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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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vom Neudarwinismus

fallendsten in der Architektur der schwammigen Substanz der Röhrenknochen
bei den höhern Wirbeltieren uns entgegentritt.^) Die Spongiosci der Knochen
ist nach dem technischen Prinzip der Gewölbestruktur gebildet, indem sie sich
aus zahlreichen kleinen Knochenbälkchen zusammensetzt, die alle in der Richtung
des stärksten Druckes und Zuges liegen, also so angeordnet sind, wie es ge¬
schehen mußte, wenn die höchste Festigkeit mit dem geringsten Materialverbrauch
erreicht werden sollte. Nun ist aber die Richtung, Stellung und Stärke dieser
Knochenbälkchen nicht etwa schon im voraus bestimmt und angeboren, sondern
sie richtet sich nach den Umständen. Wird der Knochen gebrochen und heilt
schief wieder zusammen, so ordnen sich die Spougiabälkchen in neuer Weise an,
und zwar wieder so, daß sie in die nun veränderte Richtung des stärksten
Druckes und Zuges zu liegen kommen. Sie vermögen sich also den neuen
Verhältnissen anzupassen." Zur Erklärung dieser Erscheinung nimmt Weismann
mit Wilhelm Roux einen Kampf ums Dasein innerhalb des Organismus an
als Grundlage einer "Jntraselektion" zwischen den Zellen. Nur führt er diese
Anpassungsfähigkeit des Zellengewebes der Knochen nicht, wie Roux, aus¬
schließlich auf die Jntraselektion zurück, sondern läßt den Selektionsprozeß der
Organismen unter einander mitwirken. Und was nun die Vererbung betrifft,
so heißt es: "Nicht die einzelnen zweckmäßigen Strukturen werden vererbt,
sondern die Qualität des Materials, der Bausteine, aus denen Jntraselektion
sie in jedem Einzelleben neu wieder aufbaut." Nichts leichter als das! wie
jener alles kommende junge Architekt in der Banmeisterprüfung jede seiner Ant¬
worten einleitete: man braucht ja nur den Balken, Steinen und Eisenschienen
die erforderliche Qualität zu geben, und sie werden sich von selbst zu einer
wunderbar kunstreichen Brücke zusammenfügen! Nichts leichter anch, als den
verwickelten Nervenapparat des Laubfrosches dnrch Selektion entstanden zu
denken, der bewirkt, daß, wenn starkes Licht sein Auge trifft, seine Haut sich
grün färbt, während sie dunkelbraun wird, wenn die Lichteinwirkung auf das
Auge aufhört. Man braucht ja nur anzunehmen, daß alle Laubfrösche gefressen
werden, die dieser Vorrichtung ermangeln, so wird sich eine Leitung, die die
Netzhaut des Auges, das Gehirn, die Hautnerven und die Farbstoffzellen zu
einem leicht und sicher wirkenden Mechanismus verbindet, im Laufe von einigen
Millionen Jahren unfehlbar bilden!

Und nun der Bienenstaat! Weismann behandelt ihn in der Schrift über
die äußern Einflüsse ausführlich, um zu zeigen, daß die kargere Fütterung
der Arbeiteriunenlarven nicht die Ursache ist, die sie zu Arbeiterinnen macht,
sondern nur der Reiz, der ihre Anlage, Arbeitsbienen zu werden, auslöst. "Ich



^) Vor längerer Zeit haben nur in Westermanns Monatsheften einen bis in die kleinsten
Einzelheiten durchgeführten Vergleich der Knochenstruktur mit dein genialen Hänge- und Sprenge¬
werke der Firth of Forthbrücke gelesen, wissen aber nicht, ob das die Arbeit von Meyer ist, die
Weismann meint.
Grenzboten II 1897 77
vom Neudarwinismus

fallendsten in der Architektur der schwammigen Substanz der Röhrenknochen
bei den höhern Wirbeltieren uns entgegentritt.^) Die Spongiosci der Knochen
ist nach dem technischen Prinzip der Gewölbestruktur gebildet, indem sie sich
aus zahlreichen kleinen Knochenbälkchen zusammensetzt, die alle in der Richtung
des stärksten Druckes und Zuges liegen, also so angeordnet sind, wie es ge¬
schehen mußte, wenn die höchste Festigkeit mit dem geringsten Materialverbrauch
erreicht werden sollte. Nun ist aber die Richtung, Stellung und Stärke dieser
Knochenbälkchen nicht etwa schon im voraus bestimmt und angeboren, sondern
sie richtet sich nach den Umständen. Wird der Knochen gebrochen und heilt
schief wieder zusammen, so ordnen sich die Spougiabälkchen in neuer Weise an,
und zwar wieder so, daß sie in die nun veränderte Richtung des stärksten
Druckes und Zuges zu liegen kommen. Sie vermögen sich also den neuen
Verhältnissen anzupassen." Zur Erklärung dieser Erscheinung nimmt Weismann
mit Wilhelm Roux einen Kampf ums Dasein innerhalb des Organismus an
als Grundlage einer „Jntraselektion" zwischen den Zellen. Nur führt er diese
Anpassungsfähigkeit des Zellengewebes der Knochen nicht, wie Roux, aus¬
schließlich auf die Jntraselektion zurück, sondern läßt den Selektionsprozeß der
Organismen unter einander mitwirken. Und was nun die Vererbung betrifft,
so heißt es: „Nicht die einzelnen zweckmäßigen Strukturen werden vererbt,
sondern die Qualität des Materials, der Bausteine, aus denen Jntraselektion
sie in jedem Einzelleben neu wieder aufbaut." Nichts leichter als das! wie
jener alles kommende junge Architekt in der Banmeisterprüfung jede seiner Ant¬
worten einleitete: man braucht ja nur den Balken, Steinen und Eisenschienen
die erforderliche Qualität zu geben, und sie werden sich von selbst zu einer
wunderbar kunstreichen Brücke zusammenfügen! Nichts leichter anch, als den
verwickelten Nervenapparat des Laubfrosches dnrch Selektion entstanden zu
denken, der bewirkt, daß, wenn starkes Licht sein Auge trifft, seine Haut sich
grün färbt, während sie dunkelbraun wird, wenn die Lichteinwirkung auf das
Auge aufhört. Man braucht ja nur anzunehmen, daß alle Laubfrösche gefressen
werden, die dieser Vorrichtung ermangeln, so wird sich eine Leitung, die die
Netzhaut des Auges, das Gehirn, die Hautnerven und die Farbstoffzellen zu
einem leicht und sicher wirkenden Mechanismus verbindet, im Laufe von einigen
Millionen Jahren unfehlbar bilden!

Und nun der Bienenstaat! Weismann behandelt ihn in der Schrift über
die äußern Einflüsse ausführlich, um zu zeigen, daß die kargere Fütterung
der Arbeiteriunenlarven nicht die Ursache ist, die sie zu Arbeiterinnen macht,
sondern nur der Reiz, der ihre Anlage, Arbeitsbienen zu werden, auslöst. „Ich



^) Vor längerer Zeit haben nur in Westermanns Monatsheften einen bis in die kleinsten
Einzelheiten durchgeführten Vergleich der Knochenstruktur mit dein genialen Hänge- und Sprenge¬
werke der Firth of Forthbrücke gelesen, wissen aber nicht, ob das die Arbeit von Meyer ist, die
Weismann meint.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/617>, abgerufen am 23.07.2024.