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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Irrenärztliche Zeitfragen

verpfänden oder veräußern, noch irgend ein andres Rechtsgeschäft vornehmen,
das den Kreis einfacher Verwaltungsmaßregeln überschreitet. Die strafrecht¬
liche Verfolgung eines Übelthäters ist in allen Strafgesetzgebungen davon ab¬
hängig gemacht, daß der Thäter zur Zeit der Begehung einer gesetzwidrigen
Handlung geistig gesund war. Der Geisteskranke gilt in allen Kulturstaaten für
unzurechnungsfähig. Von der deutschen und der französischen Strafgesetzgebung
unterscheidet sich aber die italienische und ebenso die dänische, schwedische und
spanische dadurch, daß sie uoch mit einer geminderten Zurechnungsfühigkeit
rechnet. Und zwar bestimmt der italienische Loclies xsimls eine Ermäßigung
der für die begangne That festgesetzten Strafe, wenn die Zurechnungsfähigkeit
nicht völlig ausgeschlossen, sondern nur geschmälert ist. Der Richter kann
dann anordnen, daß eine Freiheitsstrafe nicht in der Strafanstalt, sondern in
einer Aufsichtsanstalt (v-isa al oustoclig.), wo mildere Disziplin herrscht, ver¬
büßt wird. Der dort Verwahrte kann später, wenn die Gründe für Unter¬
bringung in der Aufsichtsanstalt wegfallen, in eine Strafanstalt gebracht werden,
genießt aber auch dort noch Rücksichten.

Ich wage nicht zu beurteilen, ob die Abgrenzung einer Geschäftsunfähigkeit
von der Entmündigung sehr empfehlenswert sei; das neue deutsche bürgerliche
Gesetzbuch bestimmt übrigens auch sür Geisteskranke ,die Vormundschaft, für
Geistesschwache die Pflegschaft. Ein unabweisbares Bedürfnis scheint mir
aber die Einführung der verminderten Zurechnungsfähigkeit zu sein. Ich
würde freilich, im Gegensatz zu Schultze, die Einführung besondrer, sorgfältig
zu erwägender Bestimmungen für erforderlich halten. Durch die Aufnahme
der verminderten Zurechnungsfähigkeit in das Gesetz würde die Möglichkeit
gegeben sein, manchen auf dem Grenzgebiet zwischen geistiger Gesundheit und
Krankheit stehenden am entsprechendsten zu bezeichnen und zu behandeln.
Unznrechnungsfühig ist selbstverständlich jeder ausgesprochen Geisteskranke, also
jeder, bei dem Verrücktheit, Paralyse, Schwachsinn, Melancholie, Manie, neu-
rasthenisches. hysterisches, epileptisches oder andres Jrrsein nachgewiesen ist.
Eine klaffende Lücke würde es ausfüllen, wenn für eine Reihe von Leicht¬
schwachsinnigen, von mäßig Degenerirten, von hysterisch, neurasthcnisch,
epileptisch oder anders Nervenkranken die verminderte Zurechnungsfähigkeit
ausgesprochen und ein besonders geregeltes Strafverfahren eingerichtet würde.
Sie kommen leichter mit dem Strafgesetz in Konflikt als Gesunde. Gehen
sie als unzurechnungsfähig ganz straffrei aus, so wird dadurch das öffent¬
liche Rechtsbewußtsein erschüttert. Sie sollen bestraft werden, aber es muß
dabei ihrer Neigung zu Verstimmungen, ihrer Reizbarkeit, ihrer unvoll¬
ständigen Einsicht, kurz ihrer Schwäche nach Möglichkeit Rechnung getragen
werden. Es wird sich, wie gesagt, nicht um allzuviel Fälle handeln, wo ein
Schwanken zwischen Unzurechnungsfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit besteht.
Aber gerade diese Fälle Pflegen Aufsehen und Beunruhigung zu erregen.


Irrenärztliche Zeitfragen

verpfänden oder veräußern, noch irgend ein andres Rechtsgeschäft vornehmen,
das den Kreis einfacher Verwaltungsmaßregeln überschreitet. Die strafrecht¬
liche Verfolgung eines Übelthäters ist in allen Strafgesetzgebungen davon ab¬
hängig gemacht, daß der Thäter zur Zeit der Begehung einer gesetzwidrigen
Handlung geistig gesund war. Der Geisteskranke gilt in allen Kulturstaaten für
unzurechnungsfähig. Von der deutschen und der französischen Strafgesetzgebung
unterscheidet sich aber die italienische und ebenso die dänische, schwedische und
spanische dadurch, daß sie uoch mit einer geminderten Zurechnungsfühigkeit
rechnet. Und zwar bestimmt der italienische Loclies xsimls eine Ermäßigung
der für die begangne That festgesetzten Strafe, wenn die Zurechnungsfähigkeit
nicht völlig ausgeschlossen, sondern nur geschmälert ist. Der Richter kann
dann anordnen, daß eine Freiheitsstrafe nicht in der Strafanstalt, sondern in
einer Aufsichtsanstalt (v-isa al oustoclig.), wo mildere Disziplin herrscht, ver¬
büßt wird. Der dort Verwahrte kann später, wenn die Gründe für Unter¬
bringung in der Aufsichtsanstalt wegfallen, in eine Strafanstalt gebracht werden,
genießt aber auch dort noch Rücksichten.

Ich wage nicht zu beurteilen, ob die Abgrenzung einer Geschäftsunfähigkeit
von der Entmündigung sehr empfehlenswert sei; das neue deutsche bürgerliche
Gesetzbuch bestimmt übrigens auch sür Geisteskranke ,die Vormundschaft, für
Geistesschwache die Pflegschaft. Ein unabweisbares Bedürfnis scheint mir
aber die Einführung der verminderten Zurechnungsfähigkeit zu sein. Ich
würde freilich, im Gegensatz zu Schultze, die Einführung besondrer, sorgfältig
zu erwägender Bestimmungen für erforderlich halten. Durch die Aufnahme
der verminderten Zurechnungsfähigkeit in das Gesetz würde die Möglichkeit
gegeben sein, manchen auf dem Grenzgebiet zwischen geistiger Gesundheit und
Krankheit stehenden am entsprechendsten zu bezeichnen und zu behandeln.
Unznrechnungsfühig ist selbstverständlich jeder ausgesprochen Geisteskranke, also
jeder, bei dem Verrücktheit, Paralyse, Schwachsinn, Melancholie, Manie, neu-
rasthenisches. hysterisches, epileptisches oder andres Jrrsein nachgewiesen ist.
Eine klaffende Lücke würde es ausfüllen, wenn für eine Reihe von Leicht¬
schwachsinnigen, von mäßig Degenerirten, von hysterisch, neurasthcnisch,
epileptisch oder anders Nervenkranken die verminderte Zurechnungsfähigkeit
ausgesprochen und ein besonders geregeltes Strafverfahren eingerichtet würde.
Sie kommen leichter mit dem Strafgesetz in Konflikt als Gesunde. Gehen
sie als unzurechnungsfähig ganz straffrei aus, so wird dadurch das öffent¬
liche Rechtsbewußtsein erschüttert. Sie sollen bestraft werden, aber es muß
dabei ihrer Neigung zu Verstimmungen, ihrer Reizbarkeit, ihrer unvoll¬
ständigen Einsicht, kurz ihrer Schwäche nach Möglichkeit Rechnung getragen
werden. Es wird sich, wie gesagt, nicht um allzuviel Fälle handeln, wo ein
Schwanken zwischen Unzurechnungsfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit besteht.
Aber gerade diese Fälle Pflegen Aufsehen und Beunruhigung zu erregen.


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[0088] Irrenärztliche Zeitfragen verpfänden oder veräußern, noch irgend ein andres Rechtsgeschäft vornehmen, das den Kreis einfacher Verwaltungsmaßregeln überschreitet. Die strafrecht¬ liche Verfolgung eines Übelthäters ist in allen Strafgesetzgebungen davon ab¬ hängig gemacht, daß der Thäter zur Zeit der Begehung einer gesetzwidrigen Handlung geistig gesund war. Der Geisteskranke gilt in allen Kulturstaaten für unzurechnungsfähig. Von der deutschen und der französischen Strafgesetzgebung unterscheidet sich aber die italienische und ebenso die dänische, schwedische und spanische dadurch, daß sie uoch mit einer geminderten Zurechnungsfühigkeit rechnet. Und zwar bestimmt der italienische Loclies xsimls eine Ermäßigung der für die begangne That festgesetzten Strafe, wenn die Zurechnungsfähigkeit nicht völlig ausgeschlossen, sondern nur geschmälert ist. Der Richter kann dann anordnen, daß eine Freiheitsstrafe nicht in der Strafanstalt, sondern in einer Aufsichtsanstalt (v-isa al oustoclig.), wo mildere Disziplin herrscht, ver¬ büßt wird. Der dort Verwahrte kann später, wenn die Gründe für Unter¬ bringung in der Aufsichtsanstalt wegfallen, in eine Strafanstalt gebracht werden, genießt aber auch dort noch Rücksichten. Ich wage nicht zu beurteilen, ob die Abgrenzung einer Geschäftsunfähigkeit von der Entmündigung sehr empfehlenswert sei; das neue deutsche bürgerliche Gesetzbuch bestimmt übrigens auch sür Geisteskranke ,die Vormundschaft, für Geistesschwache die Pflegschaft. Ein unabweisbares Bedürfnis scheint mir aber die Einführung der verminderten Zurechnungsfähigkeit zu sein. Ich würde freilich, im Gegensatz zu Schultze, die Einführung besondrer, sorgfältig zu erwägender Bestimmungen für erforderlich halten. Durch die Aufnahme der verminderten Zurechnungsfähigkeit in das Gesetz würde die Möglichkeit gegeben sein, manchen auf dem Grenzgebiet zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit stehenden am entsprechendsten zu bezeichnen und zu behandeln. Unznrechnungsfühig ist selbstverständlich jeder ausgesprochen Geisteskranke, also jeder, bei dem Verrücktheit, Paralyse, Schwachsinn, Melancholie, Manie, neu- rasthenisches. hysterisches, epileptisches oder andres Jrrsein nachgewiesen ist. Eine klaffende Lücke würde es ausfüllen, wenn für eine Reihe von Leicht¬ schwachsinnigen, von mäßig Degenerirten, von hysterisch, neurasthcnisch, epileptisch oder anders Nervenkranken die verminderte Zurechnungsfähigkeit ausgesprochen und ein besonders geregeltes Strafverfahren eingerichtet würde. Sie kommen leichter mit dem Strafgesetz in Konflikt als Gesunde. Gehen sie als unzurechnungsfähig ganz straffrei aus, so wird dadurch das öffent¬ liche Rechtsbewußtsein erschüttert. Sie sollen bestraft werden, aber es muß dabei ihrer Neigung zu Verstimmungen, ihrer Reizbarkeit, ihrer unvoll¬ ständigen Einsicht, kurz ihrer Schwäche nach Möglichkeit Rechnung getragen werden. Es wird sich, wie gesagt, nicht um allzuviel Fälle handeln, wo ein Schwanken zwischen Unzurechnungsfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit besteht. Aber gerade diese Fälle Pflegen Aufsehen und Beunruhigung zu erregen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/88>, abgerufen am 23.07.2024.