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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Österreich mit unmittelbarem Schaden bedrohe und ihm nur sehr unsichern
Gewinn verheiße. Metternich erklärte, daß jede russische Truppenansammlung
an der gnlizischen Grenze sofort damit beantwortet werden würde, daß das
österreichische Heer auf Kriegsfuß gesetzt werde. Er wußte wohl, daß
Alexander 1805, als Preußen neutral blieb, daran gedacht hatte, diesen
Staat, mit dem er äußerlich im besten Einvernehmen stand, plötzlich anzu¬
greifen und ihm seine polnischen Provinzen zu entreißen: bei dem exzentrischen
Gang der russischen Politik, äußerte er, sei gerade das Unmögliche möglich;
dagegen wollte er sich vorsehen. Alexander stieß also auf den Widerstand der
Polen und Österreicher, auf deren Hilfe er gehofft hatte. Gleichzeitig machte
Bernadotte eine Wendung zu Frankreich, von dem er Norwegen zu erhalten
hoffte; Preußen mahnte zur Vorsicht -- kurz, die ersten Voraussetzungen eines
erfolgreichen russischen Angriffs stürzten zusammen.

Auf der andern Seite hatte aber auch Napoleon dringende Gründe, den
Zusammenstoß mit Rußland wenigstens noch hinauszuschieben: er war noch
weit davon entfernt, mit Spanien fertig zu sein, wo gerade jetzt Wellington
durch sein geniales Verteidigungssystem erreichte, daß sich der Ansturm Massenas
an den Linien von Torres Vedras brach. Ein Kampf mit Rußland bot, so¬
lange man die unbesiegten Spanier im Rücken hatte, wenig Verlockendes, und
so beginnt eine Zeit der Verhandlungen -- Lauriston geht als Gesandter an
Stelle Caulaincourts nach Petersburg, Tschernitscheff nach Paris, um dort an¬
zudeuten, daß es ein Mittel gebe, die wankende Freundschaft wieder zu festigen,
wenn man nämlich "Polen und Oldenburg in denselben Sack stecken wollte,"
d. h. wenn der Kaiser sich dazu verstehe, den Herzog von Oldenburg, den
Vetter des Zaren, für sein von Frankreich geraubtes Land mit polnischem
Gebiet zu entschädigen. Am 10. April 1811 entledigte sich der Oberst dieses
Auftrags: Napoleon glaubte anfangs, man mute ihm die Abtretung des ganzen
Herzogtums Warschau zu, und brauste aus: das wäre, rief er aus, meinerseits
der Gipfel des Wahnsinns. Als er zu bemerken glaubte, daß sich der Zar
mit Danzig begnügen wolle, wurde er ruhiger, erklärte aber auch diesen Wunsch
für unerfüllbar, weil sein Mißtrauen nun einmal geweckt sei, und das Auf¬
geben Danzigs gleichbedeutend sein würde mit Verzicht auf die Weichselstelluug.
Wohl aber zeigte er sich bereit, den Herzog von Oldenburg mit Erfurt und
einem benachbarten, seinem Stammlande gleichen Gebiete zu entschädigen und
sich überdies durch einen förmlichen Vertrag zu verpflichten, daß er Polen
memals herstellen werde, sondern dessen Teilung anerkenne -- wovon schon
1810 die Rede gewesen war.

Nicht lange nachher kam der bisherige französische Gesandte Caulaincourt,
Herzog von Vicenza, am 5. Juni 1811 aus Petersburg nach Paris zurück
und suchte noch an demselben Tage um elf Uhr vormittags den Kaiser in
Se. Cloud auf. Der Herzog betonte mit vollstem Freimut, daß es jetzt gelte,


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Österreich mit unmittelbarem Schaden bedrohe und ihm nur sehr unsichern
Gewinn verheiße. Metternich erklärte, daß jede russische Truppenansammlung
an der gnlizischen Grenze sofort damit beantwortet werden würde, daß das
österreichische Heer auf Kriegsfuß gesetzt werde. Er wußte wohl, daß
Alexander 1805, als Preußen neutral blieb, daran gedacht hatte, diesen
Staat, mit dem er äußerlich im besten Einvernehmen stand, plötzlich anzu¬
greifen und ihm seine polnischen Provinzen zu entreißen: bei dem exzentrischen
Gang der russischen Politik, äußerte er, sei gerade das Unmögliche möglich;
dagegen wollte er sich vorsehen. Alexander stieß also auf den Widerstand der
Polen und Österreicher, auf deren Hilfe er gehofft hatte. Gleichzeitig machte
Bernadotte eine Wendung zu Frankreich, von dem er Norwegen zu erhalten
hoffte; Preußen mahnte zur Vorsicht — kurz, die ersten Voraussetzungen eines
erfolgreichen russischen Angriffs stürzten zusammen.

Auf der andern Seite hatte aber auch Napoleon dringende Gründe, den
Zusammenstoß mit Rußland wenigstens noch hinauszuschieben: er war noch
weit davon entfernt, mit Spanien fertig zu sein, wo gerade jetzt Wellington
durch sein geniales Verteidigungssystem erreichte, daß sich der Ansturm Massenas
an den Linien von Torres Vedras brach. Ein Kampf mit Rußland bot, so¬
lange man die unbesiegten Spanier im Rücken hatte, wenig Verlockendes, und
so beginnt eine Zeit der Verhandlungen — Lauriston geht als Gesandter an
Stelle Caulaincourts nach Petersburg, Tschernitscheff nach Paris, um dort an¬
zudeuten, daß es ein Mittel gebe, die wankende Freundschaft wieder zu festigen,
wenn man nämlich „Polen und Oldenburg in denselben Sack stecken wollte,"
d. h. wenn der Kaiser sich dazu verstehe, den Herzog von Oldenburg, den
Vetter des Zaren, für sein von Frankreich geraubtes Land mit polnischem
Gebiet zu entschädigen. Am 10. April 1811 entledigte sich der Oberst dieses
Auftrags: Napoleon glaubte anfangs, man mute ihm die Abtretung des ganzen
Herzogtums Warschau zu, und brauste aus: das wäre, rief er aus, meinerseits
der Gipfel des Wahnsinns. Als er zu bemerken glaubte, daß sich der Zar
mit Danzig begnügen wolle, wurde er ruhiger, erklärte aber auch diesen Wunsch
für unerfüllbar, weil sein Mißtrauen nun einmal geweckt sei, und das Auf¬
geben Danzigs gleichbedeutend sein würde mit Verzicht auf die Weichselstelluug.
Wohl aber zeigte er sich bereit, den Herzog von Oldenburg mit Erfurt und
einem benachbarten, seinem Stammlande gleichen Gebiete zu entschädigen und
sich überdies durch einen förmlichen Vertrag zu verpflichten, daß er Polen
memals herstellen werde, sondern dessen Teilung anerkenne — wovon schon
1810 die Rede gewesen war.

Nicht lange nachher kam der bisherige französische Gesandte Caulaincourt,
Herzog von Vicenza, am 5. Juni 1811 aus Petersburg nach Paris zurück
und suchte noch an demselben Tage um elf Uhr vormittags den Kaiser in
Se. Cloud auf. Der Herzog betonte mit vollstem Freimut, daß es jetzt gelte,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/575>, abgerufen am 23.07.2024.