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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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vom Aeudarwinismus

richtig aufzufassen und berechtigte Schlüsse auf die Natur des Weltganzen
daraus zu ziehen? Würde irgend ein verständiger Mensch Ergebnisse annehmen,
die gar nicht verstanden werden könnten, deren Nichtigkeit daher nicht kontrollirt
werden könnte, und würde sich die Menschheit den unfehlbaren Aussprüchen
von Fachgelehrten beugen, deren Wissenschaft die Natur einer Geheimlehre an
sich trüge?

Den Naturforschern die Überschätzung ihres Könnens und ihrer Ergebnisse
übel zu nehmen, sind wir weit entfernt. Solche Überschätzung feuert den
Forschungseifer an und ist daher in ähnlicher Weise nützlich und notwendig,
wie es der Atheismus vorübergehend gewesen ist. Daß es dieser auch jetzt
noch sei, vermögen wir allerdings nicht zu glauben. Nachdem die gebildete
Menschheit erkannt hat, wie schöne, die Naturerkenntnis bereichernde und auch
praktische wertvolle Entdeckungen mit diesen Hhvothesen und Methoden gemacht
werden können, werden sie in Zukunft auch von solchen angewandt werden,
die sehr weit davon entfernt sind, Gott zu leugnen, wenn sie auch die Forderung
der wissenschaftlichen Methode erfüllen, ihn bei der Untersuchung außer Ansatz
zu lassen. Schließlich kommt der Theismus dabei auf seine Rechnung, denn
alle Ergebnisse der Darwinianer sind neue Stützen für ihn. Welche reiche
Fülle von wunderbaren Zweckmäßigkeiten haben sie aufgedeckt! Bei Weismann
kommt das Wort, das die Darwinianer in ihrer ersten Freude über die ent¬
deckte Alleinherrschaft der Kausalität schon aus ihrem Wörterbuche gestrichen
hatten, aller Augenblicke vor, und es kann uns wenig grämen, daß er in jeder
Zweckmäßigkeit deu Beweis für eine erfolgte Anpassung sieht, wissen wir doch,
daß es einem Mechanismus gar nicht einfüllt, sich anzupassen; greift eine
überlegne Kraft in sein Räderwerk ein, so zerbricht er, anstatt sich anzupassen.
Wo sich ein Mechanismus veränderten Verhältnissen selbst anpaßt, z. B. durch
automatische Umsteuerung, da hat ihn eben der Mechanikus auch zu dieser
Leistung durch eine darauf berechnete Einrichtung befähigt. Und welch neues,
schönes Licht verbreitet die tiefere Einsicht, die uns die darwinischen Forscher
erschlossen haben, über längst bekannte Erscheinungen und Einrichtungen der
Natur, z. V. über die Geschlechtlichkeit! Die einzelligen Wesen der untersten
Stufe haben kein Geschlecht; sie wachsen, und nachdem sie eine gewisse Größe
erlangt haben, teilen sie sich; so erfüllen sie das Meer mit Massen organischer
Stoffe. Allmählich differenzirt sich die formlose organische Masse, und es
entstehen zwei Arten von Zellen: Fortpflanzungszellen, denen die wunderbare
Kraft innewohnt, ein dem Muttertier ähnliches Tier aufzubauen, und somatische
Zellen. Der aus Zellen dieser zweiten Art bestehende Körper ist anfänglich
weiter nichts als ein Sack, der die Bestimmung hat, eine große Menge Eizellen
ni sich zu tragen, sie zu schütze" und zu nähren. Sind sie reif, so platzt der
Sack, die Jungen quellen heraus, und das vordem lebendige Futteral ver¬
trocknet und zerfällt. Allmühlich wächst die Körpermasse im Verhältnis zur


vom Aeudarwinismus

richtig aufzufassen und berechtigte Schlüsse auf die Natur des Weltganzen
daraus zu ziehen? Würde irgend ein verständiger Mensch Ergebnisse annehmen,
die gar nicht verstanden werden könnten, deren Nichtigkeit daher nicht kontrollirt
werden könnte, und würde sich die Menschheit den unfehlbaren Aussprüchen
von Fachgelehrten beugen, deren Wissenschaft die Natur einer Geheimlehre an
sich trüge?

Den Naturforschern die Überschätzung ihres Könnens und ihrer Ergebnisse
übel zu nehmen, sind wir weit entfernt. Solche Überschätzung feuert den
Forschungseifer an und ist daher in ähnlicher Weise nützlich und notwendig,
wie es der Atheismus vorübergehend gewesen ist. Daß es dieser auch jetzt
noch sei, vermögen wir allerdings nicht zu glauben. Nachdem die gebildete
Menschheit erkannt hat, wie schöne, die Naturerkenntnis bereichernde und auch
praktische wertvolle Entdeckungen mit diesen Hhvothesen und Methoden gemacht
werden können, werden sie in Zukunft auch von solchen angewandt werden,
die sehr weit davon entfernt sind, Gott zu leugnen, wenn sie auch die Forderung
der wissenschaftlichen Methode erfüllen, ihn bei der Untersuchung außer Ansatz
zu lassen. Schließlich kommt der Theismus dabei auf seine Rechnung, denn
alle Ergebnisse der Darwinianer sind neue Stützen für ihn. Welche reiche
Fülle von wunderbaren Zweckmäßigkeiten haben sie aufgedeckt! Bei Weismann
kommt das Wort, das die Darwinianer in ihrer ersten Freude über die ent¬
deckte Alleinherrschaft der Kausalität schon aus ihrem Wörterbuche gestrichen
hatten, aller Augenblicke vor, und es kann uns wenig grämen, daß er in jeder
Zweckmäßigkeit deu Beweis für eine erfolgte Anpassung sieht, wissen wir doch,
daß es einem Mechanismus gar nicht einfüllt, sich anzupassen; greift eine
überlegne Kraft in sein Räderwerk ein, so zerbricht er, anstatt sich anzupassen.
Wo sich ein Mechanismus veränderten Verhältnissen selbst anpaßt, z. B. durch
automatische Umsteuerung, da hat ihn eben der Mechanikus auch zu dieser
Leistung durch eine darauf berechnete Einrichtung befähigt. Und welch neues,
schönes Licht verbreitet die tiefere Einsicht, die uns die darwinischen Forscher
erschlossen haben, über längst bekannte Erscheinungen und Einrichtungen der
Natur, z. V. über die Geschlechtlichkeit! Die einzelligen Wesen der untersten
Stufe haben kein Geschlecht; sie wachsen, und nachdem sie eine gewisse Größe
erlangt haben, teilen sie sich; so erfüllen sie das Meer mit Massen organischer
Stoffe. Allmählich differenzirt sich die formlose organische Masse, und es
entstehen zwei Arten von Zellen: Fortpflanzungszellen, denen die wunderbare
Kraft innewohnt, ein dem Muttertier ähnliches Tier aufzubauen, und somatische
Zellen. Der aus Zellen dieser zweiten Art bestehende Körper ist anfänglich
weiter nichts als ein Sack, der die Bestimmung hat, eine große Menge Eizellen
ni sich zu tragen, sie zu schütze» und zu nähren. Sind sie reif, so platzt der
Sack, die Jungen quellen heraus, und das vordem lebendige Futteral ver¬
trocknet und zerfällt. Allmühlich wächst die Körpermasse im Verhältnis zur


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[0621] vom Aeudarwinismus richtig aufzufassen und berechtigte Schlüsse auf die Natur des Weltganzen daraus zu ziehen? Würde irgend ein verständiger Mensch Ergebnisse annehmen, die gar nicht verstanden werden könnten, deren Nichtigkeit daher nicht kontrollirt werden könnte, und würde sich die Menschheit den unfehlbaren Aussprüchen von Fachgelehrten beugen, deren Wissenschaft die Natur einer Geheimlehre an sich trüge? Den Naturforschern die Überschätzung ihres Könnens und ihrer Ergebnisse übel zu nehmen, sind wir weit entfernt. Solche Überschätzung feuert den Forschungseifer an und ist daher in ähnlicher Weise nützlich und notwendig, wie es der Atheismus vorübergehend gewesen ist. Daß es dieser auch jetzt noch sei, vermögen wir allerdings nicht zu glauben. Nachdem die gebildete Menschheit erkannt hat, wie schöne, die Naturerkenntnis bereichernde und auch praktische wertvolle Entdeckungen mit diesen Hhvothesen und Methoden gemacht werden können, werden sie in Zukunft auch von solchen angewandt werden, die sehr weit davon entfernt sind, Gott zu leugnen, wenn sie auch die Forderung der wissenschaftlichen Methode erfüllen, ihn bei der Untersuchung außer Ansatz zu lassen. Schließlich kommt der Theismus dabei auf seine Rechnung, denn alle Ergebnisse der Darwinianer sind neue Stützen für ihn. Welche reiche Fülle von wunderbaren Zweckmäßigkeiten haben sie aufgedeckt! Bei Weismann kommt das Wort, das die Darwinianer in ihrer ersten Freude über die ent¬ deckte Alleinherrschaft der Kausalität schon aus ihrem Wörterbuche gestrichen hatten, aller Augenblicke vor, und es kann uns wenig grämen, daß er in jeder Zweckmäßigkeit deu Beweis für eine erfolgte Anpassung sieht, wissen wir doch, daß es einem Mechanismus gar nicht einfüllt, sich anzupassen; greift eine überlegne Kraft in sein Räderwerk ein, so zerbricht er, anstatt sich anzupassen. Wo sich ein Mechanismus veränderten Verhältnissen selbst anpaßt, z. B. durch automatische Umsteuerung, da hat ihn eben der Mechanikus auch zu dieser Leistung durch eine darauf berechnete Einrichtung befähigt. Und welch neues, schönes Licht verbreitet die tiefere Einsicht, die uns die darwinischen Forscher erschlossen haben, über längst bekannte Erscheinungen und Einrichtungen der Natur, z. V. über die Geschlechtlichkeit! Die einzelligen Wesen der untersten Stufe haben kein Geschlecht; sie wachsen, und nachdem sie eine gewisse Größe erlangt haben, teilen sie sich; so erfüllen sie das Meer mit Massen organischer Stoffe. Allmählich differenzirt sich die formlose organische Masse, und es entstehen zwei Arten von Zellen: Fortpflanzungszellen, denen die wunderbare Kraft innewohnt, ein dem Muttertier ähnliches Tier aufzubauen, und somatische Zellen. Der aus Zellen dieser zweiten Art bestehende Körper ist anfänglich weiter nichts als ein Sack, der die Bestimmung hat, eine große Menge Eizellen ni sich zu tragen, sie zu schütze» und zu nähren. Sind sie reif, so platzt der Sack, die Jungen quellen heraus, und das vordem lebendige Futteral ver¬ trocknet und zerfällt. Allmühlich wächst die Körpermasse im Verhältnis zur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/621>, abgerufen am 23.07.2024.