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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst

Der erweiterte Gesichtskreis unsrer Zeit macht nur ein Spezialisiren möglich,
wenn man nicht in Oberflächlichkeit verfallen will, und läßt eine harmonische
Abrundung der menschlichen Bildung nicht mehr aufkommen. Die einseitigen
Anschauungsweisen der verschiednen Stände treten zu einander in feindlichen
Gegensatz und werden einander nicht gerecht. So bleibt nichts übrig, als den
Mann der Wissenschaft rechnen und den Künstler bilden zu lassen; der eine
wird seine Aufgabe gewöhnlich darin erkennen, die Zweckmäßigkeit festzustellen,
das notwendige Material zu berechnen und jedes Mehr als einen Fehler an¬
zusehen, während die Kunst gerade des Überschusses an Material für ihre
Formenbildung bedarf. Wo es aber nicht auf das Material ankommt, da
entscheidet der Geschmack, und in dieser Beziehung ist das Handwerk duldsamer
gegen die Kunst als die Wissenschaft.

Gegenwärtig ist die Kunst selten mehr als ein kostspieliges Anhängsel,
das, wo Geld übrig ist, hinter den großen Bedürfnisfragen herläuft. Wenn
ein geistreicher Kunstkenner vor einiger Zeit versuchte, ans den Eisenkonstruktionen
der Neuzeit, die auf der Zerreißungsfestigkeit beruhen, auf eine neue Bau¬
weise zu schließen, weil sich der Horizontalstil des Altertums auf die Zer-
brechungsfestigkeit, der Gewölbebau des Mittelalters auf die Zerdrückungs-
festigkeit gründete, war das wohl mehr ein Spiel mit Analogien. Mag sich
aber ein neuer Stil darauf gründen lassen oder nicht, auf keinen Fall wird
in dieser Richtung ein Fortschritt möglich sein, wenn nicht Kunst und Wissen¬
schaft ein engeres Bündnis mit einander eingehen, als es meistens der
Fall ist.

Leider sind die Begriffe Wissenschaft und Kunst vielfach einander feindlich,
und die Ansicht, "Schön ist, was richtig ausgerechnet ist," kann man heute
nicht selten hören. Die Leistung des Künstlers wird vielfach nur als ein über¬
gehängtes Kleid augesehen, das mit der Konstruktion nicht einmal in symbo¬
lischem Zusammenhang zu stehen brauche. Wer wird aber auch die durch
Kolossalitüt der Ausdehnung hervorragenden Bedürfnisbauteu unsrer Tage für
ein Gebiet ansehen, das die Kunst für sich in Anspruch nehmen möchte? So
wenig wie die Pyramiden der Ägypter einer künstlerischen Ausbildung fähig
waren, so wenig wird es eine Uberbrückung des La-mal 1a Nxmolu; sein. Bei
der Großartigkeit der Anlage räumt die Kunst das Feld vor dem Erhabne",
und die Schönheit hat sich zu alleu Zeiten lieber eine Zuflucht in bescheidnern
Grenzen gesucht.




Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst

Der erweiterte Gesichtskreis unsrer Zeit macht nur ein Spezialisiren möglich,
wenn man nicht in Oberflächlichkeit verfallen will, und läßt eine harmonische
Abrundung der menschlichen Bildung nicht mehr aufkommen. Die einseitigen
Anschauungsweisen der verschiednen Stände treten zu einander in feindlichen
Gegensatz und werden einander nicht gerecht. So bleibt nichts übrig, als den
Mann der Wissenschaft rechnen und den Künstler bilden zu lassen; der eine
wird seine Aufgabe gewöhnlich darin erkennen, die Zweckmäßigkeit festzustellen,
das notwendige Material zu berechnen und jedes Mehr als einen Fehler an¬
zusehen, während die Kunst gerade des Überschusses an Material für ihre
Formenbildung bedarf. Wo es aber nicht auf das Material ankommt, da
entscheidet der Geschmack, und in dieser Beziehung ist das Handwerk duldsamer
gegen die Kunst als die Wissenschaft.

Gegenwärtig ist die Kunst selten mehr als ein kostspieliges Anhängsel,
das, wo Geld übrig ist, hinter den großen Bedürfnisfragen herläuft. Wenn
ein geistreicher Kunstkenner vor einiger Zeit versuchte, ans den Eisenkonstruktionen
der Neuzeit, die auf der Zerreißungsfestigkeit beruhen, auf eine neue Bau¬
weise zu schließen, weil sich der Horizontalstil des Altertums auf die Zer-
brechungsfestigkeit, der Gewölbebau des Mittelalters auf die Zerdrückungs-
festigkeit gründete, war das wohl mehr ein Spiel mit Analogien. Mag sich
aber ein neuer Stil darauf gründen lassen oder nicht, auf keinen Fall wird
in dieser Richtung ein Fortschritt möglich sein, wenn nicht Kunst und Wissen¬
schaft ein engeres Bündnis mit einander eingehen, als es meistens der
Fall ist.

Leider sind die Begriffe Wissenschaft und Kunst vielfach einander feindlich,
und die Ansicht, „Schön ist, was richtig ausgerechnet ist," kann man heute
nicht selten hören. Die Leistung des Künstlers wird vielfach nur als ein über¬
gehängtes Kleid augesehen, das mit der Konstruktion nicht einmal in symbo¬
lischem Zusammenhang zu stehen brauche. Wer wird aber auch die durch
Kolossalitüt der Ausdehnung hervorragenden Bedürfnisbauteu unsrer Tage für
ein Gebiet ansehen, das die Kunst für sich in Anspruch nehmen möchte? So
wenig wie die Pyramiden der Ägypter einer künstlerischen Ausbildung fähig
waren, so wenig wird es eine Uberbrückung des La-mal 1a Nxmolu; sein. Bei
der Großartigkeit der Anlage räumt die Kunst das Feld vor dem Erhabne»,
und die Schönheit hat sich zu alleu Zeiten lieber eine Zuflucht in bescheidnern
Grenzen gesucht.




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[0589] Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst Der erweiterte Gesichtskreis unsrer Zeit macht nur ein Spezialisiren möglich, wenn man nicht in Oberflächlichkeit verfallen will, und läßt eine harmonische Abrundung der menschlichen Bildung nicht mehr aufkommen. Die einseitigen Anschauungsweisen der verschiednen Stände treten zu einander in feindlichen Gegensatz und werden einander nicht gerecht. So bleibt nichts übrig, als den Mann der Wissenschaft rechnen und den Künstler bilden zu lassen; der eine wird seine Aufgabe gewöhnlich darin erkennen, die Zweckmäßigkeit festzustellen, das notwendige Material zu berechnen und jedes Mehr als einen Fehler an¬ zusehen, während die Kunst gerade des Überschusses an Material für ihre Formenbildung bedarf. Wo es aber nicht auf das Material ankommt, da entscheidet der Geschmack, und in dieser Beziehung ist das Handwerk duldsamer gegen die Kunst als die Wissenschaft. Gegenwärtig ist die Kunst selten mehr als ein kostspieliges Anhängsel, das, wo Geld übrig ist, hinter den großen Bedürfnisfragen herläuft. Wenn ein geistreicher Kunstkenner vor einiger Zeit versuchte, ans den Eisenkonstruktionen der Neuzeit, die auf der Zerreißungsfestigkeit beruhen, auf eine neue Bau¬ weise zu schließen, weil sich der Horizontalstil des Altertums auf die Zer- brechungsfestigkeit, der Gewölbebau des Mittelalters auf die Zerdrückungs- festigkeit gründete, war das wohl mehr ein Spiel mit Analogien. Mag sich aber ein neuer Stil darauf gründen lassen oder nicht, auf keinen Fall wird in dieser Richtung ein Fortschritt möglich sein, wenn nicht Kunst und Wissen¬ schaft ein engeres Bündnis mit einander eingehen, als es meistens der Fall ist. Leider sind die Begriffe Wissenschaft und Kunst vielfach einander feindlich, und die Ansicht, „Schön ist, was richtig ausgerechnet ist," kann man heute nicht selten hören. Die Leistung des Künstlers wird vielfach nur als ein über¬ gehängtes Kleid augesehen, das mit der Konstruktion nicht einmal in symbo¬ lischem Zusammenhang zu stehen brauche. Wer wird aber auch die durch Kolossalitüt der Ausdehnung hervorragenden Bedürfnisbauteu unsrer Tage für ein Gebiet ansehen, das die Kunst für sich in Anspruch nehmen möchte? So wenig wie die Pyramiden der Ägypter einer künstlerischen Ausbildung fähig waren, so wenig wird es eine Uberbrückung des La-mal 1a Nxmolu; sein. Bei der Großartigkeit der Anlage räumt die Kunst das Feld vor dem Erhabne», und die Schönheit hat sich zu alleu Zeiten lieber eine Zuflucht in bescheidnern Grenzen gesucht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/589>, abgerufen am 23.07.2024.