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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Deutsche Kolonisation

Zeit an keine geordnete Verwaltung zu denken ist. Diese verlotterten Ver¬
hältnisse, dazu die schwierige und außerordentlich mühevolle Urbarmachung
des Landes schließen eine Einwanderung im großen Stil, eine Massenein-
wanderung überhaupt aus; ein guter Kenner des Landes schätzt die Zahl der
Deutschen, die in allen südbrasilianischen Provinzen zusammen Aufnahme
finden könnten, auf höchstens achttausend jährlich. Eine weitere Schwierig¬
keit liegt darin, daß die Negierung die italienische Einwanderung begünstigt.
Der Italiener ist bei weitem bedürfnisloser als der Deutsche; bei der Kon¬
kurrenz in neuen Ansiedlungen ist es aber von Wichtigkeit, daß eine Fläche
von geringem Ertrage dann schon eine Familie der zwar minderwertigen, aber
bedürfnislosern Nasse trägt, wenn sie für die Existenz der stärkern noch nicht
ausreicht. Dazu kommt, daß das Zentrum der deutschen Entwicklung in Süd¬
amerika, die Provinz Rio Grande do Suk nur einen und zwar den denkbar
schlechtesten Zugang zum Ozean hat. Dieser Zugang ist die berüchtigte
Barre von Rio Grande, eine seichte Sandbank, die die Einfahrt zur Lagoa
dos Palos wegen der wechselnden Tiefe des Fahrwassers unsicher und gefähr¬
lich macht und vom Ozean her genährt wird. Nach Breitenbachs Bericht
ist es vorgekommen, daß außerhalb der Barre siebzig bis achtzig, innerhalb
fünfzig bis sechzig Schiffe auf Eintritt genügenden Wasserstandes gewartet
haben, und zwar nicht etwa einige Stunden und Tage, sondern viele
Wochen und selbst Monate lang. Nur kleine, flache Schiffe können die Barre
passiren und Rio Grande oder Porto Alegre erreichen; infolgedessen ist
ein Umladen aus den tiefgehenden Ozeandampfern in Montevideo oder Rio
Janeiro ganz unvermeidlich, was natürlich die Frachten wesentlich verteuert
und verlangsamt. Die Schwierigkeiten und Gefahren der Schiffahrt schnellen
die Preise derartig in die Höhe, daß Frachten von Montevideo nach Porto
Alegre ebenso hoch sind wie von Hamburg nach Montevideo. Die Versiche¬
rungsgesellschaften verlangen riesige Prämien, wenn sie überhaupt die Ver¬
sicherung nach Rio Grande übernehmen.^) Diese Umstände trage" wesentlich
dazu bei, daß die dorthin ausgeführten Judustricprvdukte sehr teuer werden,
und da auch die Arbeitslöhne hoch sind, so ist vorläufig wenig Hoffnung, daß
die Bodenerzeugnisse dieses Landes auf dem Weltmarkt mit den nordameri¬
kanischen, australischen oder indischen die Konkurrenz aushalten konnten. Die



Wir verweisen zur Unterrichtung über die Verhältnisse Brasiliens nuf das kleine Buch
"Die Provinz Rio Grande do Sui, Brasilien und die deutsche Auswanderung dahin" von
Dr. W. Breitenbach (Heidelberg, Karl Winters Universitätsbuchhandlung, 188V), besonders für
die Einwanderung junger Kaufleute ist das Land ganz ungeeignet. Bei den unsichern politischen
Verhältnissen wird die "Barrenfrage" wohl noch jetzt und auf lange hin auf dem gleichen Fleck
stehen. Von der Barre bis Porto Alegre sind Segelschiffe nicht selten noch einen Monat unter¬
wegs. Aber selbst die glücklichste Lösung der Barrenfrage würde unsre Hauvtbcoenken gegen
eine Besiedlung von Südbrasilien nicht zerstreuen.
Deutsche Kolonisation

Zeit an keine geordnete Verwaltung zu denken ist. Diese verlotterten Ver¬
hältnisse, dazu die schwierige und außerordentlich mühevolle Urbarmachung
des Landes schließen eine Einwanderung im großen Stil, eine Massenein-
wanderung überhaupt aus; ein guter Kenner des Landes schätzt die Zahl der
Deutschen, die in allen südbrasilianischen Provinzen zusammen Aufnahme
finden könnten, auf höchstens achttausend jährlich. Eine weitere Schwierig¬
keit liegt darin, daß die Negierung die italienische Einwanderung begünstigt.
Der Italiener ist bei weitem bedürfnisloser als der Deutsche; bei der Kon¬
kurrenz in neuen Ansiedlungen ist es aber von Wichtigkeit, daß eine Fläche
von geringem Ertrage dann schon eine Familie der zwar minderwertigen, aber
bedürfnislosern Nasse trägt, wenn sie für die Existenz der stärkern noch nicht
ausreicht. Dazu kommt, daß das Zentrum der deutschen Entwicklung in Süd¬
amerika, die Provinz Rio Grande do Suk nur einen und zwar den denkbar
schlechtesten Zugang zum Ozean hat. Dieser Zugang ist die berüchtigte
Barre von Rio Grande, eine seichte Sandbank, die die Einfahrt zur Lagoa
dos Palos wegen der wechselnden Tiefe des Fahrwassers unsicher und gefähr¬
lich macht und vom Ozean her genährt wird. Nach Breitenbachs Bericht
ist es vorgekommen, daß außerhalb der Barre siebzig bis achtzig, innerhalb
fünfzig bis sechzig Schiffe auf Eintritt genügenden Wasserstandes gewartet
haben, und zwar nicht etwa einige Stunden und Tage, sondern viele
Wochen und selbst Monate lang. Nur kleine, flache Schiffe können die Barre
passiren und Rio Grande oder Porto Alegre erreichen; infolgedessen ist
ein Umladen aus den tiefgehenden Ozeandampfern in Montevideo oder Rio
Janeiro ganz unvermeidlich, was natürlich die Frachten wesentlich verteuert
und verlangsamt. Die Schwierigkeiten und Gefahren der Schiffahrt schnellen
die Preise derartig in die Höhe, daß Frachten von Montevideo nach Porto
Alegre ebenso hoch sind wie von Hamburg nach Montevideo. Die Versiche¬
rungsgesellschaften verlangen riesige Prämien, wenn sie überhaupt die Ver¬
sicherung nach Rio Grande übernehmen.^) Diese Umstände trage» wesentlich
dazu bei, daß die dorthin ausgeführten Judustricprvdukte sehr teuer werden,
und da auch die Arbeitslöhne hoch sind, so ist vorläufig wenig Hoffnung, daß
die Bodenerzeugnisse dieses Landes auf dem Weltmarkt mit den nordameri¬
kanischen, australischen oder indischen die Konkurrenz aushalten konnten. Die



Wir verweisen zur Unterrichtung über die Verhältnisse Brasiliens nuf das kleine Buch
„Die Provinz Rio Grande do Sui, Brasilien und die deutsche Auswanderung dahin" von
Dr. W. Breitenbach (Heidelberg, Karl Winters Universitätsbuchhandlung, 188V), besonders für
die Einwanderung junger Kaufleute ist das Land ganz ungeeignet. Bei den unsichern politischen
Verhältnissen wird die „Barrenfrage" wohl noch jetzt und auf lange hin auf dem gleichen Fleck
stehen. Von der Barre bis Porto Alegre sind Segelschiffe nicht selten noch einen Monat unter¬
wegs. Aber selbst die glücklichste Lösung der Barrenfrage würde unsre Hauvtbcoenken gegen
eine Besiedlung von Südbrasilien nicht zerstreuen.
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[0074] Deutsche Kolonisation Zeit an keine geordnete Verwaltung zu denken ist. Diese verlotterten Ver¬ hältnisse, dazu die schwierige und außerordentlich mühevolle Urbarmachung des Landes schließen eine Einwanderung im großen Stil, eine Massenein- wanderung überhaupt aus; ein guter Kenner des Landes schätzt die Zahl der Deutschen, die in allen südbrasilianischen Provinzen zusammen Aufnahme finden könnten, auf höchstens achttausend jährlich. Eine weitere Schwierig¬ keit liegt darin, daß die Negierung die italienische Einwanderung begünstigt. Der Italiener ist bei weitem bedürfnisloser als der Deutsche; bei der Kon¬ kurrenz in neuen Ansiedlungen ist es aber von Wichtigkeit, daß eine Fläche von geringem Ertrage dann schon eine Familie der zwar minderwertigen, aber bedürfnislosern Nasse trägt, wenn sie für die Existenz der stärkern noch nicht ausreicht. Dazu kommt, daß das Zentrum der deutschen Entwicklung in Süd¬ amerika, die Provinz Rio Grande do Suk nur einen und zwar den denkbar schlechtesten Zugang zum Ozean hat. Dieser Zugang ist die berüchtigte Barre von Rio Grande, eine seichte Sandbank, die die Einfahrt zur Lagoa dos Palos wegen der wechselnden Tiefe des Fahrwassers unsicher und gefähr¬ lich macht und vom Ozean her genährt wird. Nach Breitenbachs Bericht ist es vorgekommen, daß außerhalb der Barre siebzig bis achtzig, innerhalb fünfzig bis sechzig Schiffe auf Eintritt genügenden Wasserstandes gewartet haben, und zwar nicht etwa einige Stunden und Tage, sondern viele Wochen und selbst Monate lang. Nur kleine, flache Schiffe können die Barre passiren und Rio Grande oder Porto Alegre erreichen; infolgedessen ist ein Umladen aus den tiefgehenden Ozeandampfern in Montevideo oder Rio Janeiro ganz unvermeidlich, was natürlich die Frachten wesentlich verteuert und verlangsamt. Die Schwierigkeiten und Gefahren der Schiffahrt schnellen die Preise derartig in die Höhe, daß Frachten von Montevideo nach Porto Alegre ebenso hoch sind wie von Hamburg nach Montevideo. Die Versiche¬ rungsgesellschaften verlangen riesige Prämien, wenn sie überhaupt die Ver¬ sicherung nach Rio Grande übernehmen.^) Diese Umstände trage» wesentlich dazu bei, daß die dorthin ausgeführten Judustricprvdukte sehr teuer werden, und da auch die Arbeitslöhne hoch sind, so ist vorläufig wenig Hoffnung, daß die Bodenerzeugnisse dieses Landes auf dem Weltmarkt mit den nordameri¬ kanischen, australischen oder indischen die Konkurrenz aushalten konnten. Die Wir verweisen zur Unterrichtung über die Verhältnisse Brasiliens nuf das kleine Buch „Die Provinz Rio Grande do Sui, Brasilien und die deutsche Auswanderung dahin" von Dr. W. Breitenbach (Heidelberg, Karl Winters Universitätsbuchhandlung, 188V), besonders für die Einwanderung junger Kaufleute ist das Land ganz ungeeignet. Bei den unsichern politischen Verhältnissen wird die „Barrenfrage" wohl noch jetzt und auf lange hin auf dem gleichen Fleck stehen. Von der Barre bis Porto Alegre sind Segelschiffe nicht selten noch einen Monat unter¬ wegs. Aber selbst die glücklichste Lösung der Barrenfrage würde unsre Hauvtbcoenken gegen eine Besiedlung von Südbrasilien nicht zerstreuen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/74>, abgerufen am 23.07.2024.