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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Religion und Geschichte

solcher ein Interesse an andern Menschen. Er erhebt im Namen seiner Religion,
vorausgesetzt daß er sie lebendig hat, einen Anspruch auf Welt und Menschheit,
und wäre es nur in der bescheidnen Form, daß die Annahme seiner Religion
durch andre der Gegenstand seines, ihm vielleicht kaum bewußten, Wunsches
und etwa seines Gebetes ist. Der Missionstrieb aller lebendigen Religion
kann sich sehr verschieden äußern, von zartesten unwillkürlichen Einwirkungen
bis zur fanatischen Propaganda. Er kann auch schlummern und durch Druck
und Verfolgung niedergehalten werden. Aber er ist auf der Stufe der Religion,
die sie heute erreicht hat, da und gehört zu ihrem Wesen. Hierin unter¬
scheidet sich die Religion weit von Kunst. Wissenschaft und Politik. Der
Gelehrte z. V. hat keineswegs aus innerer Notwendigkeit das Streben, seine
Gelehrsamkeit mit andern oder gar mit jedermann zu teilen; und thatsächlich
kann anch die Wissenschaft nicht einmal in tiisÄ den Anspruch machen, Ge¬
meingut aller zu werden. Der religiöse Mensch will, daß sein Evangelium
verkündigt werde und von aller Welt geglaubt werde; es ist ihm ein
Schmerz, wenn er mit diesem Verlangen ans unüberwindliche Schranken stößt.

Wie wir schon andeuteten, ist dieser Herrschaftsausprnch der Religion
nicht allen Religionen in gleichem Maße eigen. Am wenigsten den sogenannten
Naturreligionen, ganz und gar aber den entwickelter", geistigem Religionen,
die uns besonders interessiren, weil sie sich auf asiatisch-europäisch-amerika¬
nischem Kulturboden geschichtlich entfaltet haben. Diese Religionen allein
haben eine Geschichte, und zwar haben sie sie gerade darum, weil sie jenen
Herrschaftsanspruch an die Menschen und Völker erheben. Denn was wir
Geschichte nennen, was uns als Geschichte interessirt, ist, genauer besehen,
nicht das Geschehen schlechthin (was geschieht nicht alles, ohne daß es uns
geschichtlich interessirt!), sondern das Werden und Sichwandeln dessen, was
herrscht und herrschen will. Nur das beachtet der Historiker, nur das hebt
die Geschichte auf. So denken wir, wenn wir von der Religion im modernen
Geistesleben reden,") nur an diese "geschichtlichen Religionen," die ihren Herr¬
schaftsanspruch erhoben und mit einigem Erfolge auch bis in die Gegenwart
hinein durchgesetzt haben. Es sind die israelitische, die christliche in ihren
katholischen und protestantischen Erscheinungsformen, die muhammedanische und
die buddhistische.

Man darf und muß dein modernen Menschen zumuten, die Religion vor
allen Dingen als geschichtliche Erscheinung zu begreifen.

Die Fähigkeit, eine geschichtliche Erscheinung zu würdigen, hat in unsern
Tagen ohne Zweifel zugenommen, aber groß und allgemein ist sie noch nicht.



Der vorliegende Aufsatz ist die ziemlich treue Wiedergabe des ersten einleitenden von
fünf im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt n. M. gehaltnen Vortragen über "Die Religion
im modernen Geistesleben."
Religion und Geschichte

solcher ein Interesse an andern Menschen. Er erhebt im Namen seiner Religion,
vorausgesetzt daß er sie lebendig hat, einen Anspruch auf Welt und Menschheit,
und wäre es nur in der bescheidnen Form, daß die Annahme seiner Religion
durch andre der Gegenstand seines, ihm vielleicht kaum bewußten, Wunsches
und etwa seines Gebetes ist. Der Missionstrieb aller lebendigen Religion
kann sich sehr verschieden äußern, von zartesten unwillkürlichen Einwirkungen
bis zur fanatischen Propaganda. Er kann auch schlummern und durch Druck
und Verfolgung niedergehalten werden. Aber er ist auf der Stufe der Religion,
die sie heute erreicht hat, da und gehört zu ihrem Wesen. Hierin unter¬
scheidet sich die Religion weit von Kunst. Wissenschaft und Politik. Der
Gelehrte z. V. hat keineswegs aus innerer Notwendigkeit das Streben, seine
Gelehrsamkeit mit andern oder gar mit jedermann zu teilen; und thatsächlich
kann anch die Wissenschaft nicht einmal in tiisÄ den Anspruch machen, Ge¬
meingut aller zu werden. Der religiöse Mensch will, daß sein Evangelium
verkündigt werde und von aller Welt geglaubt werde; es ist ihm ein
Schmerz, wenn er mit diesem Verlangen ans unüberwindliche Schranken stößt.

Wie wir schon andeuteten, ist dieser Herrschaftsausprnch der Religion
nicht allen Religionen in gleichem Maße eigen. Am wenigsten den sogenannten
Naturreligionen, ganz und gar aber den entwickelter», geistigem Religionen,
die uns besonders interessiren, weil sie sich auf asiatisch-europäisch-amerika¬
nischem Kulturboden geschichtlich entfaltet haben. Diese Religionen allein
haben eine Geschichte, und zwar haben sie sie gerade darum, weil sie jenen
Herrschaftsanspruch an die Menschen und Völker erheben. Denn was wir
Geschichte nennen, was uns als Geschichte interessirt, ist, genauer besehen,
nicht das Geschehen schlechthin (was geschieht nicht alles, ohne daß es uns
geschichtlich interessirt!), sondern das Werden und Sichwandeln dessen, was
herrscht und herrschen will. Nur das beachtet der Historiker, nur das hebt
die Geschichte auf. So denken wir, wenn wir von der Religion im modernen
Geistesleben reden,") nur an diese „geschichtlichen Religionen," die ihren Herr¬
schaftsanspruch erhoben und mit einigem Erfolge auch bis in die Gegenwart
hinein durchgesetzt haben. Es sind die israelitische, die christliche in ihren
katholischen und protestantischen Erscheinungsformen, die muhammedanische und
die buddhistische.

Man darf und muß dein modernen Menschen zumuten, die Religion vor
allen Dingen als geschichtliche Erscheinung zu begreifen.

Die Fähigkeit, eine geschichtliche Erscheinung zu würdigen, hat in unsern
Tagen ohne Zweifel zugenommen, aber groß und allgemein ist sie noch nicht.



Der vorliegende Aufsatz ist die ziemlich treue Wiedergabe des ersten einleitenden von
fünf im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt n. M. gehaltnen Vortragen über „Die Religion
im modernen Geistesleben."
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[0627] Religion und Geschichte solcher ein Interesse an andern Menschen. Er erhebt im Namen seiner Religion, vorausgesetzt daß er sie lebendig hat, einen Anspruch auf Welt und Menschheit, und wäre es nur in der bescheidnen Form, daß die Annahme seiner Religion durch andre der Gegenstand seines, ihm vielleicht kaum bewußten, Wunsches und etwa seines Gebetes ist. Der Missionstrieb aller lebendigen Religion kann sich sehr verschieden äußern, von zartesten unwillkürlichen Einwirkungen bis zur fanatischen Propaganda. Er kann auch schlummern und durch Druck und Verfolgung niedergehalten werden. Aber er ist auf der Stufe der Religion, die sie heute erreicht hat, da und gehört zu ihrem Wesen. Hierin unter¬ scheidet sich die Religion weit von Kunst. Wissenschaft und Politik. Der Gelehrte z. V. hat keineswegs aus innerer Notwendigkeit das Streben, seine Gelehrsamkeit mit andern oder gar mit jedermann zu teilen; und thatsächlich kann anch die Wissenschaft nicht einmal in tiisÄ den Anspruch machen, Ge¬ meingut aller zu werden. Der religiöse Mensch will, daß sein Evangelium verkündigt werde und von aller Welt geglaubt werde; es ist ihm ein Schmerz, wenn er mit diesem Verlangen ans unüberwindliche Schranken stößt. Wie wir schon andeuteten, ist dieser Herrschaftsausprnch der Religion nicht allen Religionen in gleichem Maße eigen. Am wenigsten den sogenannten Naturreligionen, ganz und gar aber den entwickelter», geistigem Religionen, die uns besonders interessiren, weil sie sich auf asiatisch-europäisch-amerika¬ nischem Kulturboden geschichtlich entfaltet haben. Diese Religionen allein haben eine Geschichte, und zwar haben sie sie gerade darum, weil sie jenen Herrschaftsanspruch an die Menschen und Völker erheben. Denn was wir Geschichte nennen, was uns als Geschichte interessirt, ist, genauer besehen, nicht das Geschehen schlechthin (was geschieht nicht alles, ohne daß es uns geschichtlich interessirt!), sondern das Werden und Sichwandeln dessen, was herrscht und herrschen will. Nur das beachtet der Historiker, nur das hebt die Geschichte auf. So denken wir, wenn wir von der Religion im modernen Geistesleben reden,") nur an diese „geschichtlichen Religionen," die ihren Herr¬ schaftsanspruch erhoben und mit einigem Erfolge auch bis in die Gegenwart hinein durchgesetzt haben. Es sind die israelitische, die christliche in ihren katholischen und protestantischen Erscheinungsformen, die muhammedanische und die buddhistische. Man darf und muß dein modernen Menschen zumuten, die Religion vor allen Dingen als geschichtliche Erscheinung zu begreifen. Die Fähigkeit, eine geschichtliche Erscheinung zu würdigen, hat in unsern Tagen ohne Zweifel zugenommen, aber groß und allgemein ist sie noch nicht. Der vorliegende Aufsatz ist die ziemlich treue Wiedergabe des ersten einleitenden von fünf im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt n. M. gehaltnen Vortragen über „Die Religion im modernen Geistesleben."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/627>, abgerufen am 23.07.2024.