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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Arbeiterversicherung und Armenpflege

Ja die "Kirchengeschichte"! Es ist wahr, Thorheit, Eigensinn, Grausamkeit,
Heuchelei, alle Schwachheit und Tücke haben auf dem Boden der Religionen
und Kirchen ihre Orgien gefeiert. Aber das ist doch nur die eine Seite.
Denn "die Wenigen, die was davon erkannt," und die man deshalb "ge¬
kreuzigt und verbrannt," gehören doch sozusagen auch zur Geschichte der
Religion! Vielleicht begründen gerade sie erst recht jenen ungeheuern Herr-
schaftsansprnch, den die Religion an die Menschheit erhebt.

Summa: Der moderne Mensch findet in der modernen Welt die Religion
als geschichtliche Große; er soll also ihr Verständnis, wenn ihm daran ge¬
legen ist, in der Geschichte suchen. Was er dort finden wird, ist eine Fülle
großartiger Kämpfe um Licht und Wahrheit, ein nie erlöschendes oder er¬
müdendes Ringen sehlbarer und doch reiner Menschenherzen wider Selbstsucht,
Stumpfsinn und Schwärmerei. Ein unvergleichliches Schauspiel, und viel¬
leicht ein Schcinspiel, in dem auch die ewige Gottheit selber mitwirkt, es sei
hier dahingestellt, ob mehr als Dichter oder als handelnde Hauptperson.




Arbeiterversicherung und Armenpflege

as kaiserliche statistische Amt in Berlin hat kürzlich (im 2. Viertel¬
jahrsheft 1897) eine Bearbeitung der Ergebnisse der durch ein
Rundschreiben des Reichskanzlers vom 2". April 1894 veranstalteten
Erhebungen über die Einwirkung der Versichernngsgesetzgebung auf
die Armenpflege veröffentlicht. Die Frage an sich wie das Ergebnis
der Umfrage ist von so allgemeinem Interesse, daß eine kurze Be¬
sprechung der Sache auch unsern Lesern willkmnmen sein dürfte.

Schon im Jahre 1893 hatte Viktor Böhmert in einer Arbeit über die Er¬
gebnisse der Armenstatistik in den Jahren 1880, 1885 und 1890 in der Zeit¬
schrift des Königlich sächsischen statistischen Bureaus (Heft III und IV) dem "Einflns;
der neuern sozialen Gesetzgebung auf die Armenpflege" einen besondern Abschnitt
gewidmet, worin er die Einwirknng des am 1. Dezember 1884 in Kraft getretenen
Krankenversicherungsgesctzes und des seit dem 1. Oktober 1885 geltenden Unfall-
versichcrnugsgesetzes auf die Armenpflege auf Grund der Armenstatistik bis 1890
sehr günstig beurteilte, während die Wirkungen des erst am 1. Januar 1391
eingeführten Jnvaliditäts- und Altersversichernngsgesetzes für ihn noch nicht in
Betracht kommen konnten. Es waren im Königreich Sachsen die vorübergehend
wegen Krankheit unterstützten Armen in den Jahren 1880, 1885 und 1390 von
10 941 auf 8426 und 6464 zurückgegangen, während die dauernd wegen Krankheit
Unterstützten -- o. h. die länger als dreizehn Wochen und sonnt länger, als die
Krankenkassen mit ihrer Hilfe eintreten, kranken Armen -- zugenommen hatten.


Arbeiterversicherung und Armenpflege

Ja die „Kirchengeschichte"! Es ist wahr, Thorheit, Eigensinn, Grausamkeit,
Heuchelei, alle Schwachheit und Tücke haben auf dem Boden der Religionen
und Kirchen ihre Orgien gefeiert. Aber das ist doch nur die eine Seite.
Denn „die Wenigen, die was davon erkannt," und die man deshalb „ge¬
kreuzigt und verbrannt," gehören doch sozusagen auch zur Geschichte der
Religion! Vielleicht begründen gerade sie erst recht jenen ungeheuern Herr-
schaftsansprnch, den die Religion an die Menschheit erhebt.

Summa: Der moderne Mensch findet in der modernen Welt die Religion
als geschichtliche Große; er soll also ihr Verständnis, wenn ihm daran ge¬
legen ist, in der Geschichte suchen. Was er dort finden wird, ist eine Fülle
großartiger Kämpfe um Licht und Wahrheit, ein nie erlöschendes oder er¬
müdendes Ringen sehlbarer und doch reiner Menschenherzen wider Selbstsucht,
Stumpfsinn und Schwärmerei. Ein unvergleichliches Schauspiel, und viel¬
leicht ein Schcinspiel, in dem auch die ewige Gottheit selber mitwirkt, es sei
hier dahingestellt, ob mehr als Dichter oder als handelnde Hauptperson.




Arbeiterversicherung und Armenpflege

as kaiserliche statistische Amt in Berlin hat kürzlich (im 2. Viertel¬
jahrsheft 1897) eine Bearbeitung der Ergebnisse der durch ein
Rundschreiben des Reichskanzlers vom 2». April 1894 veranstalteten
Erhebungen über die Einwirkung der Versichernngsgesetzgebung auf
die Armenpflege veröffentlicht. Die Frage an sich wie das Ergebnis
der Umfrage ist von so allgemeinem Interesse, daß eine kurze Be¬
sprechung der Sache auch unsern Lesern willkmnmen sein dürfte.

Schon im Jahre 1893 hatte Viktor Böhmert in einer Arbeit über die Er¬
gebnisse der Armenstatistik in den Jahren 1880, 1885 und 1890 in der Zeit¬
schrift des Königlich sächsischen statistischen Bureaus (Heft III und IV) dem „Einflns;
der neuern sozialen Gesetzgebung auf die Armenpflege" einen besondern Abschnitt
gewidmet, worin er die Einwirknng des am 1. Dezember 1884 in Kraft getretenen
Krankenversicherungsgesctzes und des seit dem 1. Oktober 1885 geltenden Unfall-
versichcrnugsgesetzes auf die Armenpflege auf Grund der Armenstatistik bis 1890
sehr günstig beurteilte, während die Wirkungen des erst am 1. Januar 1391
eingeführten Jnvaliditäts- und Altersversichernngsgesetzes für ihn noch nicht in
Betracht kommen konnten. Es waren im Königreich Sachsen die vorübergehend
wegen Krankheit unterstützten Armen in den Jahren 1880, 1885 und 1390 von
10 941 auf 8426 und 6464 zurückgegangen, während die dauernd wegen Krankheit
Unterstützten — o. h. die länger als dreizehn Wochen und sonnt länger, als die
Krankenkassen mit ihrer Hilfe eintreten, kranken Armen — zugenommen hatten.


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[0632] Arbeiterversicherung und Armenpflege Ja die „Kirchengeschichte"! Es ist wahr, Thorheit, Eigensinn, Grausamkeit, Heuchelei, alle Schwachheit und Tücke haben auf dem Boden der Religionen und Kirchen ihre Orgien gefeiert. Aber das ist doch nur die eine Seite. Denn „die Wenigen, die was davon erkannt," und die man deshalb „ge¬ kreuzigt und verbrannt," gehören doch sozusagen auch zur Geschichte der Religion! Vielleicht begründen gerade sie erst recht jenen ungeheuern Herr- schaftsansprnch, den die Religion an die Menschheit erhebt. Summa: Der moderne Mensch findet in der modernen Welt die Religion als geschichtliche Große; er soll also ihr Verständnis, wenn ihm daran ge¬ legen ist, in der Geschichte suchen. Was er dort finden wird, ist eine Fülle großartiger Kämpfe um Licht und Wahrheit, ein nie erlöschendes oder er¬ müdendes Ringen sehlbarer und doch reiner Menschenherzen wider Selbstsucht, Stumpfsinn und Schwärmerei. Ein unvergleichliches Schauspiel, und viel¬ leicht ein Schcinspiel, in dem auch die ewige Gottheit selber mitwirkt, es sei hier dahingestellt, ob mehr als Dichter oder als handelnde Hauptperson. Arbeiterversicherung und Armenpflege as kaiserliche statistische Amt in Berlin hat kürzlich (im 2. Viertel¬ jahrsheft 1897) eine Bearbeitung der Ergebnisse der durch ein Rundschreiben des Reichskanzlers vom 2». April 1894 veranstalteten Erhebungen über die Einwirkung der Versichernngsgesetzgebung auf die Armenpflege veröffentlicht. Die Frage an sich wie das Ergebnis der Umfrage ist von so allgemeinem Interesse, daß eine kurze Be¬ sprechung der Sache auch unsern Lesern willkmnmen sein dürfte. Schon im Jahre 1893 hatte Viktor Böhmert in einer Arbeit über die Er¬ gebnisse der Armenstatistik in den Jahren 1880, 1885 und 1890 in der Zeit¬ schrift des Königlich sächsischen statistischen Bureaus (Heft III und IV) dem „Einflns; der neuern sozialen Gesetzgebung auf die Armenpflege" einen besondern Abschnitt gewidmet, worin er die Einwirknng des am 1. Dezember 1884 in Kraft getretenen Krankenversicherungsgesctzes und des seit dem 1. Oktober 1885 geltenden Unfall- versichcrnugsgesetzes auf die Armenpflege auf Grund der Armenstatistik bis 1890 sehr günstig beurteilte, während die Wirkungen des erst am 1. Januar 1391 eingeführten Jnvaliditäts- und Altersversichernngsgesetzes für ihn noch nicht in Betracht kommen konnten. Es waren im Königreich Sachsen die vorübergehend wegen Krankheit unterstützten Armen in den Jahren 1880, 1885 und 1390 von 10 941 auf 8426 und 6464 zurückgegangen, während die dauernd wegen Krankheit Unterstützten — o. h. die länger als dreizehn Wochen und sonnt länger, als die Krankenkassen mit ihrer Hilfe eintreten, kranken Armen — zugenommen hatten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/632>, abgerufen am 23.07.2024.