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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Zu den diesjährigen Raisermanövern

das immer nur so lange gilt, bis es von einem andern abgelöst oder durch
ein für das ganz unvorbereitete politische Verständnis natürlich unerwartet
kommendes Ereignis ack absuräuin geführt wird.

So hat sich in unserm Volke noch nicht das sichere Unterscheidungsver¬
mögen, der naive Instinkt für das wirkliche nationalstaatliche Interesse aus¬
bilden können, um das wir die Engländer und Franzosen beneiden. Allerdings
ist ein solches ausgesprochnes Nationalgefühl zum großen Teil das Ergebnis
mehrhnndertjühriger enger staatlicher Zusammengehörigkeit, aber doch nicht
allein und am allerwenigsten in so hohem Maße, daß man für gewisse Zustände
der öffentlichen Meinung in Deutschland eine ausreichende Entschuldigung darin
finden könnte. Auch eine besondre Anlage des Nationalcharakters spielt dabei
eine Rolle. Wir begegnen ihr fast bei allen andern Nationen, anch bei kleinern,
die erst in neuerer Zeit hervorgetreten sind, wie den Ungarn und sogar den
Bulgaren. Fast überall zeigt sich ein so allgemeines Verständnis für das
im gegebnen Augenblick politisch mögliche und ein so geschlossenes National¬
gefühl, wie es bei uns während der tausendjährigen Geschichte des deutschen
Reiches nur in einzelnen kurzen Zeiträumen hoher Spannung hervorgetreten ist.
Das deutsche Volk im allgemeinen, das lebende Geschlecht aber ganz besonders,
bedarf der Mittel und auch der Hilfe dazu, daß nicht gewisse Strömungen
Macht gewinnen und die kaum errungne Einheit des Reichs in Frage stellen.
Das einst von den Trügern der nationalen Bewegung in den dreißiger und
vierziger Jahren heiß ersehnte und auch vom Fürsten Bismarck als zweckmäßig
erachtete Mittel einer nationalen Vertretung hat sich bis jetzt nicht bewährt.
Solange der gegenwärtige Zustand unsrer Parteien anhält, wird auch der
Reichstag die verzweifelte Ähnlichkeit mit jenem Blasrohr, an dem das Loch
verbohrt war, beibehalten, und Änderungen des Wahlsystems, Gewährung von
Diäten und dergleichen würden hieran nichts bessern. Nur eine politische
Katastrophe, wie sie 1866 das preußische Abgeordnetenhaus im Nu auf einen
politisch praktischen Standpunkt stellte, könnte helfen.

Unter diesen Umständen ist es immerhin erfreulich, daß andre Kräfte thätig
sind, die das Band der Einheit fester um Reich und Volk schlingen. Ein
solcher Trost der Thatsachen thut wohl und ist nötig, wenn nicht bei dem
allgemeinen Durcheinander der Meinungen und Interessen, die notwendig eine
Abschwächung des nationalen Gedankens zur Folge haben müssen, anch dem
Besten das freudige Vertrauen auf die Zukunft unsers Volkes erlahmen soll.
In diesem Sinne sind die nachfolgenden Zeilen geschrieben, und sie dürften auch
eine Lücke ausfüllen, die von dem größten Teil unsrer Tagesschriften wegen
der Enge des Parteihorizonts oder auch aus Unverstand offen gelassen wird.

"Verhandlungen ohne Waffen sind wie Noten ohne Instrumente," hat
Friedrich der Große gesagt, und die Wahrheit dieses Satzes wird von allen
Einsichtigen begriffen, selbst von den am friedlichsten Gesinnten. Das Heer


Zu den diesjährigen Raisermanövern

das immer nur so lange gilt, bis es von einem andern abgelöst oder durch
ein für das ganz unvorbereitete politische Verständnis natürlich unerwartet
kommendes Ereignis ack absuräuin geführt wird.

So hat sich in unserm Volke noch nicht das sichere Unterscheidungsver¬
mögen, der naive Instinkt für das wirkliche nationalstaatliche Interesse aus¬
bilden können, um das wir die Engländer und Franzosen beneiden. Allerdings
ist ein solches ausgesprochnes Nationalgefühl zum großen Teil das Ergebnis
mehrhnndertjühriger enger staatlicher Zusammengehörigkeit, aber doch nicht
allein und am allerwenigsten in so hohem Maße, daß man für gewisse Zustände
der öffentlichen Meinung in Deutschland eine ausreichende Entschuldigung darin
finden könnte. Auch eine besondre Anlage des Nationalcharakters spielt dabei
eine Rolle. Wir begegnen ihr fast bei allen andern Nationen, anch bei kleinern,
die erst in neuerer Zeit hervorgetreten sind, wie den Ungarn und sogar den
Bulgaren. Fast überall zeigt sich ein so allgemeines Verständnis für das
im gegebnen Augenblick politisch mögliche und ein so geschlossenes National¬
gefühl, wie es bei uns während der tausendjährigen Geschichte des deutschen
Reiches nur in einzelnen kurzen Zeiträumen hoher Spannung hervorgetreten ist.
Das deutsche Volk im allgemeinen, das lebende Geschlecht aber ganz besonders,
bedarf der Mittel und auch der Hilfe dazu, daß nicht gewisse Strömungen
Macht gewinnen und die kaum errungne Einheit des Reichs in Frage stellen.
Das einst von den Trügern der nationalen Bewegung in den dreißiger und
vierziger Jahren heiß ersehnte und auch vom Fürsten Bismarck als zweckmäßig
erachtete Mittel einer nationalen Vertretung hat sich bis jetzt nicht bewährt.
Solange der gegenwärtige Zustand unsrer Parteien anhält, wird auch der
Reichstag die verzweifelte Ähnlichkeit mit jenem Blasrohr, an dem das Loch
verbohrt war, beibehalten, und Änderungen des Wahlsystems, Gewährung von
Diäten und dergleichen würden hieran nichts bessern. Nur eine politische
Katastrophe, wie sie 1866 das preußische Abgeordnetenhaus im Nu auf einen
politisch praktischen Standpunkt stellte, könnte helfen.

Unter diesen Umständen ist es immerhin erfreulich, daß andre Kräfte thätig
sind, die das Band der Einheit fester um Reich und Volk schlingen. Ein
solcher Trost der Thatsachen thut wohl und ist nötig, wenn nicht bei dem
allgemeinen Durcheinander der Meinungen und Interessen, die notwendig eine
Abschwächung des nationalen Gedankens zur Folge haben müssen, anch dem
Besten das freudige Vertrauen auf die Zukunft unsers Volkes erlahmen soll.
In diesem Sinne sind die nachfolgenden Zeilen geschrieben, und sie dürften auch
eine Lücke ausfüllen, die von dem größten Teil unsrer Tagesschriften wegen
der Enge des Parteihorizonts oder auch aus Unverstand offen gelassen wird.

„Verhandlungen ohne Waffen sind wie Noten ohne Instrumente," hat
Friedrich der Große gesagt, und die Wahrheit dieses Satzes wird von allen
Einsichtigen begriffen, selbst von den am friedlichsten Gesinnten. Das Heer


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[0106] Zu den diesjährigen Raisermanövern das immer nur so lange gilt, bis es von einem andern abgelöst oder durch ein für das ganz unvorbereitete politische Verständnis natürlich unerwartet kommendes Ereignis ack absuräuin geführt wird. So hat sich in unserm Volke noch nicht das sichere Unterscheidungsver¬ mögen, der naive Instinkt für das wirkliche nationalstaatliche Interesse aus¬ bilden können, um das wir die Engländer und Franzosen beneiden. Allerdings ist ein solches ausgesprochnes Nationalgefühl zum großen Teil das Ergebnis mehrhnndertjühriger enger staatlicher Zusammengehörigkeit, aber doch nicht allein und am allerwenigsten in so hohem Maße, daß man für gewisse Zustände der öffentlichen Meinung in Deutschland eine ausreichende Entschuldigung darin finden könnte. Auch eine besondre Anlage des Nationalcharakters spielt dabei eine Rolle. Wir begegnen ihr fast bei allen andern Nationen, anch bei kleinern, die erst in neuerer Zeit hervorgetreten sind, wie den Ungarn und sogar den Bulgaren. Fast überall zeigt sich ein so allgemeines Verständnis für das im gegebnen Augenblick politisch mögliche und ein so geschlossenes National¬ gefühl, wie es bei uns während der tausendjährigen Geschichte des deutschen Reiches nur in einzelnen kurzen Zeiträumen hoher Spannung hervorgetreten ist. Das deutsche Volk im allgemeinen, das lebende Geschlecht aber ganz besonders, bedarf der Mittel und auch der Hilfe dazu, daß nicht gewisse Strömungen Macht gewinnen und die kaum errungne Einheit des Reichs in Frage stellen. Das einst von den Trügern der nationalen Bewegung in den dreißiger und vierziger Jahren heiß ersehnte und auch vom Fürsten Bismarck als zweckmäßig erachtete Mittel einer nationalen Vertretung hat sich bis jetzt nicht bewährt. Solange der gegenwärtige Zustand unsrer Parteien anhält, wird auch der Reichstag die verzweifelte Ähnlichkeit mit jenem Blasrohr, an dem das Loch verbohrt war, beibehalten, und Änderungen des Wahlsystems, Gewährung von Diäten und dergleichen würden hieran nichts bessern. Nur eine politische Katastrophe, wie sie 1866 das preußische Abgeordnetenhaus im Nu auf einen politisch praktischen Standpunkt stellte, könnte helfen. Unter diesen Umständen ist es immerhin erfreulich, daß andre Kräfte thätig sind, die das Band der Einheit fester um Reich und Volk schlingen. Ein solcher Trost der Thatsachen thut wohl und ist nötig, wenn nicht bei dem allgemeinen Durcheinander der Meinungen und Interessen, die notwendig eine Abschwächung des nationalen Gedankens zur Folge haben müssen, anch dem Besten das freudige Vertrauen auf die Zukunft unsers Volkes erlahmen soll. In diesem Sinne sind die nachfolgenden Zeilen geschrieben, und sie dürften auch eine Lücke ausfüllen, die von dem größten Teil unsrer Tagesschriften wegen der Enge des Parteihorizonts oder auch aus Unverstand offen gelassen wird. „Verhandlungen ohne Waffen sind wie Noten ohne Instrumente," hat Friedrich der Große gesagt, und die Wahrheit dieses Satzes wird von allen Einsichtigen begriffen, selbst von den am friedlichsten Gesinnten. Das Heer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/106>, abgerufen am 29.12.2024.