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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Religion und Geschichte

Weite Kreise mit mangelhafter Bildung stehen noch bewußt oder unbewußt
auf dem Standpunkte, der im vorigen Jahrhundert die Höhe der Bildung
war, heute aber verlassen werden muß. Lessing vertritt ihn mit ausgezeich¬
neter Klarheit in seinen theologischen Streitschriften. Er unterscheidet da
zwischen zufälligen Geschichtswahrheiteu und notwendigen Vernunftwahrheiten.
Was sich als angeborner Inhalt unsrer Verminst ausweist, ist eine notwendige
Wahrheit; was aber im Laufe der Geschichte mit dem Wahrhcitsaufpruch auf¬
tritt, ohne sich der Vernunft als solche begreiflich zu machen, ist eine zufällige
Wahrheit, die die letzte Probe noch nicht bestanden hat, also von untergeord¬
netem Werte. Nun war Lessing ein viel zu feiner Kopf, als daß er sich nicht
um die Bedeutung der Geschichte für die Menschheit ernster bemüht haben
sollte. Zeugnis davon giebt seine "Erziehung des Menschengeschlechts." Es
ist rührend, wie er dort die Geschichte zu würdigen versucht als Erziehung
zur selbständigen Erfassung der im Grunde auch ohne Geschichte zu habenden
Vernunstwahrheiten. Mau erwäge § 4: "Erziehung giebt dem Menschen nichts,
was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie giebt ihm das, was er
aus sich selbst haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also giebt auch
die Offenbarung dem Menschengeschlecht nichts, worauf die menschliche Ver¬
nunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde, sondern sie gab auch
und giebt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher."

Nun hat sich, seit Lessing das schrieb, ungeheuer viel geändert. Die
Wissenschaft, genauer die Psychologie, hat uns den Wahn von einem ange-
bornen Inhalt unsrer Vernunft gründlich zerstört. Vernunftwahrheiten im
Lessingschen Sinne giebt es für deu modernen Menschen in'ehe. Wenn sich
gleichwohl viele Gebildete und Halbgebildete in den großen Fragen der Wahr¬
heit auf den Inhalt ihrer Vernunft zurückziehen, finden sie dort, wo Lessing
sehr viel sand (Gott, Tugend, Unsterblichkeit und vieles andre!>, nichts --
das will sagen nichts Angebornes, Selbstverständliches, über die Notwendigkeit
persönlicher Aneignung sei es auf dem Wege sinnlicher Wahrnehmung, sei es
auf dem Wege der moralischen Überzeugung erhabnes. Sie machen nur etwa
die Negation mit, daß jene religiösen Gedanken Lessings (Gott, Tugend, Un¬
sterblichkeit) keine notwendigen Vernunstwahrheiten sind, aber sie erheben sich
nicht zu der Position, daß der Inhalt unsrer Vernunft dann anderswo her¬
kommen muß. Sie verkennen insbesondre den Wert, deu für den Stand unsrer
Erkenntnis und unsers Urteils die Geschichte hat. Denn "wir leben alle von
der Geschichte."

Dieser unklare" und haltlosen Stellung unsrer Gebildeten und Halbge¬
bildeten zu den "Geschichtswahrheiten" dient etwas zur Entschuldigung. Die
unermeßliche Verwicklung geschichtlicher Erscheinungen erschwert ihr Verständnis.
Auch Naturerscheinungen sind verwickelt. Das Auge des Forschers sieht hinter
ihnen unendliche Zusammenhänge und Probleme. Er weiß, wie schwer, viel-


Religion und Geschichte

Weite Kreise mit mangelhafter Bildung stehen noch bewußt oder unbewußt
auf dem Standpunkte, der im vorigen Jahrhundert die Höhe der Bildung
war, heute aber verlassen werden muß. Lessing vertritt ihn mit ausgezeich¬
neter Klarheit in seinen theologischen Streitschriften. Er unterscheidet da
zwischen zufälligen Geschichtswahrheiteu und notwendigen Vernunftwahrheiten.
Was sich als angeborner Inhalt unsrer Verminst ausweist, ist eine notwendige
Wahrheit; was aber im Laufe der Geschichte mit dem Wahrhcitsaufpruch auf¬
tritt, ohne sich der Vernunft als solche begreiflich zu machen, ist eine zufällige
Wahrheit, die die letzte Probe noch nicht bestanden hat, also von untergeord¬
netem Werte. Nun war Lessing ein viel zu feiner Kopf, als daß er sich nicht
um die Bedeutung der Geschichte für die Menschheit ernster bemüht haben
sollte. Zeugnis davon giebt seine „Erziehung des Menschengeschlechts." Es
ist rührend, wie er dort die Geschichte zu würdigen versucht als Erziehung
zur selbständigen Erfassung der im Grunde auch ohne Geschichte zu habenden
Vernunstwahrheiten. Mau erwäge § 4: „Erziehung giebt dem Menschen nichts,
was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie giebt ihm das, was er
aus sich selbst haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also giebt auch
die Offenbarung dem Menschengeschlecht nichts, worauf die menschliche Ver¬
nunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde, sondern sie gab auch
und giebt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher."

Nun hat sich, seit Lessing das schrieb, ungeheuer viel geändert. Die
Wissenschaft, genauer die Psychologie, hat uns den Wahn von einem ange-
bornen Inhalt unsrer Vernunft gründlich zerstört. Vernunftwahrheiten im
Lessingschen Sinne giebt es für deu modernen Menschen in'ehe. Wenn sich
gleichwohl viele Gebildete und Halbgebildete in den großen Fragen der Wahr¬
heit auf den Inhalt ihrer Vernunft zurückziehen, finden sie dort, wo Lessing
sehr viel sand (Gott, Tugend, Unsterblichkeit und vieles andre!>, nichts —
das will sagen nichts Angebornes, Selbstverständliches, über die Notwendigkeit
persönlicher Aneignung sei es auf dem Wege sinnlicher Wahrnehmung, sei es
auf dem Wege der moralischen Überzeugung erhabnes. Sie machen nur etwa
die Negation mit, daß jene religiösen Gedanken Lessings (Gott, Tugend, Un¬
sterblichkeit) keine notwendigen Vernunstwahrheiten sind, aber sie erheben sich
nicht zu der Position, daß der Inhalt unsrer Vernunft dann anderswo her¬
kommen muß. Sie verkennen insbesondre den Wert, deu für den Stand unsrer
Erkenntnis und unsers Urteils die Geschichte hat. Denn „wir leben alle von
der Geschichte."

Dieser unklare« und haltlosen Stellung unsrer Gebildeten und Halbge¬
bildeten zu den „Geschichtswahrheiten" dient etwas zur Entschuldigung. Die
unermeßliche Verwicklung geschichtlicher Erscheinungen erschwert ihr Verständnis.
Auch Naturerscheinungen sind verwickelt. Das Auge des Forschers sieht hinter
ihnen unendliche Zusammenhänge und Probleme. Er weiß, wie schwer, viel-


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[0628] Religion und Geschichte Weite Kreise mit mangelhafter Bildung stehen noch bewußt oder unbewußt auf dem Standpunkte, der im vorigen Jahrhundert die Höhe der Bildung war, heute aber verlassen werden muß. Lessing vertritt ihn mit ausgezeich¬ neter Klarheit in seinen theologischen Streitschriften. Er unterscheidet da zwischen zufälligen Geschichtswahrheiteu und notwendigen Vernunftwahrheiten. Was sich als angeborner Inhalt unsrer Verminst ausweist, ist eine notwendige Wahrheit; was aber im Laufe der Geschichte mit dem Wahrhcitsaufpruch auf¬ tritt, ohne sich der Vernunft als solche begreiflich zu machen, ist eine zufällige Wahrheit, die die letzte Probe noch nicht bestanden hat, also von untergeord¬ netem Werte. Nun war Lessing ein viel zu feiner Kopf, als daß er sich nicht um die Bedeutung der Geschichte für die Menschheit ernster bemüht haben sollte. Zeugnis davon giebt seine „Erziehung des Menschengeschlechts." Es ist rührend, wie er dort die Geschichte zu würdigen versucht als Erziehung zur selbständigen Erfassung der im Grunde auch ohne Geschichte zu habenden Vernunstwahrheiten. Mau erwäge § 4: „Erziehung giebt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie giebt ihm das, was er aus sich selbst haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also giebt auch die Offenbarung dem Menschengeschlecht nichts, worauf die menschliche Ver¬ nunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde, sondern sie gab auch und giebt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher." Nun hat sich, seit Lessing das schrieb, ungeheuer viel geändert. Die Wissenschaft, genauer die Psychologie, hat uns den Wahn von einem ange- bornen Inhalt unsrer Vernunft gründlich zerstört. Vernunftwahrheiten im Lessingschen Sinne giebt es für deu modernen Menschen in'ehe. Wenn sich gleichwohl viele Gebildete und Halbgebildete in den großen Fragen der Wahr¬ heit auf den Inhalt ihrer Vernunft zurückziehen, finden sie dort, wo Lessing sehr viel sand (Gott, Tugend, Unsterblichkeit und vieles andre!>, nichts — das will sagen nichts Angebornes, Selbstverständliches, über die Notwendigkeit persönlicher Aneignung sei es auf dem Wege sinnlicher Wahrnehmung, sei es auf dem Wege der moralischen Überzeugung erhabnes. Sie machen nur etwa die Negation mit, daß jene religiösen Gedanken Lessings (Gott, Tugend, Un¬ sterblichkeit) keine notwendigen Vernunstwahrheiten sind, aber sie erheben sich nicht zu der Position, daß der Inhalt unsrer Vernunft dann anderswo her¬ kommen muß. Sie verkennen insbesondre den Wert, deu für den Stand unsrer Erkenntnis und unsers Urteils die Geschichte hat. Denn „wir leben alle von der Geschichte." Dieser unklare« und haltlosen Stellung unsrer Gebildeten und Halbge¬ bildeten zu den „Geschichtswahrheiten" dient etwas zur Entschuldigung. Die unermeßliche Verwicklung geschichtlicher Erscheinungen erschwert ihr Verständnis. Auch Naturerscheinungen sind verwickelt. Das Auge des Forschers sieht hinter ihnen unendliche Zusammenhänge und Probleme. Er weiß, wie schwer, viel-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/628>, abgerufen am 23.07.2024.