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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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zwischen Polen und Rußland zu wählen. Entweder setze der Kaiser die 1807
und 1809 begonnene Politik fort, stelle Polen her und schaffe sich damit einen
Verbündeten im Osten Europas. Oder, wenn er das nicht wolle, wenn ihm
das polnische Element nicht zuverlässig genug erscheine, so gebe er durch die
Auslieferung Danzigs dem Zaren eine ausreichende Bürgschaft gegen die Her¬
stellung Polens und schaffe damit die Grundlagen einer dauernden Freund-
schaft beider Reiche. Der Botschafter warnte den Kaiser davor, die Russen
zu unterschätzen: ihr Klima, die riesigen Ausdehnungen ihres Landes, die
Hilfsquellen ihres Staats machten sie zu furchtbaren Gegnern, wenn der Kaiser
sie auch mit noch so gewaltigen Streitkräften angreife. Der Zar sei zum
äußersten Widerstand entschlossen; er habe gesagt, daß er sich lieber nach
Kamtschatka zurückziehen als Provinzen abtreten oder einen Frieden abschließen
werde, der doch nur ein Waffenstillstand sein würde. Einen Augenblick schien
Napoleon betroffen; dann fing er an von seinen Hilfsquellen zu sprechen, von
seinen hundertzwanzig Departements, den unbesieglichen alten Soldaten von
Austerlitz und Jena, den Lombarden Eugens, den Neapolitanern Murats, den
Kroaten Marmonts, den achtzehn Heeresabteilungen des Rheinbunds, den
Westfalen Jeromes, den Hannoveranern Davouts, den Polen; er berauschte
sich an feiner Macht: eine gewonnene Schlacht werde alles entscheiden; Alexander
werde nachgeben, er habe einen griechischen, d. h. unbeständigen Charakter.
Der Tag sank dahin; draußen, im Park von Se. Cloud, vergoldeten die ster¬
benden Strahlen der Sonue die Wipfel der hohen Bäume, während es im
Saale schon dunkelte. Sieben Stunden hatte die Unterredung gedauert. Der
Kaiser war unbelehrbar; er entließ den bisherigen Botschafter in der Meinung,
daß er von den Russen ganz eingenommen sei, und es keinen Zweck habe, mit
ihm zu verhandeln. Die einzige Folge der Unterredung war, daß der Kaiser
zu der Überzeugung kam, daß ihn Rußland in diesem Jahre nicht angreifen werde,
es also nicht nötig sei, was er zunächst angenommen hatte, den Krieg hinter
der Oder aufzunehmen.

Auf diesem Punkte sind die Dinge im wesentlichen geblieben. Rußland
wäre, wenn ihm der Kaiser die Polen geopfert hätte, nicht zum Kriege ge¬
schritten; aber es würde sich auch nicht mehr zum alten Anschluß an das
napoleonische System entschlossen haben. Der Kaiser aber wollte ein Volk
nicht preisgeben, das, seit er dem Zaren nicht mehr traute, sein Vorposten im
Osten war, und er konnte Nußland nicht außerhalb seines Systems lassen,
wenn er endlich einmal den zähen Widerstand Englands brechen und zur un¬
bestrittenen Diktatur über Europa gelangen wollte. Wir müssen darauf ver¬
zichten, Vandal alle die Wendungen der Politik, nachzuzeichnen, die er in
überaus fesselnder Weise vor uns entwickelt; namentlich von der berühmten
Unterredung, die der Kaiser an seinem Geburtstag, am 15. August 1811,
mit dem russischen Gesandten, dem Fürsten Kurakin, in den Tuilerien hatte,


rupture

zwischen Polen und Rußland zu wählen. Entweder setze der Kaiser die 1807
und 1809 begonnene Politik fort, stelle Polen her und schaffe sich damit einen
Verbündeten im Osten Europas. Oder, wenn er das nicht wolle, wenn ihm
das polnische Element nicht zuverlässig genug erscheine, so gebe er durch die
Auslieferung Danzigs dem Zaren eine ausreichende Bürgschaft gegen die Her¬
stellung Polens und schaffe damit die Grundlagen einer dauernden Freund-
schaft beider Reiche. Der Botschafter warnte den Kaiser davor, die Russen
zu unterschätzen: ihr Klima, die riesigen Ausdehnungen ihres Landes, die
Hilfsquellen ihres Staats machten sie zu furchtbaren Gegnern, wenn der Kaiser
sie auch mit noch so gewaltigen Streitkräften angreife. Der Zar sei zum
äußersten Widerstand entschlossen; er habe gesagt, daß er sich lieber nach
Kamtschatka zurückziehen als Provinzen abtreten oder einen Frieden abschließen
werde, der doch nur ein Waffenstillstand sein würde. Einen Augenblick schien
Napoleon betroffen; dann fing er an von seinen Hilfsquellen zu sprechen, von
seinen hundertzwanzig Departements, den unbesieglichen alten Soldaten von
Austerlitz und Jena, den Lombarden Eugens, den Neapolitanern Murats, den
Kroaten Marmonts, den achtzehn Heeresabteilungen des Rheinbunds, den
Westfalen Jeromes, den Hannoveranern Davouts, den Polen; er berauschte
sich an feiner Macht: eine gewonnene Schlacht werde alles entscheiden; Alexander
werde nachgeben, er habe einen griechischen, d. h. unbeständigen Charakter.
Der Tag sank dahin; draußen, im Park von Se. Cloud, vergoldeten die ster¬
benden Strahlen der Sonue die Wipfel der hohen Bäume, während es im
Saale schon dunkelte. Sieben Stunden hatte die Unterredung gedauert. Der
Kaiser war unbelehrbar; er entließ den bisherigen Botschafter in der Meinung,
daß er von den Russen ganz eingenommen sei, und es keinen Zweck habe, mit
ihm zu verhandeln. Die einzige Folge der Unterredung war, daß der Kaiser
zu der Überzeugung kam, daß ihn Rußland in diesem Jahre nicht angreifen werde,
es also nicht nötig sei, was er zunächst angenommen hatte, den Krieg hinter
der Oder aufzunehmen.

Auf diesem Punkte sind die Dinge im wesentlichen geblieben. Rußland
wäre, wenn ihm der Kaiser die Polen geopfert hätte, nicht zum Kriege ge¬
schritten; aber es würde sich auch nicht mehr zum alten Anschluß an das
napoleonische System entschlossen haben. Der Kaiser aber wollte ein Volk
nicht preisgeben, das, seit er dem Zaren nicht mehr traute, sein Vorposten im
Osten war, und er konnte Nußland nicht außerhalb seines Systems lassen,
wenn er endlich einmal den zähen Widerstand Englands brechen und zur un¬
bestrittenen Diktatur über Europa gelangen wollte. Wir müssen darauf ver¬
zichten, Vandal alle die Wendungen der Politik, nachzuzeichnen, die er in
überaus fesselnder Weise vor uns entwickelt; namentlich von der berühmten
Unterredung, die der Kaiser an seinem Geburtstag, am 15. August 1811,
mit dem russischen Gesandten, dem Fürsten Kurakin, in den Tuilerien hatte,


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[0576] rupture zwischen Polen und Rußland zu wählen. Entweder setze der Kaiser die 1807 und 1809 begonnene Politik fort, stelle Polen her und schaffe sich damit einen Verbündeten im Osten Europas. Oder, wenn er das nicht wolle, wenn ihm das polnische Element nicht zuverlässig genug erscheine, so gebe er durch die Auslieferung Danzigs dem Zaren eine ausreichende Bürgschaft gegen die Her¬ stellung Polens und schaffe damit die Grundlagen einer dauernden Freund- schaft beider Reiche. Der Botschafter warnte den Kaiser davor, die Russen zu unterschätzen: ihr Klima, die riesigen Ausdehnungen ihres Landes, die Hilfsquellen ihres Staats machten sie zu furchtbaren Gegnern, wenn der Kaiser sie auch mit noch so gewaltigen Streitkräften angreife. Der Zar sei zum äußersten Widerstand entschlossen; er habe gesagt, daß er sich lieber nach Kamtschatka zurückziehen als Provinzen abtreten oder einen Frieden abschließen werde, der doch nur ein Waffenstillstand sein würde. Einen Augenblick schien Napoleon betroffen; dann fing er an von seinen Hilfsquellen zu sprechen, von seinen hundertzwanzig Departements, den unbesieglichen alten Soldaten von Austerlitz und Jena, den Lombarden Eugens, den Neapolitanern Murats, den Kroaten Marmonts, den achtzehn Heeresabteilungen des Rheinbunds, den Westfalen Jeromes, den Hannoveranern Davouts, den Polen; er berauschte sich an feiner Macht: eine gewonnene Schlacht werde alles entscheiden; Alexander werde nachgeben, er habe einen griechischen, d. h. unbeständigen Charakter. Der Tag sank dahin; draußen, im Park von Se. Cloud, vergoldeten die ster¬ benden Strahlen der Sonue die Wipfel der hohen Bäume, während es im Saale schon dunkelte. Sieben Stunden hatte die Unterredung gedauert. Der Kaiser war unbelehrbar; er entließ den bisherigen Botschafter in der Meinung, daß er von den Russen ganz eingenommen sei, und es keinen Zweck habe, mit ihm zu verhandeln. Die einzige Folge der Unterredung war, daß der Kaiser zu der Überzeugung kam, daß ihn Rußland in diesem Jahre nicht angreifen werde, es also nicht nötig sei, was er zunächst angenommen hatte, den Krieg hinter der Oder aufzunehmen. Auf diesem Punkte sind die Dinge im wesentlichen geblieben. Rußland wäre, wenn ihm der Kaiser die Polen geopfert hätte, nicht zum Kriege ge¬ schritten; aber es würde sich auch nicht mehr zum alten Anschluß an das napoleonische System entschlossen haben. Der Kaiser aber wollte ein Volk nicht preisgeben, das, seit er dem Zaren nicht mehr traute, sein Vorposten im Osten war, und er konnte Nußland nicht außerhalb seines Systems lassen, wenn er endlich einmal den zähen Widerstand Englands brechen und zur un¬ bestrittenen Diktatur über Europa gelangen wollte. Wir müssen darauf ver¬ zichten, Vandal alle die Wendungen der Politik, nachzuzeichnen, die er in überaus fesselnder Weise vor uns entwickelt; namentlich von der berühmten Unterredung, die der Kaiser an seinem Geburtstag, am 15. August 1811, mit dem russischen Gesandten, dem Fürsten Kurakin, in den Tuilerien hatte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/576>, abgerufen am 23.07.2024.