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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Irrenärztliche Zeitfragen

Gerade bei diesen werden von gleich tüchtigen Sachverständigen bei der Be¬
gutachtung verschiedne Folgerungen gezogen. Der eine hält die Voraussetzungen
von § 51 des Strafgesetzbuchs für gegeben, der andre kann sich nicht dazu
entschließen. Dem Richter werden dabei die größten Schwierigkeiten bereitet.

Auch aus dem Studium der italienischen Gesetze geht übrigens hervor,
wie notwendig den Juristen einige psychiatrische Kenntnisse sind. Ohne richter¬
liche Vernehmung des zu Entmündigenden darf dort nie eine Entmündigung
ausgesprochen werden. Ob bei der Vernehmung eines in dem Verdacht der
Geisteskrankheit stehenden ein Sachverständiger zugezogen wird, ist -- befremd¬
licherweise -- in das Belieben des Richters gestellt; der Richter ist natürlich
an das Gutachten eines zugezvgnen Sachverständigen anch in Italien nicht
gebunden. Im strafrechtlichen Verfahren hat er den Grad der Geisteskrankheit
festzustellen, also zu entscheiden, ob Unzurechnungsfähigkeit oder verminderte
Zurechnungsfähigkeit vorliegt u. a. in. Die aus diesen Bestimmungen sich er¬
gebende und zweifellos notwendige Oberhoheit des Richters hat aber doch nur
dann thatsächlichen Wert, wenn der Jurist eine einigermaßen entsprechende
psychiatrische Vorbildung hat. Wie steht es damit in Italien? Und wie in
Deutschland? Ich möchte nicht falsch verstanden sein. Ich verlange nicht,
daß der Richter Jrrenheilkunde studire. Dazu hat er keine Zeit, es fehlt ihm
auch die nötige medizinische Grundbildung. Richter aber, die über psychiatrische
Dinge zu entscheiden haben, sollten wenigstens so weit unterrichtet sein, daß
sie psychiatrische Gutachten verstehen und die Tragweite psychiatrischer Rat¬
schläge beurteilen können.

Zum Schluß erwähne ich nur noch, daß in Italien das Gutachten eines
Familienrats gehört werden muß, ehe sich das Gericht mit der Einleitung
oder der Aufhebung einer Entmündigung befaßt, daß die Entmündigung durch
ein Kollegium, nicht durch einen Einzelrichter ausgesprochen wird, und daß
die Teilnahme der Staatsanwaltschaft am Entmttndigungsverfahren und an
der Führung der Vormundschaft ziemlich umfangreich ist. Ich sehe freilich
nicht recht ein, welche Vorteile es bringen sollte, wenn alles das auch bei uns
in Deutschland eingeführt würde. Aber das sind ja juristische Formsachen,
die uns Ärzten gleichgiltig sein können. Mit Freuden aber bestätige ich, daß
Schulz, im Gegensatz zu manchen seiner Amtsgenossen, den Fragen des Irren-
Wesens, die gerade jetzt das öffentliche Interesse beschäftigen, ganz vorurteils¬
los gegenüber steht. Wir Irrenärzte können uns daher von seiner Arbeit auch
Gewinn für die Sache unsrer Kranken versprechen.


Georg Ilberg


Grenzboten II 180711
Irrenärztliche Zeitfragen

Gerade bei diesen werden von gleich tüchtigen Sachverständigen bei der Be¬
gutachtung verschiedne Folgerungen gezogen. Der eine hält die Voraussetzungen
von § 51 des Strafgesetzbuchs für gegeben, der andre kann sich nicht dazu
entschließen. Dem Richter werden dabei die größten Schwierigkeiten bereitet.

Auch aus dem Studium der italienischen Gesetze geht übrigens hervor,
wie notwendig den Juristen einige psychiatrische Kenntnisse sind. Ohne richter¬
liche Vernehmung des zu Entmündigenden darf dort nie eine Entmündigung
ausgesprochen werden. Ob bei der Vernehmung eines in dem Verdacht der
Geisteskrankheit stehenden ein Sachverständiger zugezogen wird, ist — befremd¬
licherweise — in das Belieben des Richters gestellt; der Richter ist natürlich
an das Gutachten eines zugezvgnen Sachverständigen anch in Italien nicht
gebunden. Im strafrechtlichen Verfahren hat er den Grad der Geisteskrankheit
festzustellen, also zu entscheiden, ob Unzurechnungsfähigkeit oder verminderte
Zurechnungsfähigkeit vorliegt u. a. in. Die aus diesen Bestimmungen sich er¬
gebende und zweifellos notwendige Oberhoheit des Richters hat aber doch nur
dann thatsächlichen Wert, wenn der Jurist eine einigermaßen entsprechende
psychiatrische Vorbildung hat. Wie steht es damit in Italien? Und wie in
Deutschland? Ich möchte nicht falsch verstanden sein. Ich verlange nicht,
daß der Richter Jrrenheilkunde studire. Dazu hat er keine Zeit, es fehlt ihm
auch die nötige medizinische Grundbildung. Richter aber, die über psychiatrische
Dinge zu entscheiden haben, sollten wenigstens so weit unterrichtet sein, daß
sie psychiatrische Gutachten verstehen und die Tragweite psychiatrischer Rat¬
schläge beurteilen können.

Zum Schluß erwähne ich nur noch, daß in Italien das Gutachten eines
Familienrats gehört werden muß, ehe sich das Gericht mit der Einleitung
oder der Aufhebung einer Entmündigung befaßt, daß die Entmündigung durch
ein Kollegium, nicht durch einen Einzelrichter ausgesprochen wird, und daß
die Teilnahme der Staatsanwaltschaft am Entmttndigungsverfahren und an
der Führung der Vormundschaft ziemlich umfangreich ist. Ich sehe freilich
nicht recht ein, welche Vorteile es bringen sollte, wenn alles das auch bei uns
in Deutschland eingeführt würde. Aber das sind ja juristische Formsachen,
die uns Ärzten gleichgiltig sein können. Mit Freuden aber bestätige ich, daß
Schulz, im Gegensatz zu manchen seiner Amtsgenossen, den Fragen des Irren-
Wesens, die gerade jetzt das öffentliche Interesse beschäftigen, ganz vorurteils¬
los gegenüber steht. Wir Irrenärzte können uns daher von seiner Arbeit auch
Gewinn für die Sache unsrer Kranken versprechen.


Georg Ilberg


Grenzboten II 180711
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[0089] Irrenärztliche Zeitfragen Gerade bei diesen werden von gleich tüchtigen Sachverständigen bei der Be¬ gutachtung verschiedne Folgerungen gezogen. Der eine hält die Voraussetzungen von § 51 des Strafgesetzbuchs für gegeben, der andre kann sich nicht dazu entschließen. Dem Richter werden dabei die größten Schwierigkeiten bereitet. Auch aus dem Studium der italienischen Gesetze geht übrigens hervor, wie notwendig den Juristen einige psychiatrische Kenntnisse sind. Ohne richter¬ liche Vernehmung des zu Entmündigenden darf dort nie eine Entmündigung ausgesprochen werden. Ob bei der Vernehmung eines in dem Verdacht der Geisteskrankheit stehenden ein Sachverständiger zugezogen wird, ist — befremd¬ licherweise — in das Belieben des Richters gestellt; der Richter ist natürlich an das Gutachten eines zugezvgnen Sachverständigen anch in Italien nicht gebunden. Im strafrechtlichen Verfahren hat er den Grad der Geisteskrankheit festzustellen, also zu entscheiden, ob Unzurechnungsfähigkeit oder verminderte Zurechnungsfähigkeit vorliegt u. a. in. Die aus diesen Bestimmungen sich er¬ gebende und zweifellos notwendige Oberhoheit des Richters hat aber doch nur dann thatsächlichen Wert, wenn der Jurist eine einigermaßen entsprechende psychiatrische Vorbildung hat. Wie steht es damit in Italien? Und wie in Deutschland? Ich möchte nicht falsch verstanden sein. Ich verlange nicht, daß der Richter Jrrenheilkunde studire. Dazu hat er keine Zeit, es fehlt ihm auch die nötige medizinische Grundbildung. Richter aber, die über psychiatrische Dinge zu entscheiden haben, sollten wenigstens so weit unterrichtet sein, daß sie psychiatrische Gutachten verstehen und die Tragweite psychiatrischer Rat¬ schläge beurteilen können. Zum Schluß erwähne ich nur noch, daß in Italien das Gutachten eines Familienrats gehört werden muß, ehe sich das Gericht mit der Einleitung oder der Aufhebung einer Entmündigung befaßt, daß die Entmündigung durch ein Kollegium, nicht durch einen Einzelrichter ausgesprochen wird, und daß die Teilnahme der Staatsanwaltschaft am Entmttndigungsverfahren und an der Führung der Vormundschaft ziemlich umfangreich ist. Ich sehe freilich nicht recht ein, welche Vorteile es bringen sollte, wenn alles das auch bei uns in Deutschland eingeführt würde. Aber das sind ja juristische Formsachen, die uns Ärzten gleichgiltig sein können. Mit Freuden aber bestätige ich, daß Schulz, im Gegensatz zu manchen seiner Amtsgenossen, den Fragen des Irren- Wesens, die gerade jetzt das öffentliche Interesse beschäftigen, ganz vorurteils¬ los gegenüber steht. Wir Irrenärzte können uns daher von seiner Arbeit auch Gewinn für die Sache unsrer Kranken versprechen. Georg Ilberg Grenzboten II 180711

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/89>, abgerufen am 23.07.2024.