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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Religion und Geschichte

Frömmigkeit, der Erziehung und der Sitte. Will jemand Beispiele, so genügt
der Hinweis auf naheliegendes: als Kirche und Hierarchie übt die Religion
ihre Herrschaft im römischen Katholizismus, als Theologie und Lehre im
protestantischen Orthodoxismus, als Frömmigkeit und Sitte im Pietismus.

Es hat aber niemals Zeiten gegeben, wo dieser Herrschaftsanspruch der
Religion ganz unbestritten geblieben Ware. Wenn der Fetischdiener seinen
Götzen wegwirft oder verbrennt, so ist das eine klare, wenn auch unvollkommne
Reaktion dagegen, so unvollkommen wie der Anspruch selber. Oder wenn der
Russe sein Heiligenbild mit dem Gesicht zur Wand kehrt, um in seiner Ab¬
wesenheit freier sündigen zu können, so ist das dieselbe feige Unbotmäßigkeit
gegenüber einer Macht, der man sich nicht zu entziehen vermag. Vom Kampf
gegen den Herrschaftsansprnch der Religion in gewissen Formen ist die Ge¬
schichte der Religionen geradezu angefüllt. Die Anmaßung der Kirche und
Theologie hat schon Christus abgewiesen: er ist im Kampfe gegen die Kirche
und Theologie seiner Zeit gestorben. Die Herrschaft der Kirche ist aufs neue
mit Erfolg bekämpft worden vom Protestantismus: die Frömmigkeit hat sich
auf das von Gott unterrichtete Gewissen zurückgezogen und damit eine innere
Autorität an Stelle der äußern aufgerichtet; aber das hat doch nicht gehindert,
daß sich die Kirche auch in evangelischen Ländern als Herrscherin neu aufgethan
hat. Die Herrschaft der Theologie ist in dem gesamten Gebiet der modernen
Wissenschaft endgiltig gebrochen: einst waren Philosophie und alle weltliche
Wissenschaft die Magd der Theologie, Humanismus und Reformation haben
diesem System einen starken Stoß gegeben, endgiltig ist es gestürzt durch das
Aufkommen der exakten Naturwissenschaft in unserm Jahrhundert. Heute ist
die Theologie selbst, wenigstens nach ihrem protestantischen Betriebe, eine
weltliche Wissenschaft geworden, die in gleichem Rang und in gleicher metho¬
discher Zucht wie alle übrigen wissenschaftlichen Fächer frei ihre Arbeit thun
will, und diese Entwicklung wird niemand rückgängig machen können.

Aber es hat auch niemals Zeiten gegeben, wo der Herrschaftsanspruch
der Religion im großen gebrochen und beseitigt gewesen wäre. Über Abfall
und Gottlosigkeit ist zwar von den Frommen aller Zeiten geklagt worden,
und immer war dazu Ursache genug. Aber nie ist eine Religion durch Reli¬
gionslosigkeit abgelöst worden. Der einzige Versuch dieser Art, der geschicht¬
liche Bedeutung hat, ist das Auftreten Buddhas mit seinem gvtterloscn Evan¬
gelium. Aber es ist ein Versuch geblieben: der Buddhismus ist in öden
Götzendienst umgeschlagen. Man denkt leicht an das Ende des vorigen Jahr¬
hunderts, an die Tage der französischen Revolution. Man erinnert sich, daß
am 22. September 1792 das französische Volk die christliche Zeitrechnung
abschaffte, und daß am 10. November 1793 eine Schönheit der Großen Oper
als Göttin der Vernunft auf den Hochaltar von Notre Dame in Paris gehoben
wurde. Aber der tolle Taumel dauerte nur kurze Zeit und ging nicht in die


Religion und Geschichte

Frömmigkeit, der Erziehung und der Sitte. Will jemand Beispiele, so genügt
der Hinweis auf naheliegendes: als Kirche und Hierarchie übt die Religion
ihre Herrschaft im römischen Katholizismus, als Theologie und Lehre im
protestantischen Orthodoxismus, als Frömmigkeit und Sitte im Pietismus.

Es hat aber niemals Zeiten gegeben, wo dieser Herrschaftsanspruch der
Religion ganz unbestritten geblieben Ware. Wenn der Fetischdiener seinen
Götzen wegwirft oder verbrennt, so ist das eine klare, wenn auch unvollkommne
Reaktion dagegen, so unvollkommen wie der Anspruch selber. Oder wenn der
Russe sein Heiligenbild mit dem Gesicht zur Wand kehrt, um in seiner Ab¬
wesenheit freier sündigen zu können, so ist das dieselbe feige Unbotmäßigkeit
gegenüber einer Macht, der man sich nicht zu entziehen vermag. Vom Kampf
gegen den Herrschaftsansprnch der Religion in gewissen Formen ist die Ge¬
schichte der Religionen geradezu angefüllt. Die Anmaßung der Kirche und
Theologie hat schon Christus abgewiesen: er ist im Kampfe gegen die Kirche
und Theologie seiner Zeit gestorben. Die Herrschaft der Kirche ist aufs neue
mit Erfolg bekämpft worden vom Protestantismus: die Frömmigkeit hat sich
auf das von Gott unterrichtete Gewissen zurückgezogen und damit eine innere
Autorität an Stelle der äußern aufgerichtet; aber das hat doch nicht gehindert,
daß sich die Kirche auch in evangelischen Ländern als Herrscherin neu aufgethan
hat. Die Herrschaft der Theologie ist in dem gesamten Gebiet der modernen
Wissenschaft endgiltig gebrochen: einst waren Philosophie und alle weltliche
Wissenschaft die Magd der Theologie, Humanismus und Reformation haben
diesem System einen starken Stoß gegeben, endgiltig ist es gestürzt durch das
Aufkommen der exakten Naturwissenschaft in unserm Jahrhundert. Heute ist
die Theologie selbst, wenigstens nach ihrem protestantischen Betriebe, eine
weltliche Wissenschaft geworden, die in gleichem Rang und in gleicher metho¬
discher Zucht wie alle übrigen wissenschaftlichen Fächer frei ihre Arbeit thun
will, und diese Entwicklung wird niemand rückgängig machen können.

Aber es hat auch niemals Zeiten gegeben, wo der Herrschaftsanspruch
der Religion im großen gebrochen und beseitigt gewesen wäre. Über Abfall
und Gottlosigkeit ist zwar von den Frommen aller Zeiten geklagt worden,
und immer war dazu Ursache genug. Aber nie ist eine Religion durch Reli¬
gionslosigkeit abgelöst worden. Der einzige Versuch dieser Art, der geschicht¬
liche Bedeutung hat, ist das Auftreten Buddhas mit seinem gvtterloscn Evan¬
gelium. Aber es ist ein Versuch geblieben: der Buddhismus ist in öden
Götzendienst umgeschlagen. Man denkt leicht an das Ende des vorigen Jahr¬
hunderts, an die Tage der französischen Revolution. Man erinnert sich, daß
am 22. September 1792 das französische Volk die christliche Zeitrechnung
abschaffte, und daß am 10. November 1793 eine Schönheit der Großen Oper
als Göttin der Vernunft auf den Hochaltar von Notre Dame in Paris gehoben
wurde. Aber der tolle Taumel dauerte nur kurze Zeit und ging nicht in die


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[0624] Religion und Geschichte Frömmigkeit, der Erziehung und der Sitte. Will jemand Beispiele, so genügt der Hinweis auf naheliegendes: als Kirche und Hierarchie übt die Religion ihre Herrschaft im römischen Katholizismus, als Theologie und Lehre im protestantischen Orthodoxismus, als Frömmigkeit und Sitte im Pietismus. Es hat aber niemals Zeiten gegeben, wo dieser Herrschaftsanspruch der Religion ganz unbestritten geblieben Ware. Wenn der Fetischdiener seinen Götzen wegwirft oder verbrennt, so ist das eine klare, wenn auch unvollkommne Reaktion dagegen, so unvollkommen wie der Anspruch selber. Oder wenn der Russe sein Heiligenbild mit dem Gesicht zur Wand kehrt, um in seiner Ab¬ wesenheit freier sündigen zu können, so ist das dieselbe feige Unbotmäßigkeit gegenüber einer Macht, der man sich nicht zu entziehen vermag. Vom Kampf gegen den Herrschaftsansprnch der Religion in gewissen Formen ist die Ge¬ schichte der Religionen geradezu angefüllt. Die Anmaßung der Kirche und Theologie hat schon Christus abgewiesen: er ist im Kampfe gegen die Kirche und Theologie seiner Zeit gestorben. Die Herrschaft der Kirche ist aufs neue mit Erfolg bekämpft worden vom Protestantismus: die Frömmigkeit hat sich auf das von Gott unterrichtete Gewissen zurückgezogen und damit eine innere Autorität an Stelle der äußern aufgerichtet; aber das hat doch nicht gehindert, daß sich die Kirche auch in evangelischen Ländern als Herrscherin neu aufgethan hat. Die Herrschaft der Theologie ist in dem gesamten Gebiet der modernen Wissenschaft endgiltig gebrochen: einst waren Philosophie und alle weltliche Wissenschaft die Magd der Theologie, Humanismus und Reformation haben diesem System einen starken Stoß gegeben, endgiltig ist es gestürzt durch das Aufkommen der exakten Naturwissenschaft in unserm Jahrhundert. Heute ist die Theologie selbst, wenigstens nach ihrem protestantischen Betriebe, eine weltliche Wissenschaft geworden, die in gleichem Rang und in gleicher metho¬ discher Zucht wie alle übrigen wissenschaftlichen Fächer frei ihre Arbeit thun will, und diese Entwicklung wird niemand rückgängig machen können. Aber es hat auch niemals Zeiten gegeben, wo der Herrschaftsanspruch der Religion im großen gebrochen und beseitigt gewesen wäre. Über Abfall und Gottlosigkeit ist zwar von den Frommen aller Zeiten geklagt worden, und immer war dazu Ursache genug. Aber nie ist eine Religion durch Reli¬ gionslosigkeit abgelöst worden. Der einzige Versuch dieser Art, der geschicht¬ liche Bedeutung hat, ist das Auftreten Buddhas mit seinem gvtterloscn Evan¬ gelium. Aber es ist ein Versuch geblieben: der Buddhismus ist in öden Götzendienst umgeschlagen. Man denkt leicht an das Ende des vorigen Jahr¬ hunderts, an die Tage der französischen Revolution. Man erinnert sich, daß am 22. September 1792 das französische Volk die christliche Zeitrechnung abschaffte, und daß am 10. November 1793 eine Schönheit der Großen Oper als Göttin der Vernunft auf den Hochaltar von Notre Dame in Paris gehoben wurde. Aber der tolle Taumel dauerte nur kurze Zeit und ging nicht in die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/624>, abgerufen am 23.07.2024.