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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst

zweifle, ob Vramante bei dem Bau des Florentiner Doms oder Michel Angelo
bei dem Bau der Peterskirche Rechnungen für die Ermittlung der Stärken
der Gewölbe und Widerlagpfeiler in wissenschaftlichem Sinne aufgestellt hat.

In Deutschland begegnen wir aber auch damals noch in den Kreisen der
Künstler und Techniker überall einer handwerksmäßigen Auffassung. Wenn auch
der Nürnberger Mathematiker und Arzt Walter Nivius auf die Alten hinweist,
den Vitruv übersetzt und darauf dringt, daß der Baumeister Geometrie ver¬
stehen solle, so berührt es doch eigentümlich, wenn man sieht, wie er sie an¬
gewendet wissen will. Überall kommt er aus die "wunderbarliche Art, Eigen¬
schaft und Gerechtigkeit" des Zirkels zurück und giebt umständlich Anleitung,
wie man mit einer Menge von geometrischen Linien aus einem El einen nu-
llten Pokal machen, wie man aus unzähligen Zirkelschlägcn Gefäße zeichnen
könne. Er steht eben noch auf dem für das Handwerk bezeichnenden Stand¬
punkte, daß er da, wo allein die freie Hand des Künstlers den Griffel führen
sollte, mit geometrischen Linien arbeitet, die mit wirklich wissenschaftlicher
Mathematik in gar keinem Zusammenhange stehen. Übrigens bedienten sich
auch Vitruv und viele Italiener in derselben Weise nicht der Geometrie, sou-
deru nur geometrischer Zirkelschläge, um die Voluten des ionischen Kapitals
zu zeichnen, während dazu doch nur die feinfühlige Hand des Künstlers imstande
ist. Im übrigen trägt Nivius die Fahne des Fortschritts tapfer voran, weist
auf die Wiedererstehung der Antike hin und klagt, daß unsre gemeinen Werk¬
meister und Steinmetzen solch "grobes Verstandes" seien, daß sie diese Dinge
nicht begreifen und machen könnten. Auch der große Dürer arbeitete mit seiner
ganzen Kraft daran, eine Theorie der Kunst aufzustellen: er studirte den
Euklid, schrieb ein nützlich Büchlein über die Unterweisung mit Zirkel und
Richtscheit, vier Bücher über die menschliche Proportion u. a. in. Wie wenig
es ihm jedoch gelang, sich über die handwerksmäßige Anschauungsweise seiner
spießbürgerlichen Umgebung zu erheben, zeigt u. a. sein Entwurf zu einem
Denkmal für einen Sieg über aufständische Bauern, den er aus Kühen, Schafen,
Käsenäpfen, Butterfässern u. tgi. in. zusammensetzen will.

Die wirklich wissenschaftliche Verwertung der Mathematik als Statik und
Mechanik in der Baukunst ist neuern Datums. Erst seit die Mathematik durch
Galilei, Newton, Leibniz u. a. zu eiuer vorher nicht gekannten Höhe erhoben
worden war, hat sie in größerm Maße Anwendung aus dem gesamten Gebiete
der Technik gefunden, und gegenwärtig ist sie die unentbehrliche Grundlage für
jede Bildung des Ingenieurs.

Man wird nun einwenden: Wenn die Gegenwart dem Techniker den
Besitz wissenschaftlicher Kenntnisse nicht erlassen kann, wie ist es denn möglich
gewesen, daß schon die alte Zeit so Ungeheures leistete, ohne die Wissenschaften
für ihre Leistungen nutzbar machen zu können? Wie war es möglich, die Pyra¬
miden, den Salomonischen Tempel zu bauen? Wie konnten ohne Statik die


Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst

zweifle, ob Vramante bei dem Bau des Florentiner Doms oder Michel Angelo
bei dem Bau der Peterskirche Rechnungen für die Ermittlung der Stärken
der Gewölbe und Widerlagpfeiler in wissenschaftlichem Sinne aufgestellt hat.

In Deutschland begegnen wir aber auch damals noch in den Kreisen der
Künstler und Techniker überall einer handwerksmäßigen Auffassung. Wenn auch
der Nürnberger Mathematiker und Arzt Walter Nivius auf die Alten hinweist,
den Vitruv übersetzt und darauf dringt, daß der Baumeister Geometrie ver¬
stehen solle, so berührt es doch eigentümlich, wenn man sieht, wie er sie an¬
gewendet wissen will. Überall kommt er aus die „wunderbarliche Art, Eigen¬
schaft und Gerechtigkeit" des Zirkels zurück und giebt umständlich Anleitung,
wie man mit einer Menge von geometrischen Linien aus einem El einen nu-
llten Pokal machen, wie man aus unzähligen Zirkelschlägcn Gefäße zeichnen
könne. Er steht eben noch auf dem für das Handwerk bezeichnenden Stand¬
punkte, daß er da, wo allein die freie Hand des Künstlers den Griffel führen
sollte, mit geometrischen Linien arbeitet, die mit wirklich wissenschaftlicher
Mathematik in gar keinem Zusammenhange stehen. Übrigens bedienten sich
auch Vitruv und viele Italiener in derselben Weise nicht der Geometrie, sou-
deru nur geometrischer Zirkelschläge, um die Voluten des ionischen Kapitals
zu zeichnen, während dazu doch nur die feinfühlige Hand des Künstlers imstande
ist. Im übrigen trägt Nivius die Fahne des Fortschritts tapfer voran, weist
auf die Wiedererstehung der Antike hin und klagt, daß unsre gemeinen Werk¬
meister und Steinmetzen solch „grobes Verstandes" seien, daß sie diese Dinge
nicht begreifen und machen könnten. Auch der große Dürer arbeitete mit seiner
ganzen Kraft daran, eine Theorie der Kunst aufzustellen: er studirte den
Euklid, schrieb ein nützlich Büchlein über die Unterweisung mit Zirkel und
Richtscheit, vier Bücher über die menschliche Proportion u. a. in. Wie wenig
es ihm jedoch gelang, sich über die handwerksmäßige Anschauungsweise seiner
spießbürgerlichen Umgebung zu erheben, zeigt u. a. sein Entwurf zu einem
Denkmal für einen Sieg über aufständische Bauern, den er aus Kühen, Schafen,
Käsenäpfen, Butterfässern u. tgi. in. zusammensetzen will.

Die wirklich wissenschaftliche Verwertung der Mathematik als Statik und
Mechanik in der Baukunst ist neuern Datums. Erst seit die Mathematik durch
Galilei, Newton, Leibniz u. a. zu eiuer vorher nicht gekannten Höhe erhoben
worden war, hat sie in größerm Maße Anwendung aus dem gesamten Gebiete
der Technik gefunden, und gegenwärtig ist sie die unentbehrliche Grundlage für
jede Bildung des Ingenieurs.

Man wird nun einwenden: Wenn die Gegenwart dem Techniker den
Besitz wissenschaftlicher Kenntnisse nicht erlassen kann, wie ist es denn möglich
gewesen, daß schon die alte Zeit so Ungeheures leistete, ohne die Wissenschaften
für ihre Leistungen nutzbar machen zu können? Wie war es möglich, die Pyra¬
miden, den Salomonischen Tempel zu bauen? Wie konnten ohne Statik die


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[0584] Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst zweifle, ob Vramante bei dem Bau des Florentiner Doms oder Michel Angelo bei dem Bau der Peterskirche Rechnungen für die Ermittlung der Stärken der Gewölbe und Widerlagpfeiler in wissenschaftlichem Sinne aufgestellt hat. In Deutschland begegnen wir aber auch damals noch in den Kreisen der Künstler und Techniker überall einer handwerksmäßigen Auffassung. Wenn auch der Nürnberger Mathematiker und Arzt Walter Nivius auf die Alten hinweist, den Vitruv übersetzt und darauf dringt, daß der Baumeister Geometrie ver¬ stehen solle, so berührt es doch eigentümlich, wenn man sieht, wie er sie an¬ gewendet wissen will. Überall kommt er aus die „wunderbarliche Art, Eigen¬ schaft und Gerechtigkeit" des Zirkels zurück und giebt umständlich Anleitung, wie man mit einer Menge von geometrischen Linien aus einem El einen nu- llten Pokal machen, wie man aus unzähligen Zirkelschlägcn Gefäße zeichnen könne. Er steht eben noch auf dem für das Handwerk bezeichnenden Stand¬ punkte, daß er da, wo allein die freie Hand des Künstlers den Griffel führen sollte, mit geometrischen Linien arbeitet, die mit wirklich wissenschaftlicher Mathematik in gar keinem Zusammenhange stehen. Übrigens bedienten sich auch Vitruv und viele Italiener in derselben Weise nicht der Geometrie, sou- deru nur geometrischer Zirkelschläge, um die Voluten des ionischen Kapitals zu zeichnen, während dazu doch nur die feinfühlige Hand des Künstlers imstande ist. Im übrigen trägt Nivius die Fahne des Fortschritts tapfer voran, weist auf die Wiedererstehung der Antike hin und klagt, daß unsre gemeinen Werk¬ meister und Steinmetzen solch „grobes Verstandes" seien, daß sie diese Dinge nicht begreifen und machen könnten. Auch der große Dürer arbeitete mit seiner ganzen Kraft daran, eine Theorie der Kunst aufzustellen: er studirte den Euklid, schrieb ein nützlich Büchlein über die Unterweisung mit Zirkel und Richtscheit, vier Bücher über die menschliche Proportion u. a. in. Wie wenig es ihm jedoch gelang, sich über die handwerksmäßige Anschauungsweise seiner spießbürgerlichen Umgebung zu erheben, zeigt u. a. sein Entwurf zu einem Denkmal für einen Sieg über aufständische Bauern, den er aus Kühen, Schafen, Käsenäpfen, Butterfässern u. tgi. in. zusammensetzen will. Die wirklich wissenschaftliche Verwertung der Mathematik als Statik und Mechanik in der Baukunst ist neuern Datums. Erst seit die Mathematik durch Galilei, Newton, Leibniz u. a. zu eiuer vorher nicht gekannten Höhe erhoben worden war, hat sie in größerm Maße Anwendung aus dem gesamten Gebiete der Technik gefunden, und gegenwärtig ist sie die unentbehrliche Grundlage für jede Bildung des Ingenieurs. Man wird nun einwenden: Wenn die Gegenwart dem Techniker den Besitz wissenschaftlicher Kenntnisse nicht erlassen kann, wie ist es denn möglich gewesen, daß schon die alte Zeit so Ungeheures leistete, ohne die Wissenschaften für ihre Leistungen nutzbar machen zu können? Wie war es möglich, die Pyra¬ miden, den Salomonischen Tempel zu bauen? Wie konnten ohne Statik die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/584>, abgerufen am 23.07.2024.