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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Religion und Geschichte

leicht unmöglich es für den Laien ist, auch nur richtig zu sehen und zu beob¬
achten. Gleichwohl ist der wissenschaftliche Erklärer hier im Vorteile. Das
Naturgebiet hat eine augenscheinliche und wesentliche Einfachheit der Erschei¬
nungen und ihres Zusammenhangs voraus. Da ist eine größere Genauigkeit
der Forschung und leichtere Mitteilung der Ergebnisse möglich. Jede große
geschichtliche Erscheinung aber ruht auf so unermeßlichen und schließlich so un¬
auffindbaren Voraussetzungen, es tritt auch fortwährend im Laufe der beob¬
achteten Entwicklung so viel nnberechnet und unberechenbar Neues auf, daß
es da noch viel schwerer ist, den Problemen auf den Grund zu kommen, als
den Naturproblemen gegenüber. Wie viel Vorteil gewährt der Naturforschung
das eine Gesetz von der Erhaltung der Kraft! Wie sehr erschwert die Ge¬
schichtsforschung das Auftauchen immer neuer Kräfte, Ideen und Persönlich¬
keiten !

Nicht nur der Historiker und der für Geschichte interessirte Laie empfindet
die Schwierigkeit geschichtlicher Erkenntnis, auch die geschichtlichen Größen selbst
leiden darunter. Die Religionen z. B. tragen ihre Vergangenheit mit sich als
schwere Last, obgleich sie andrerseits auch wieder von ihr getragen werden.
Jeder religiöse Mensch empfindet den Druck der Vergangenheit, er mag
konservativ oder revolutionär zu ihr stehen, sich ihr unterwerfen (etwa van
s-wriliolo iutöllc!(zw8) oder sich wider sie auflehnen. Man denke an das Dogma
der Dreieinigkeit in der christlichen Religion. Der Geschichtskundige weiß, daß
es keineswegs ans eine rein erhebende Weise zu stände gekommen ist. Als
eine "Irrlehre" es abzulehnen geht aber ebenso wenig an, denn in der That
hat sich die christliche Gottheit in den drei Instanzen Vater, Sohn und Geist
entfaltet, das lehren die authentischen Urkunden. So bleibt die Aufgabe, sich
mit diesem geschichtlichen Thatbestand auseinanderzusetzen, für jeden, der auf
dem Voden der christlichen Religion stehe" will. Wie vou den Dogmen, so
gilt ähnliches auch vou Verfassung, Kultus und Sitte.

Zweierlei aber erschwert es dem modernen Menschen noch besonders, der
Religion als geschichtlicher Größe gerecht zu werden: die materialistische Ge¬
schichtsbetrachtung und die historische Kritik.

Die materialistische Geschichtsbetrachtung führt alles geistige Leben auf
Physische und wirtschaftliche Vorgänge zurück, deren naturnotwendiges Produkt
es sei. Zum Glück ist diese Geschichtsauffassung nicht allgemein anerkannt.
Im Gegenteil, unsre deutschen Historiker bekämpfen sie lebhaft. Immerhin
wird die materialistische Geschichtsbetrachtung nicht nur von der Sozialdemokratin
sondern in den einseitig naturwissenschaftlich gebildeten Kreisen bewußt und
unbewußt weiter geübt werden. Und das ist begreiflich. Denn es ist viel
Wahres an ihr. Sie bedeutet einen großen Fortschritt über die Zeit hinaus,
wo die Weltgeschichte eine Geschichte der Könige und der Kriege war, unter
Berücksichtigung einiger großen Genien, die beim besten Willen nicht zu um-


Religion und Geschichte

leicht unmöglich es für den Laien ist, auch nur richtig zu sehen und zu beob¬
achten. Gleichwohl ist der wissenschaftliche Erklärer hier im Vorteile. Das
Naturgebiet hat eine augenscheinliche und wesentliche Einfachheit der Erschei¬
nungen und ihres Zusammenhangs voraus. Da ist eine größere Genauigkeit
der Forschung und leichtere Mitteilung der Ergebnisse möglich. Jede große
geschichtliche Erscheinung aber ruht auf so unermeßlichen und schließlich so un¬
auffindbaren Voraussetzungen, es tritt auch fortwährend im Laufe der beob¬
achteten Entwicklung so viel nnberechnet und unberechenbar Neues auf, daß
es da noch viel schwerer ist, den Problemen auf den Grund zu kommen, als
den Naturproblemen gegenüber. Wie viel Vorteil gewährt der Naturforschung
das eine Gesetz von der Erhaltung der Kraft! Wie sehr erschwert die Ge¬
schichtsforschung das Auftauchen immer neuer Kräfte, Ideen und Persönlich¬
keiten !

Nicht nur der Historiker und der für Geschichte interessirte Laie empfindet
die Schwierigkeit geschichtlicher Erkenntnis, auch die geschichtlichen Größen selbst
leiden darunter. Die Religionen z. B. tragen ihre Vergangenheit mit sich als
schwere Last, obgleich sie andrerseits auch wieder von ihr getragen werden.
Jeder religiöse Mensch empfindet den Druck der Vergangenheit, er mag
konservativ oder revolutionär zu ihr stehen, sich ihr unterwerfen (etwa van
s-wriliolo iutöllc!(zw8) oder sich wider sie auflehnen. Man denke an das Dogma
der Dreieinigkeit in der christlichen Religion. Der Geschichtskundige weiß, daß
es keineswegs ans eine rein erhebende Weise zu stände gekommen ist. Als
eine „Irrlehre" es abzulehnen geht aber ebenso wenig an, denn in der That
hat sich die christliche Gottheit in den drei Instanzen Vater, Sohn und Geist
entfaltet, das lehren die authentischen Urkunden. So bleibt die Aufgabe, sich
mit diesem geschichtlichen Thatbestand auseinanderzusetzen, für jeden, der auf
dem Voden der christlichen Religion stehe» will. Wie vou den Dogmen, so
gilt ähnliches auch vou Verfassung, Kultus und Sitte.

Zweierlei aber erschwert es dem modernen Menschen noch besonders, der
Religion als geschichtlicher Größe gerecht zu werden: die materialistische Ge¬
schichtsbetrachtung und die historische Kritik.

Die materialistische Geschichtsbetrachtung führt alles geistige Leben auf
Physische und wirtschaftliche Vorgänge zurück, deren naturnotwendiges Produkt
es sei. Zum Glück ist diese Geschichtsauffassung nicht allgemein anerkannt.
Im Gegenteil, unsre deutschen Historiker bekämpfen sie lebhaft. Immerhin
wird die materialistische Geschichtsbetrachtung nicht nur von der Sozialdemokratin
sondern in den einseitig naturwissenschaftlich gebildeten Kreisen bewußt und
unbewußt weiter geübt werden. Und das ist begreiflich. Denn es ist viel
Wahres an ihr. Sie bedeutet einen großen Fortschritt über die Zeit hinaus,
wo die Weltgeschichte eine Geschichte der Könige und der Kriege war, unter
Berücksichtigung einiger großen Genien, die beim besten Willen nicht zu um-


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[0629] Religion und Geschichte leicht unmöglich es für den Laien ist, auch nur richtig zu sehen und zu beob¬ achten. Gleichwohl ist der wissenschaftliche Erklärer hier im Vorteile. Das Naturgebiet hat eine augenscheinliche und wesentliche Einfachheit der Erschei¬ nungen und ihres Zusammenhangs voraus. Da ist eine größere Genauigkeit der Forschung und leichtere Mitteilung der Ergebnisse möglich. Jede große geschichtliche Erscheinung aber ruht auf so unermeßlichen und schließlich so un¬ auffindbaren Voraussetzungen, es tritt auch fortwährend im Laufe der beob¬ achteten Entwicklung so viel nnberechnet und unberechenbar Neues auf, daß es da noch viel schwerer ist, den Problemen auf den Grund zu kommen, als den Naturproblemen gegenüber. Wie viel Vorteil gewährt der Naturforschung das eine Gesetz von der Erhaltung der Kraft! Wie sehr erschwert die Ge¬ schichtsforschung das Auftauchen immer neuer Kräfte, Ideen und Persönlich¬ keiten ! Nicht nur der Historiker und der für Geschichte interessirte Laie empfindet die Schwierigkeit geschichtlicher Erkenntnis, auch die geschichtlichen Größen selbst leiden darunter. Die Religionen z. B. tragen ihre Vergangenheit mit sich als schwere Last, obgleich sie andrerseits auch wieder von ihr getragen werden. Jeder religiöse Mensch empfindet den Druck der Vergangenheit, er mag konservativ oder revolutionär zu ihr stehen, sich ihr unterwerfen (etwa van s-wriliolo iutöllc!(zw8) oder sich wider sie auflehnen. Man denke an das Dogma der Dreieinigkeit in der christlichen Religion. Der Geschichtskundige weiß, daß es keineswegs ans eine rein erhebende Weise zu stände gekommen ist. Als eine „Irrlehre" es abzulehnen geht aber ebenso wenig an, denn in der That hat sich die christliche Gottheit in den drei Instanzen Vater, Sohn und Geist entfaltet, das lehren die authentischen Urkunden. So bleibt die Aufgabe, sich mit diesem geschichtlichen Thatbestand auseinanderzusetzen, für jeden, der auf dem Voden der christlichen Religion stehe» will. Wie vou den Dogmen, so gilt ähnliches auch vou Verfassung, Kultus und Sitte. Zweierlei aber erschwert es dem modernen Menschen noch besonders, der Religion als geschichtlicher Größe gerecht zu werden: die materialistische Ge¬ schichtsbetrachtung und die historische Kritik. Die materialistische Geschichtsbetrachtung führt alles geistige Leben auf Physische und wirtschaftliche Vorgänge zurück, deren naturnotwendiges Produkt es sei. Zum Glück ist diese Geschichtsauffassung nicht allgemein anerkannt. Im Gegenteil, unsre deutschen Historiker bekämpfen sie lebhaft. Immerhin wird die materialistische Geschichtsbetrachtung nicht nur von der Sozialdemokratin sondern in den einseitig naturwissenschaftlich gebildeten Kreisen bewußt und unbewußt weiter geübt werden. Und das ist begreiflich. Denn es ist viel Wahres an ihr. Sie bedeutet einen großen Fortschritt über die Zeit hinaus, wo die Weltgeschichte eine Geschichte der Könige und der Kriege war, unter Berücksichtigung einiger großen Genien, die beim besten Willen nicht zu um-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/629>, abgerufen am 23.07.2024.