sei es der Kaiser selbst, ohne weiteres der Verleugnung des sozialen Fort¬ schritts, des Umkippens, wie man zu sagen Pflegt, zu Gunsten des sozialen Rückschritts zeihen. Auf Einzelheiten gehe» wir nicht ein, die Zukunft wird noch genug Gelegenheit geben zum Kampf gegen die sozialpolitischen Über¬ treibungen, Einseitigkeiten, Ungerechtigkeiten und Ncirrheiten. Nur auf die ungeheure Gefahr sei hingewiesen, die in dieser Haltung gerade des ge¬ bildeten Mittelstandes liegt, heute, wo der Kaiser auf ihn mehr als jemals rechnen können sollte zur Abwehr der Nückschrittler. Die Leute verrennen sich blind in verbitterte und verbitternde Opposition und erschweren die Lösung der gewaltigen Aufgaben, die der Staatsleitung obliegen, bis zur Un¬ möglichkeit. Ernst genug hat der Kaiser in seiner jüngsten programmatischen Äußerung in Bielefeld diesen Modepolitikern eine Lehre gegeben, aber eine Geschichtsfülschung ist es, wenn man in die Äußerungen eine Verleugnung der sozialreformatorischen Ziele legt, zu denen er sich vor sieben Jahren bekannt hat, und zu deren Anbahnung er die Staaten der zivilisirten Welt aufgerufen hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/12>, abgerufen am 24.07.2024.