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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst

rechnen dürfte wohl noch nicht gelungen sein; man macht sie eben so stark wie
ähnliche Bauten, die bis jetzt unter gleichen Verhältnissen dem stärksten See¬
gange Stand gehalten haben. Auch bei dem Schiffbau folgt man im wesent¬
lichen Erfahrungssätzen. Die Form, die ein Schiffskörper unter Wasser erhalten
muß, ist im Laufe der Zeiten durch die Erfahrung aufs äußerste ausgebildet
worden. Der Schiffbauer weiß ganz genau, wie ein Fahrzeug gestaltet sein
muß, um möglichst schnell das Wasser zu durchschneiden, sich gegen die Wellen
zu wehren, bei seitlichem Seegange möglichst wenig zu "Schlingern." Zwar
setzt die richtige Erkenntnis der Tugenden eines Seefahrzeugs eine Betrachtung
auf wissenschaftlicher Grundlage voraus; aber in ihrer mathematischen Vorher-
berechnnng dürfte die Wissenschaft noch lange nicht zum Abschluß gekommen
sein. Wenigstens läßt sich die Schiffsform, die für verschiedne Anforderungen
die zweckmäßigste ist, noch nicht in demselben Grade wissenschaftlich ermitteln,
wie man die Tragfähigkeit einer Brücke oder die Leistung einer Dampfmaschine
berechnet. Dem Schiffbauer sind die Gewohnheitssätze, nach denen er zu banen
hat, zum Dogma geworden, über deren innere Gründe viel nachzudenken liegt
ihm fern; er besorgt, vielleicht nicht mit Unrecht, wenn er anfange zu rechnen,
sich zum Nachteil der Sache zu verrechnen, die Erfahrung ist ihm zuverlässiger
als eine unfertige Wissenschaft. Es herrscht eben auch hier das allgemeine
Gesetz, daß sich eine Potenz unbewußt und unbekümmert um die innern Gründe
im Laufe der Zeiten von selbst entwickelt und sich der Vollkommenheit nähert,
und daß erst a xostsriori die Wissenschaft ihr inneres Wesen ergründet.

Zum Schluß möchte ich noch die Frage berühren, wie sich die Kunst zur
Wissenschaft und zum Handwerk verhält- Nun, die Kunst schließt lieber mit
dein Handwerk als mit der Wissenschaft ein Bündnis. Ich habe bei meinen
Betrachtungen hauptsächlich die rechnenden Wissenschaften im Auge gehabt und
der Knnstphilosophie kaum gedacht. Wenn schon zu viel abstraktes Denken,
gelehrte Reflexion einer künstlerisch schaffenden Phantasie wenig förderlich sein
kann und ein Künstler von vornherein verloren ist, der voll von kunstrichter¬
licher Weisheit sich mit der Absicht hinsetzt, eine Idee in harmonischer Durch¬
dringung des Stoffs zum Ausdruck zu bringen, damit nur ja kein Kunstrichter
ein Titelchen an seinem Werke auszusetzen finde, so werden die rechnenden
Wissenschaften noch viel weniger geeignet sein, die Erfindung neuer Kunstformen
zu begünstige".

Den Hellenen würden schwerlich die wunderbaren Formen ihrer Baukunst
eingegeben worden sein, wenn sie Rechner in unserm Sinne gewesen wären.
spezialisirende Einseitigkeit lag ihnen fern. Der beschränkte Gesichtskreis
der damaligen Welt machte eine abgerundete allseitige Bildung möglich,
und der Einzelne konnte sein Ich zu harmonischer Ausbildung bringen ohne
die Ecken der modernen Einseitigkeit. Eine gleichmäßige allgemeine Bildung
war Gemeingut des Architekten, wie des Staatsmannes oder des Philosophen.


Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst

rechnen dürfte wohl noch nicht gelungen sein; man macht sie eben so stark wie
ähnliche Bauten, die bis jetzt unter gleichen Verhältnissen dem stärksten See¬
gange Stand gehalten haben. Auch bei dem Schiffbau folgt man im wesent¬
lichen Erfahrungssätzen. Die Form, die ein Schiffskörper unter Wasser erhalten
muß, ist im Laufe der Zeiten durch die Erfahrung aufs äußerste ausgebildet
worden. Der Schiffbauer weiß ganz genau, wie ein Fahrzeug gestaltet sein
muß, um möglichst schnell das Wasser zu durchschneiden, sich gegen die Wellen
zu wehren, bei seitlichem Seegange möglichst wenig zu „Schlingern." Zwar
setzt die richtige Erkenntnis der Tugenden eines Seefahrzeugs eine Betrachtung
auf wissenschaftlicher Grundlage voraus; aber in ihrer mathematischen Vorher-
berechnnng dürfte die Wissenschaft noch lange nicht zum Abschluß gekommen
sein. Wenigstens läßt sich die Schiffsform, die für verschiedne Anforderungen
die zweckmäßigste ist, noch nicht in demselben Grade wissenschaftlich ermitteln,
wie man die Tragfähigkeit einer Brücke oder die Leistung einer Dampfmaschine
berechnet. Dem Schiffbauer sind die Gewohnheitssätze, nach denen er zu banen
hat, zum Dogma geworden, über deren innere Gründe viel nachzudenken liegt
ihm fern; er besorgt, vielleicht nicht mit Unrecht, wenn er anfange zu rechnen,
sich zum Nachteil der Sache zu verrechnen, die Erfahrung ist ihm zuverlässiger
als eine unfertige Wissenschaft. Es herrscht eben auch hier das allgemeine
Gesetz, daß sich eine Potenz unbewußt und unbekümmert um die innern Gründe
im Laufe der Zeiten von selbst entwickelt und sich der Vollkommenheit nähert,
und daß erst a xostsriori die Wissenschaft ihr inneres Wesen ergründet.

Zum Schluß möchte ich noch die Frage berühren, wie sich die Kunst zur
Wissenschaft und zum Handwerk verhält- Nun, die Kunst schließt lieber mit
dein Handwerk als mit der Wissenschaft ein Bündnis. Ich habe bei meinen
Betrachtungen hauptsächlich die rechnenden Wissenschaften im Auge gehabt und
der Knnstphilosophie kaum gedacht. Wenn schon zu viel abstraktes Denken,
gelehrte Reflexion einer künstlerisch schaffenden Phantasie wenig förderlich sein
kann und ein Künstler von vornherein verloren ist, der voll von kunstrichter¬
licher Weisheit sich mit der Absicht hinsetzt, eine Idee in harmonischer Durch¬
dringung des Stoffs zum Ausdruck zu bringen, damit nur ja kein Kunstrichter
ein Titelchen an seinem Werke auszusetzen finde, so werden die rechnenden
Wissenschaften noch viel weniger geeignet sein, die Erfindung neuer Kunstformen
zu begünstige«.

Den Hellenen würden schwerlich die wunderbaren Formen ihrer Baukunst
eingegeben worden sein, wenn sie Rechner in unserm Sinne gewesen wären.
spezialisirende Einseitigkeit lag ihnen fern. Der beschränkte Gesichtskreis
der damaligen Welt machte eine abgerundete allseitige Bildung möglich,
und der Einzelne konnte sein Ich zu harmonischer Ausbildung bringen ohne
die Ecken der modernen Einseitigkeit. Eine gleichmäßige allgemeine Bildung
war Gemeingut des Architekten, wie des Staatsmannes oder des Philosophen.


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[0588] Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst rechnen dürfte wohl noch nicht gelungen sein; man macht sie eben so stark wie ähnliche Bauten, die bis jetzt unter gleichen Verhältnissen dem stärksten See¬ gange Stand gehalten haben. Auch bei dem Schiffbau folgt man im wesent¬ lichen Erfahrungssätzen. Die Form, die ein Schiffskörper unter Wasser erhalten muß, ist im Laufe der Zeiten durch die Erfahrung aufs äußerste ausgebildet worden. Der Schiffbauer weiß ganz genau, wie ein Fahrzeug gestaltet sein muß, um möglichst schnell das Wasser zu durchschneiden, sich gegen die Wellen zu wehren, bei seitlichem Seegange möglichst wenig zu „Schlingern." Zwar setzt die richtige Erkenntnis der Tugenden eines Seefahrzeugs eine Betrachtung auf wissenschaftlicher Grundlage voraus; aber in ihrer mathematischen Vorher- berechnnng dürfte die Wissenschaft noch lange nicht zum Abschluß gekommen sein. Wenigstens läßt sich die Schiffsform, die für verschiedne Anforderungen die zweckmäßigste ist, noch nicht in demselben Grade wissenschaftlich ermitteln, wie man die Tragfähigkeit einer Brücke oder die Leistung einer Dampfmaschine berechnet. Dem Schiffbauer sind die Gewohnheitssätze, nach denen er zu banen hat, zum Dogma geworden, über deren innere Gründe viel nachzudenken liegt ihm fern; er besorgt, vielleicht nicht mit Unrecht, wenn er anfange zu rechnen, sich zum Nachteil der Sache zu verrechnen, die Erfahrung ist ihm zuverlässiger als eine unfertige Wissenschaft. Es herrscht eben auch hier das allgemeine Gesetz, daß sich eine Potenz unbewußt und unbekümmert um die innern Gründe im Laufe der Zeiten von selbst entwickelt und sich der Vollkommenheit nähert, und daß erst a xostsriori die Wissenschaft ihr inneres Wesen ergründet. Zum Schluß möchte ich noch die Frage berühren, wie sich die Kunst zur Wissenschaft und zum Handwerk verhält- Nun, die Kunst schließt lieber mit dein Handwerk als mit der Wissenschaft ein Bündnis. Ich habe bei meinen Betrachtungen hauptsächlich die rechnenden Wissenschaften im Auge gehabt und der Knnstphilosophie kaum gedacht. Wenn schon zu viel abstraktes Denken, gelehrte Reflexion einer künstlerisch schaffenden Phantasie wenig förderlich sein kann und ein Künstler von vornherein verloren ist, der voll von kunstrichter¬ licher Weisheit sich mit der Absicht hinsetzt, eine Idee in harmonischer Durch¬ dringung des Stoffs zum Ausdruck zu bringen, damit nur ja kein Kunstrichter ein Titelchen an seinem Werke auszusetzen finde, so werden die rechnenden Wissenschaften noch viel weniger geeignet sein, die Erfindung neuer Kunstformen zu begünstige«. Den Hellenen würden schwerlich die wunderbaren Formen ihrer Baukunst eingegeben worden sein, wenn sie Rechner in unserm Sinne gewesen wären. spezialisirende Einseitigkeit lag ihnen fern. Der beschränkte Gesichtskreis der damaligen Welt machte eine abgerundete allseitige Bildung möglich, und der Einzelne konnte sein Ich zu harmonischer Ausbildung bringen ohne die Ecken der modernen Einseitigkeit. Eine gleichmäßige allgemeine Bildung war Gemeingut des Architekten, wie des Staatsmannes oder des Philosophen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/588>, abgerufen am 23.07.2024.