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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Religion und Geschichte

"Aufklärung" mit besondrer Rücksichtslosigkeit und Religionsfcindlichkeit besorgt.
Gleichwohl reicht diese Thatsache nicht aus, unser modernes Lebens als reli¬
gionslos zu charakterisiren. Denn einmal ist, aufs große Ganze der Mensch¬
heitsgeschichte gesehen, diese religionsfeindlichc Bewegung doch noch zu schwach,
als daß man nicht ein geschichtliches Recht hätte, sie als vorübergehende Zeit-
erscheinung zu sassen. Sodann besteht das Merkwürdige, daß die Aufklärung
der Sozialdemokratie ihrerseits, um aufs Volk zu wirken, religiöse Formen
annimmt: sie hat ihr Dogma, ihren Glauben, ihre Propheten und Heiligen,
ihren Fanatismus. siegte die Sozialdemokratie, so wäre die Frage, ob die
Religionswissenschaft uicht ebenso Anlaß bekommen würde, sich ox vrotesso
mit ihr zu beschäftigen, wie sie es mit dem Buddhismus zu thun hat, trotz
seines grundsätzlichen Atheismus.

Freilich in einem Nebenpunkte hat sich thatsächlich ein nicht geringer
Umschwung vollzogen. Jedermann kennt die Formel: "Religion ist Privat¬
sache." Sie steht nicht nur im sozialdemokratischen Programm, sondern un¬
zähligen modernen Menschen ist sie aus der Seele gesprochen. Sie scheint
aufs schärfste dem Verhalten zu entsprechen, daß der Einzelne etwa seine
Religion als seine eigne Privatsache behauptet und an andern die ihrige als
ihre Privatsache respektirt -- von Ansprüchen, Herrschaftsansprüchen der
Religion herüber und hinüber wäre dabei keine Rede. Aber die Gesinnung
gegenseitiger Toleranz, das Gelten und Gegenlassen, das Schonen fremder
Überzeugung und das Behaupten der eignen wird doch in jener Formel höchst
unvollkommen ausgedrückt. Man sage lieber: "Religion ist persönliche Ge¬
wissenssache." Der Satz "Religion ist Privatsache" hat seinen richtigen Platz
in der politischen Diskussion, er betrifft eine Rechts- und Verfassungsfrage.
Er hat uur einen vernünftigen Sinn, den er denn auch an seinem klassischen
Ort, im sozialdemokratischen Programm, allein haben kann: Religion soll
nicht Sache des Staats, der Kommune, soll nicht öffentliche Einrichtung,
politische Angelegenheit sein. Darüber läßt sich reden. Übertreibe man aber
den Satz dahin: Religion ist Privatnngclegenheit jedes Einzelnen, so wird er
zum Unsinn. Denn erstens ist Religion zwar persönliche Angelegenheit des
Einzelnen, aber darum durchaus uoch uicht dessen rein private Angelegenheit,
keine Sache, an der nur der Einzelne Interesse hätte. Kinder haben ein un¬
geheures Interesse an der Religion ihrer Eltern, Gatten nicht minder gegen¬
seitig an ihrer Stellung zur Religion, gar nicht gleichgiltig aber ist es auch,
ob und welche Religion mein Nachbar, mein Geschäftsteilhaber, mein Amts¬
genosse, der Redakteur meiner Zeitung, der Bürgermeister meines Ortes, der
Fürst meines Volks oder mein Dienstmädchen hat. Dieses Interesse an der
religiösen oder nichtreligiösen Stellung der Menschen, mit denen wir zusammen
leben, hat jeder, er mag selbst Religion haben oder nicht, er mag dieses
Interesse zugeben oder nicht. Zweitens aber nimmt der religiöse Mensch als


Religion und Geschichte

„Aufklärung" mit besondrer Rücksichtslosigkeit und Religionsfcindlichkeit besorgt.
Gleichwohl reicht diese Thatsache nicht aus, unser modernes Lebens als reli¬
gionslos zu charakterisiren. Denn einmal ist, aufs große Ganze der Mensch¬
heitsgeschichte gesehen, diese religionsfeindlichc Bewegung doch noch zu schwach,
als daß man nicht ein geschichtliches Recht hätte, sie als vorübergehende Zeit-
erscheinung zu sassen. Sodann besteht das Merkwürdige, daß die Aufklärung
der Sozialdemokratie ihrerseits, um aufs Volk zu wirken, religiöse Formen
annimmt: sie hat ihr Dogma, ihren Glauben, ihre Propheten und Heiligen,
ihren Fanatismus. siegte die Sozialdemokratie, so wäre die Frage, ob die
Religionswissenschaft uicht ebenso Anlaß bekommen würde, sich ox vrotesso
mit ihr zu beschäftigen, wie sie es mit dem Buddhismus zu thun hat, trotz
seines grundsätzlichen Atheismus.

Freilich in einem Nebenpunkte hat sich thatsächlich ein nicht geringer
Umschwung vollzogen. Jedermann kennt die Formel: „Religion ist Privat¬
sache." Sie steht nicht nur im sozialdemokratischen Programm, sondern un¬
zähligen modernen Menschen ist sie aus der Seele gesprochen. Sie scheint
aufs schärfste dem Verhalten zu entsprechen, daß der Einzelne etwa seine
Religion als seine eigne Privatsache behauptet und an andern die ihrige als
ihre Privatsache respektirt — von Ansprüchen, Herrschaftsansprüchen der
Religion herüber und hinüber wäre dabei keine Rede. Aber die Gesinnung
gegenseitiger Toleranz, das Gelten und Gegenlassen, das Schonen fremder
Überzeugung und das Behaupten der eignen wird doch in jener Formel höchst
unvollkommen ausgedrückt. Man sage lieber: „Religion ist persönliche Ge¬
wissenssache." Der Satz „Religion ist Privatsache" hat seinen richtigen Platz
in der politischen Diskussion, er betrifft eine Rechts- und Verfassungsfrage.
Er hat uur einen vernünftigen Sinn, den er denn auch an seinem klassischen
Ort, im sozialdemokratischen Programm, allein haben kann: Religion soll
nicht Sache des Staats, der Kommune, soll nicht öffentliche Einrichtung,
politische Angelegenheit sein. Darüber läßt sich reden. Übertreibe man aber
den Satz dahin: Religion ist Privatnngclegenheit jedes Einzelnen, so wird er
zum Unsinn. Denn erstens ist Religion zwar persönliche Angelegenheit des
Einzelnen, aber darum durchaus uoch uicht dessen rein private Angelegenheit,
keine Sache, an der nur der Einzelne Interesse hätte. Kinder haben ein un¬
geheures Interesse an der Religion ihrer Eltern, Gatten nicht minder gegen¬
seitig an ihrer Stellung zur Religion, gar nicht gleichgiltig aber ist es auch,
ob und welche Religion mein Nachbar, mein Geschäftsteilhaber, mein Amts¬
genosse, der Redakteur meiner Zeitung, der Bürgermeister meines Ortes, der
Fürst meines Volks oder mein Dienstmädchen hat. Dieses Interesse an der
religiösen oder nichtreligiösen Stellung der Menschen, mit denen wir zusammen
leben, hat jeder, er mag selbst Religion haben oder nicht, er mag dieses
Interesse zugeben oder nicht. Zweitens aber nimmt der religiöse Mensch als


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[0626] Religion und Geschichte „Aufklärung" mit besondrer Rücksichtslosigkeit und Religionsfcindlichkeit besorgt. Gleichwohl reicht diese Thatsache nicht aus, unser modernes Lebens als reli¬ gionslos zu charakterisiren. Denn einmal ist, aufs große Ganze der Mensch¬ heitsgeschichte gesehen, diese religionsfeindlichc Bewegung doch noch zu schwach, als daß man nicht ein geschichtliches Recht hätte, sie als vorübergehende Zeit- erscheinung zu sassen. Sodann besteht das Merkwürdige, daß die Aufklärung der Sozialdemokratie ihrerseits, um aufs Volk zu wirken, religiöse Formen annimmt: sie hat ihr Dogma, ihren Glauben, ihre Propheten und Heiligen, ihren Fanatismus. siegte die Sozialdemokratie, so wäre die Frage, ob die Religionswissenschaft uicht ebenso Anlaß bekommen würde, sich ox vrotesso mit ihr zu beschäftigen, wie sie es mit dem Buddhismus zu thun hat, trotz seines grundsätzlichen Atheismus. Freilich in einem Nebenpunkte hat sich thatsächlich ein nicht geringer Umschwung vollzogen. Jedermann kennt die Formel: „Religion ist Privat¬ sache." Sie steht nicht nur im sozialdemokratischen Programm, sondern un¬ zähligen modernen Menschen ist sie aus der Seele gesprochen. Sie scheint aufs schärfste dem Verhalten zu entsprechen, daß der Einzelne etwa seine Religion als seine eigne Privatsache behauptet und an andern die ihrige als ihre Privatsache respektirt — von Ansprüchen, Herrschaftsansprüchen der Religion herüber und hinüber wäre dabei keine Rede. Aber die Gesinnung gegenseitiger Toleranz, das Gelten und Gegenlassen, das Schonen fremder Überzeugung und das Behaupten der eignen wird doch in jener Formel höchst unvollkommen ausgedrückt. Man sage lieber: „Religion ist persönliche Ge¬ wissenssache." Der Satz „Religion ist Privatsache" hat seinen richtigen Platz in der politischen Diskussion, er betrifft eine Rechts- und Verfassungsfrage. Er hat uur einen vernünftigen Sinn, den er denn auch an seinem klassischen Ort, im sozialdemokratischen Programm, allein haben kann: Religion soll nicht Sache des Staats, der Kommune, soll nicht öffentliche Einrichtung, politische Angelegenheit sein. Darüber läßt sich reden. Übertreibe man aber den Satz dahin: Religion ist Privatnngclegenheit jedes Einzelnen, so wird er zum Unsinn. Denn erstens ist Religion zwar persönliche Angelegenheit des Einzelnen, aber darum durchaus uoch uicht dessen rein private Angelegenheit, keine Sache, an der nur der Einzelne Interesse hätte. Kinder haben ein un¬ geheures Interesse an der Religion ihrer Eltern, Gatten nicht minder gegen¬ seitig an ihrer Stellung zur Religion, gar nicht gleichgiltig aber ist es auch, ob und welche Religion mein Nachbar, mein Geschäftsteilhaber, mein Amts¬ genosse, der Redakteur meiner Zeitung, der Bürgermeister meines Ortes, der Fürst meines Volks oder mein Dienstmädchen hat. Dieses Interesse an der religiösen oder nichtreligiösen Stellung der Menschen, mit denen wir zusammen leben, hat jeder, er mag selbst Religion haben oder nicht, er mag dieses Interesse zugeben oder nicht. Zweitens aber nimmt der religiöse Mensch als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/626>, abgerufen am 23.07.2024.