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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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selbst stellte sich nur als ein Ausschnitt aus einem ganzen System dar: Frank¬
reichs Macht war durch Napoleon ins Ungeheuerliche vermehrt worden; es
hatte eine bewegliche Grenze, die rastlos weiter vorwärts rückte; mit der An-
gliederung Hollands und der Hansestädte war das Kaiserreich bis an die Nord-
uud Ostsee vorgedrungen; Preußen befand sich in dem Zustande völliger Sklaverei;
die Forderungen bezüglich der Kontinentalsperre wuchsen immer höher -- an¬
gesichts aller dieser Dinge verlor der Zar am Ende die Geduld und warf sich
in die Gefahr, um sie nicht immer erwarten zu müssen.

Der nächste Gedanke Alexanders war dabei auf einen raschen, wuchtigen
Angriffsstoß gerichtet, wozu 200000 Russen in Vereitschaft standen. Der Zar
war von der Hoffnung beseelt, daß Napoleon wegen des spanischen Krieges
höchstens 106000 Mann französischer Truppen für den russischen Krieg würde
verfügbar machen können, und daß die 50000 Polen des Herzogtums Warschau
vernichtet sein würden, ehe ihnen der Kaiser zu Hilfe kommen könne, ja es
schien nicht undenkbar, die Polen sogar zu Bundesgenossen zu gewinnen, wenn
man ihre Unzufriedenheit über die kostspielige" Militürlasten -- "zwei Regi¬
menter Husaren kosteten in Warschau so viel als anderwärts vier" -- aus¬
nütze und ihnen die Bürgschaft gebe, daß ihre Nation unter Alexander als
König wieder zu einem einzigen Staatswesen vereinigt werden würde. Ge¬
wann man so die Wcichsellinie, so konnte man den Preußen die Hand reichen,
"bei denen sich der Haß gegen Frankreich bis zum Fanatismus gesteigert
hatte." Der König, der seit dem Tode seiner Gemahlin jede Spannkraft ein¬
gebüßt hatte, würde voraussichtlich vom Strom der öffentlichen Meinung mit
fortgerissen werden, und 50P00 Preußen -- der Kaiser hätte richtiger 100000
gesagt -- würden sich den Russen anschließen. Was die Flanken Rußlands anging,
so hatte der schwedische Kronprinz Johann, der frühere Marschall Vernadotte,
im Dezember 1810 dreimal sein Ehrenwort gegeben, daß er sich niemals gegen
Nußland erklären werde; der Adel und der Kaufmannsstand des Landes litten
schwer unter dem Abbruch des Handels mit England, und schon erwog der
Zar den Gedanken, den Teil der Schweden, der den Verlust Finnlands nicht
verschmerzen konnte, dnrch die Preisgabe Norwegens zu gewinnen. Die Türkei
war durch den bisherigen Krieg mit Nußland an Geld und Mannschaften so
erschöpft, daß sie nicht mehr stark in Betracht kam; auch verhießen die seit
langem eingeleiteten Friedensverhandlungen, seit England ihnen günstiger zu
werden anfing, einen nahen Erfolg. Österreich endlich konnte man durch die
Abtretung der Donaufürstentümer bestimmen, daß es auf Galizien, dessen besten
Teil es schou 1809 hatte herausgeben müssen, vollends verzichtete und sich
an dem Kampf gegen Frankreich beteiligte, der ihm bei günstigem Verlauf die
größten Aussichten eröffnete. Mit alledem war die russische Rechnung noch
nicht abgeschlossen: Alexander konnte ans Grund der Berichte seiner Sendlinge
feststellen, daß überall Napoleon die Herrschaft über die Seelen verloren hatte


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selbst stellte sich nur als ein Ausschnitt aus einem ganzen System dar: Frank¬
reichs Macht war durch Napoleon ins Ungeheuerliche vermehrt worden; es
hatte eine bewegliche Grenze, die rastlos weiter vorwärts rückte; mit der An-
gliederung Hollands und der Hansestädte war das Kaiserreich bis an die Nord-
uud Ostsee vorgedrungen; Preußen befand sich in dem Zustande völliger Sklaverei;
die Forderungen bezüglich der Kontinentalsperre wuchsen immer höher — an¬
gesichts aller dieser Dinge verlor der Zar am Ende die Geduld und warf sich
in die Gefahr, um sie nicht immer erwarten zu müssen.

Der nächste Gedanke Alexanders war dabei auf einen raschen, wuchtigen
Angriffsstoß gerichtet, wozu 200000 Russen in Vereitschaft standen. Der Zar
war von der Hoffnung beseelt, daß Napoleon wegen des spanischen Krieges
höchstens 106000 Mann französischer Truppen für den russischen Krieg würde
verfügbar machen können, und daß die 50000 Polen des Herzogtums Warschau
vernichtet sein würden, ehe ihnen der Kaiser zu Hilfe kommen könne, ja es
schien nicht undenkbar, die Polen sogar zu Bundesgenossen zu gewinnen, wenn
man ihre Unzufriedenheit über die kostspielige» Militürlasten — „zwei Regi¬
menter Husaren kosteten in Warschau so viel als anderwärts vier" — aus¬
nütze und ihnen die Bürgschaft gebe, daß ihre Nation unter Alexander als
König wieder zu einem einzigen Staatswesen vereinigt werden würde. Ge¬
wann man so die Wcichsellinie, so konnte man den Preußen die Hand reichen,
„bei denen sich der Haß gegen Frankreich bis zum Fanatismus gesteigert
hatte." Der König, der seit dem Tode seiner Gemahlin jede Spannkraft ein¬
gebüßt hatte, würde voraussichtlich vom Strom der öffentlichen Meinung mit
fortgerissen werden, und 50P00 Preußen — der Kaiser hätte richtiger 100000
gesagt — würden sich den Russen anschließen. Was die Flanken Rußlands anging,
so hatte der schwedische Kronprinz Johann, der frühere Marschall Vernadotte,
im Dezember 1810 dreimal sein Ehrenwort gegeben, daß er sich niemals gegen
Nußland erklären werde; der Adel und der Kaufmannsstand des Landes litten
schwer unter dem Abbruch des Handels mit England, und schon erwog der
Zar den Gedanken, den Teil der Schweden, der den Verlust Finnlands nicht
verschmerzen konnte, dnrch die Preisgabe Norwegens zu gewinnen. Die Türkei
war durch den bisherigen Krieg mit Nußland an Geld und Mannschaften so
erschöpft, daß sie nicht mehr stark in Betracht kam; auch verhießen die seit
langem eingeleiteten Friedensverhandlungen, seit England ihnen günstiger zu
werden anfing, einen nahen Erfolg. Österreich endlich konnte man durch die
Abtretung der Donaufürstentümer bestimmen, daß es auf Galizien, dessen besten
Teil es schou 1809 hatte herausgeben müssen, vollends verzichtete und sich
an dem Kampf gegen Frankreich beteiligte, der ihm bei günstigem Verlauf die
größten Aussichten eröffnete. Mit alledem war die russische Rechnung noch
nicht abgeschlossen: Alexander konnte ans Grund der Berichte seiner Sendlinge
feststellen, daß überall Napoleon die Herrschaft über die Seelen verloren hatte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/572>, abgerufen am 23.07.2024.