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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Der Schwund des Ehrgefühls

Der deutsche Michel ist ja etwas schwerfällig, er überlegt erst dreimal, ehe
er etwas thut, aber wer über gewisse Dinge nicht zornig werden, nicht die
Faust ballen kann, der hat kein männliches Ehrgefühl mehr. Es muß auch
innerhalb der deutschen Grenzpfähle schon zu viele Leute geben, die nur noch
denken, aber nicht mehr fühlen können, die sich ärgern, auf Menschen zu
stoßen, die durch die That beweisen, daß höhere Werte tierische Instinkte
meistern können. Sie suhlen Behagen, wenn an menschliche Größe der Cynismus
herankriecht, wenn das Erhabne beschmutzt wird.

Man hat in der Masse kein Verständnis mehr für den Adlerflug der
Ideale, nur deshalb kann damals das deutsche Volk geschwiegen haben. Für
den aber, der die Erscheinungen der Zeit mit ihren Wirkungen auf engere und
weitere Kreise der Bevölkerung verfolgt, kann es kaum einem Zweifel unter¬
liegen, daß wirkliche Vornehmheit, die Vornehmheit der Gesinnung und des
Charakters den Rückzug antritt, daß die Begriffe über Mannesehre und ihre
öffentliche Unantastbarkeit sich zu verschieben beginnen. Und das kann auch
gar nicht Wunder nehmen. Es hat wohl nie eine Zeit gegeben, die so vor
dem Menschen als "Lebewesen" auf den Knieen gerutscht hätte, die so bestrebt
gewesen wäre zu behaupten, daß Mensch Mensch sei mit gleichen Trieben,
gleichen Anlagen, gleichen Bedürfnissen. Darnach giebt es nur noch Masfen-
menschen, die als gleichwertige, unterschiedlose Exemplare der Gattung in die
Welt gesetzt werden. Nach gewissen Schriftstellern, denen in großen Kreisen
eine Art von päpstlicher Unfehlbarkeit eingeräumt wird, sollte man überhaupt
denken, daß der größte Teil der Menschheit aus verkannten oder zerstörten
Genies bestehe, denen nur die Gleichartigkeit der Daseinsbedingungen gefehlt
habe, um sich auf unserm miserabeln Planeten zu Bildern der Vollkommen¬
heit zu entwickeln. Die Entscheidung über solche Theorien kann nur die Zu¬
kunft bringen, und da hierzu etwa fünfhundert bis tausend Jahre nötig sein
würden, will man die Geschichte nicht ruhig abwarten. Man sagt sich, ob es
nicht gescheiter wäre, alle Menschen einmal auf dasselbe niedrige Niveau zu
bringen, alles, was über das Alltägliche und Gemeine emporragt, auf dieselbe
Tiefe hinabzudrücken. Man nähme am liebsten ein Riesenbrett, um damit
über die Köpfe der Menschheit hinwegznfahren. Da ist einer, der sich anders
entwickelt hat, den Kopf höher trägt als die Masse! Duck dich! Den Kopf
wollen wir dir vorläufig noch lassen, aber die Kniee mußt du beugen oder
den Rücken krumm machen, das große Brett kommt!

Solche, die überhaupt noch das Gefühl der Männlichkeit haben, die sich
nicht nur dann sicher in ihrem Denken und Handeln fühlen, wenn kompakte
Mehrheiten hinter ihnen Bravo rufen, die werden in unsrer Zeit zusammen¬
gedrückt, zusammengequetscht, oder sie stehen mit verschränkten Armen an dem
breiten Strom des öffentlichen Lebens und blicken ihm mit dem pessimistischen
Lächeln des klugen Mannes nach, der sich von dem Anblick des mächtig


Der Schwund des Ehrgefühls

Der deutsche Michel ist ja etwas schwerfällig, er überlegt erst dreimal, ehe
er etwas thut, aber wer über gewisse Dinge nicht zornig werden, nicht die
Faust ballen kann, der hat kein männliches Ehrgefühl mehr. Es muß auch
innerhalb der deutschen Grenzpfähle schon zu viele Leute geben, die nur noch
denken, aber nicht mehr fühlen können, die sich ärgern, auf Menschen zu
stoßen, die durch die That beweisen, daß höhere Werte tierische Instinkte
meistern können. Sie suhlen Behagen, wenn an menschliche Größe der Cynismus
herankriecht, wenn das Erhabne beschmutzt wird.

Man hat in der Masse kein Verständnis mehr für den Adlerflug der
Ideale, nur deshalb kann damals das deutsche Volk geschwiegen haben. Für
den aber, der die Erscheinungen der Zeit mit ihren Wirkungen auf engere und
weitere Kreise der Bevölkerung verfolgt, kann es kaum einem Zweifel unter¬
liegen, daß wirkliche Vornehmheit, die Vornehmheit der Gesinnung und des
Charakters den Rückzug antritt, daß die Begriffe über Mannesehre und ihre
öffentliche Unantastbarkeit sich zu verschieben beginnen. Und das kann auch
gar nicht Wunder nehmen. Es hat wohl nie eine Zeit gegeben, die so vor
dem Menschen als „Lebewesen" auf den Knieen gerutscht hätte, die so bestrebt
gewesen wäre zu behaupten, daß Mensch Mensch sei mit gleichen Trieben,
gleichen Anlagen, gleichen Bedürfnissen. Darnach giebt es nur noch Masfen-
menschen, die als gleichwertige, unterschiedlose Exemplare der Gattung in die
Welt gesetzt werden. Nach gewissen Schriftstellern, denen in großen Kreisen
eine Art von päpstlicher Unfehlbarkeit eingeräumt wird, sollte man überhaupt
denken, daß der größte Teil der Menschheit aus verkannten oder zerstörten
Genies bestehe, denen nur die Gleichartigkeit der Daseinsbedingungen gefehlt
habe, um sich auf unserm miserabeln Planeten zu Bildern der Vollkommen¬
heit zu entwickeln. Die Entscheidung über solche Theorien kann nur die Zu¬
kunft bringen, und da hierzu etwa fünfhundert bis tausend Jahre nötig sein
würden, will man die Geschichte nicht ruhig abwarten. Man sagt sich, ob es
nicht gescheiter wäre, alle Menschen einmal auf dasselbe niedrige Niveau zu
bringen, alles, was über das Alltägliche und Gemeine emporragt, auf dieselbe
Tiefe hinabzudrücken. Man nähme am liebsten ein Riesenbrett, um damit
über die Köpfe der Menschheit hinwegznfahren. Da ist einer, der sich anders
entwickelt hat, den Kopf höher trägt als die Masse! Duck dich! Den Kopf
wollen wir dir vorläufig noch lassen, aber die Kniee mußt du beugen oder
den Rücken krumm machen, das große Brett kommt!

Solche, die überhaupt noch das Gefühl der Männlichkeit haben, die sich
nicht nur dann sicher in ihrem Denken und Handeln fühlen, wenn kompakte
Mehrheiten hinter ihnen Bravo rufen, die werden in unsrer Zeit zusammen¬
gedrückt, zusammengequetscht, oder sie stehen mit verschränkten Armen an dem
breiten Strom des öffentlichen Lebens und blicken ihm mit dem pessimistischen
Lächeln des klugen Mannes nach, der sich von dem Anblick des mächtig


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[0607] Der Schwund des Ehrgefühls Der deutsche Michel ist ja etwas schwerfällig, er überlegt erst dreimal, ehe er etwas thut, aber wer über gewisse Dinge nicht zornig werden, nicht die Faust ballen kann, der hat kein männliches Ehrgefühl mehr. Es muß auch innerhalb der deutschen Grenzpfähle schon zu viele Leute geben, die nur noch denken, aber nicht mehr fühlen können, die sich ärgern, auf Menschen zu stoßen, die durch die That beweisen, daß höhere Werte tierische Instinkte meistern können. Sie suhlen Behagen, wenn an menschliche Größe der Cynismus herankriecht, wenn das Erhabne beschmutzt wird. Man hat in der Masse kein Verständnis mehr für den Adlerflug der Ideale, nur deshalb kann damals das deutsche Volk geschwiegen haben. Für den aber, der die Erscheinungen der Zeit mit ihren Wirkungen auf engere und weitere Kreise der Bevölkerung verfolgt, kann es kaum einem Zweifel unter¬ liegen, daß wirkliche Vornehmheit, die Vornehmheit der Gesinnung und des Charakters den Rückzug antritt, daß die Begriffe über Mannesehre und ihre öffentliche Unantastbarkeit sich zu verschieben beginnen. Und das kann auch gar nicht Wunder nehmen. Es hat wohl nie eine Zeit gegeben, die so vor dem Menschen als „Lebewesen" auf den Knieen gerutscht hätte, die so bestrebt gewesen wäre zu behaupten, daß Mensch Mensch sei mit gleichen Trieben, gleichen Anlagen, gleichen Bedürfnissen. Darnach giebt es nur noch Masfen- menschen, die als gleichwertige, unterschiedlose Exemplare der Gattung in die Welt gesetzt werden. Nach gewissen Schriftstellern, denen in großen Kreisen eine Art von päpstlicher Unfehlbarkeit eingeräumt wird, sollte man überhaupt denken, daß der größte Teil der Menschheit aus verkannten oder zerstörten Genies bestehe, denen nur die Gleichartigkeit der Daseinsbedingungen gefehlt habe, um sich auf unserm miserabeln Planeten zu Bildern der Vollkommen¬ heit zu entwickeln. Die Entscheidung über solche Theorien kann nur die Zu¬ kunft bringen, und da hierzu etwa fünfhundert bis tausend Jahre nötig sein würden, will man die Geschichte nicht ruhig abwarten. Man sagt sich, ob es nicht gescheiter wäre, alle Menschen einmal auf dasselbe niedrige Niveau zu bringen, alles, was über das Alltägliche und Gemeine emporragt, auf dieselbe Tiefe hinabzudrücken. Man nähme am liebsten ein Riesenbrett, um damit über die Köpfe der Menschheit hinwegznfahren. Da ist einer, der sich anders entwickelt hat, den Kopf höher trägt als die Masse! Duck dich! Den Kopf wollen wir dir vorläufig noch lassen, aber die Kniee mußt du beugen oder den Rücken krumm machen, das große Brett kommt! Solche, die überhaupt noch das Gefühl der Männlichkeit haben, die sich nicht nur dann sicher in ihrem Denken und Handeln fühlen, wenn kompakte Mehrheiten hinter ihnen Bravo rufen, die werden in unsrer Zeit zusammen¬ gedrückt, zusammengequetscht, oder sie stehen mit verschränkten Armen an dem breiten Strom des öffentlichen Lebens und blicken ihm mit dem pessimistischen Lächeln des klugen Mannes nach, der sich von dem Anblick des mächtig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/607>, abgerufen am 23.07.2024.