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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst

Eins sei hier erwähnt. Bei dem Bau des Artemistempels in Ephesus kam
es darauf an, die Schäfte der zwanzig Meter hohen Säulen aus den Marmor¬
brüchen herbeizuschleppen. Die Wege waren weich, und die Räder der Roll¬
wägen schnitten unter der kolossalen Last tief in den Erdboden ein. Da ließ
der Baumeister Chcrsiphrones in die Säulentrvmmeln eiserne Axen einsetzen
und die Blöcke ungefähr auf dieselbe Weise heranwälzen, wie man heutzutage
eine Chausseewalze bewegt.

Auch für die Konstruktionsstürken der einzelnen Gebäudeteile ergab sich
im Laufe der Zeiten das richtige Maß als Haudwerksregel. Wie manches
Widerlager mag wohl unter dem Druck der Gewölbe ausgewichen, wie manches
Gewölbe eingestürzt sein, bis man wußte, welche Stärke den Gewölben, den
Wänden, den Strebepfeilern gegeben werden müsse. Die erworbne Kenntnis
wurde von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt und schließlich wie ein tech¬
nisches Dogma, an dem ein Zweifel ausgeschlossen war, gewohnheitsmäßig an¬
gewendet. Da wundert sich die Nachwelt, wie die alten Meister immer so das
Nichtige zu treffen verstanden haben! Es ist aber sehr wohl denkbar, ja durch
die ganze Vergangenheit erwiesen, daß auch ohne die Wissenschaft auf dem
Wege der einfachen Erfahrung die allergrößten Leistungen hervorzubringen sind.

Wozu ist denn aber dann, höre ich fragen, heute ein solcher Aufwand von
Wissenschaft bei allen technischen Unternehmungen erforderlich, wenn das Hand¬
werk allein imstande ist, zu denselben Ergebnissen zu gelangen? Die Frage
ist berechtigt, und ich gestehe auch, daß man heute oft zu weit geht und die
Wissenschaft heranzieht, wo sie recht wohl entbehrt werden kann. Ich möchte
es geradezu als eine Schwäche vieler moderner Techniker bezeichnen, jeden Ent¬
wurf mit wissenschaftlichen Formeln zu illustriren, gleichviel ob sie notwendig
sind oder nicht. Für jede geringfügige und längst bewährte Konstruktion die
wissenschaftlichen Belege anzuführen, heißt doch mit der Wissenschaft Spiel
treiben; für einen Dachsparren, dessen notwendige Stärke seit Jahrhunderten
durch die Erfahrung festgesetzt ist, bedarf es doch nicht erst der Aufstellung
einer wissenschaftlichen Berechnung. Dennoch ist ein Unterschied zwischen dem
auf wissenschaftlicher Unterlage gegründeten baulichen Schaffen unsrer Tage
und dem des Altertums.

Wenn man betrachtet, wie man früher im Dunkeln tappte über den Er¬
folg, wie manche Konstruktion nur kostspieliges Experiment war, wie man, um
sicher zu gehen, einen Bauteil lieber doppelt so stark machte, als nötig war,
so sind wir doch jetzt durch den Fortschritt der Wissenschaft in den Stand
gesetzt, von vornherein das Nichtige zu berechnen und alle Verschwendung zu
vermeiden. Ich erinnere nur an die kolossalen Mauerstärken vieler alten Ge¬
bäude, ja ich kann auch erwähnen, daß in eine unsrer ersten eisernen Brücken,
in die Weichselbrücke bei Dirschau, doppelt so viel Eisen, als nötig war, noch
dazu zum Nachteil der Konstruktion, hineingebaut worden ist.


Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst

Eins sei hier erwähnt. Bei dem Bau des Artemistempels in Ephesus kam
es darauf an, die Schäfte der zwanzig Meter hohen Säulen aus den Marmor¬
brüchen herbeizuschleppen. Die Wege waren weich, und die Räder der Roll¬
wägen schnitten unter der kolossalen Last tief in den Erdboden ein. Da ließ
der Baumeister Chcrsiphrones in die Säulentrvmmeln eiserne Axen einsetzen
und die Blöcke ungefähr auf dieselbe Weise heranwälzen, wie man heutzutage
eine Chausseewalze bewegt.

Auch für die Konstruktionsstürken der einzelnen Gebäudeteile ergab sich
im Laufe der Zeiten das richtige Maß als Haudwerksregel. Wie manches
Widerlager mag wohl unter dem Druck der Gewölbe ausgewichen, wie manches
Gewölbe eingestürzt sein, bis man wußte, welche Stärke den Gewölben, den
Wänden, den Strebepfeilern gegeben werden müsse. Die erworbne Kenntnis
wurde von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt und schließlich wie ein tech¬
nisches Dogma, an dem ein Zweifel ausgeschlossen war, gewohnheitsmäßig an¬
gewendet. Da wundert sich die Nachwelt, wie die alten Meister immer so das
Nichtige zu treffen verstanden haben! Es ist aber sehr wohl denkbar, ja durch
die ganze Vergangenheit erwiesen, daß auch ohne die Wissenschaft auf dem
Wege der einfachen Erfahrung die allergrößten Leistungen hervorzubringen sind.

Wozu ist denn aber dann, höre ich fragen, heute ein solcher Aufwand von
Wissenschaft bei allen technischen Unternehmungen erforderlich, wenn das Hand¬
werk allein imstande ist, zu denselben Ergebnissen zu gelangen? Die Frage
ist berechtigt, und ich gestehe auch, daß man heute oft zu weit geht und die
Wissenschaft heranzieht, wo sie recht wohl entbehrt werden kann. Ich möchte
es geradezu als eine Schwäche vieler moderner Techniker bezeichnen, jeden Ent¬
wurf mit wissenschaftlichen Formeln zu illustriren, gleichviel ob sie notwendig
sind oder nicht. Für jede geringfügige und längst bewährte Konstruktion die
wissenschaftlichen Belege anzuführen, heißt doch mit der Wissenschaft Spiel
treiben; für einen Dachsparren, dessen notwendige Stärke seit Jahrhunderten
durch die Erfahrung festgesetzt ist, bedarf es doch nicht erst der Aufstellung
einer wissenschaftlichen Berechnung. Dennoch ist ein Unterschied zwischen dem
auf wissenschaftlicher Unterlage gegründeten baulichen Schaffen unsrer Tage
und dem des Altertums.

Wenn man betrachtet, wie man früher im Dunkeln tappte über den Er¬
folg, wie manche Konstruktion nur kostspieliges Experiment war, wie man, um
sicher zu gehen, einen Bauteil lieber doppelt so stark machte, als nötig war,
so sind wir doch jetzt durch den Fortschritt der Wissenschaft in den Stand
gesetzt, von vornherein das Nichtige zu berechnen und alle Verschwendung zu
vermeiden. Ich erinnere nur an die kolossalen Mauerstärken vieler alten Ge¬
bäude, ja ich kann auch erwähnen, daß in eine unsrer ersten eisernen Brücken,
in die Weichselbrücke bei Dirschau, doppelt so viel Eisen, als nötig war, noch
dazu zum Nachteil der Konstruktion, hineingebaut worden ist.


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[0586] Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst Eins sei hier erwähnt. Bei dem Bau des Artemistempels in Ephesus kam es darauf an, die Schäfte der zwanzig Meter hohen Säulen aus den Marmor¬ brüchen herbeizuschleppen. Die Wege waren weich, und die Räder der Roll¬ wägen schnitten unter der kolossalen Last tief in den Erdboden ein. Da ließ der Baumeister Chcrsiphrones in die Säulentrvmmeln eiserne Axen einsetzen und die Blöcke ungefähr auf dieselbe Weise heranwälzen, wie man heutzutage eine Chausseewalze bewegt. Auch für die Konstruktionsstürken der einzelnen Gebäudeteile ergab sich im Laufe der Zeiten das richtige Maß als Haudwerksregel. Wie manches Widerlager mag wohl unter dem Druck der Gewölbe ausgewichen, wie manches Gewölbe eingestürzt sein, bis man wußte, welche Stärke den Gewölben, den Wänden, den Strebepfeilern gegeben werden müsse. Die erworbne Kenntnis wurde von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt und schließlich wie ein tech¬ nisches Dogma, an dem ein Zweifel ausgeschlossen war, gewohnheitsmäßig an¬ gewendet. Da wundert sich die Nachwelt, wie die alten Meister immer so das Nichtige zu treffen verstanden haben! Es ist aber sehr wohl denkbar, ja durch die ganze Vergangenheit erwiesen, daß auch ohne die Wissenschaft auf dem Wege der einfachen Erfahrung die allergrößten Leistungen hervorzubringen sind. Wozu ist denn aber dann, höre ich fragen, heute ein solcher Aufwand von Wissenschaft bei allen technischen Unternehmungen erforderlich, wenn das Hand¬ werk allein imstande ist, zu denselben Ergebnissen zu gelangen? Die Frage ist berechtigt, und ich gestehe auch, daß man heute oft zu weit geht und die Wissenschaft heranzieht, wo sie recht wohl entbehrt werden kann. Ich möchte es geradezu als eine Schwäche vieler moderner Techniker bezeichnen, jeden Ent¬ wurf mit wissenschaftlichen Formeln zu illustriren, gleichviel ob sie notwendig sind oder nicht. Für jede geringfügige und längst bewährte Konstruktion die wissenschaftlichen Belege anzuführen, heißt doch mit der Wissenschaft Spiel treiben; für einen Dachsparren, dessen notwendige Stärke seit Jahrhunderten durch die Erfahrung festgesetzt ist, bedarf es doch nicht erst der Aufstellung einer wissenschaftlichen Berechnung. Dennoch ist ein Unterschied zwischen dem auf wissenschaftlicher Unterlage gegründeten baulichen Schaffen unsrer Tage und dem des Altertums. Wenn man betrachtet, wie man früher im Dunkeln tappte über den Er¬ folg, wie manche Konstruktion nur kostspieliges Experiment war, wie man, um sicher zu gehen, einen Bauteil lieber doppelt so stark machte, als nötig war, so sind wir doch jetzt durch den Fortschritt der Wissenschaft in den Stand gesetzt, von vornherein das Nichtige zu berechnen und alle Verschwendung zu vermeiden. Ich erinnere nur an die kolossalen Mauerstärken vieler alten Ge¬ bäude, ja ich kann auch erwähnen, daß in eine unsrer ersten eisernen Brücken, in die Weichselbrücke bei Dirschau, doppelt so viel Eisen, als nötig war, noch dazu zum Nachteil der Konstruktion, hineingebaut worden ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/586>, abgerufen am 23.07.2024.