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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Vom Neudarwinismus

anregen. Die Färbungen der Raupen sind dann daraus zu erklären, daß die
planmäßige Pigmentabsonderung im Organismus des Tierchens auf seinen
frühern Daseinsstufen vorbereitet werden mußte. Und diese Vorbereitung mag
allerdings durch den Umstand, daß den Raupen ihre Hautfärbung zum Schutze
diente und die Ursache einer Selektion unter verschieden gefärbten wurde, nicht
wenig gefördert worden sein.

Aber freilich, vor dem Worte Zweck hat Weismann gleich den meisten
Darwinianern einen wahren Abscheu. Als ob die Begriffe Zweck und Ursache
einander ausschlossen! Als ob nicht die einzigen Ursachen, die wir einiger¬
maßen durchschauen, die Beweggründe unsers eignen Handelns, ebenso viele
Zwecke wären! Als ob für die Welt im ganzen ein andres Verhältnis gedacht
werden könnte! Ohne einen Weltzweck, ohne einen Willen zur Verwirklichung
dieses Zwecks und eine die Verwirklichung leitende Intelligenz Hütten wir
sicherlich auch nicht ein einziges symmetrisch gefärbtes Paar Schmetterlings-
flügel, hätten wir überhaupt keinen Kosmos, sondern könnte höchstens ein
Chaos vorhanden sein. Und für Weismann bestand eigentlich gar kein Grund,
sich gegen die Einführung des Zweckbegriffs in die Naturwissenschaften zu
sträuben. Er gründet die Welt nicht aufs nichts oder auf seine eigne Phantasie,
wie manche andre Gelehrte. Er schreibt (Über die Berechtigung der Darwinischen
Theorie S. 23): "Wie die Bewegung der Himmelskörper nicht lediglich von
der Gravitation abhängt, sondern ein primitiver Anstoß vorausgesetzt werden
muß, der ihnen eine tcmgentiale Bewegung mitteilte, so ist bei der Bewegung
der Lebewelt, wie sie durch Entstehen und Vergehen der Arten sich uns kund
giebt, die unerläßliche Voraussetzung: die Variabilität der Organismen, oder
genauer: Vererbungsfähigkeit und Variabilität." Drücken wirs noch genauer
aus: Der Naturmechanismus ist eine sehr nützliche Hypothese, die für die
Erklärung und Benutzung der organischen Welt zwar vielleicht niemals die¬
selben Dienste leisten° wird wie sür die Erklärung und Benutzung der un¬
organischen, die aber doch auch deren Erklärung und Benutzung wesentlich
fördert. Sie besteht darin, daß mau annimmt, die Erscheinungen der organischen
Welt, einschließlich des Entstehens der Pflanzen- und Tierarten, würden ebenso
wie die der unorganischen lediglich durch Ortsveränderungen der Atome her¬
vorgebracht, und in das Spiel der Atome menge sich keine außer ihnen be¬
findliche Kraft, etwa der ihren Lauf abändernde Wille eines Weltenlenkers.
Allein diese Annahme setzt vier andre Annahmen voraus. Erstens daß Atome
vorhanden sind. Zweitens eine bestimmte ursprüngliche Anordnung der Atome.
Drittens einen Stoß, der sie in Bewegung gesetzt hat. Viertens eine Be¬
wegungsrichtung, die sie unverbrüchlich inne halten, und die wir bildlich als
ein Gesetz zu bezeichnen pflegen, weil die Atome, indem sie sich immer nur
auf einerlei Weise bewegen, oder vielmehr unter diesen Umständen auf diese,
unter jenen auf jene Weise, dasselbe Verhalten zeigen wie Menschen, die ein


Grenzboten II 1897 7 t
Vom Neudarwinismus

anregen. Die Färbungen der Raupen sind dann daraus zu erklären, daß die
planmäßige Pigmentabsonderung im Organismus des Tierchens auf seinen
frühern Daseinsstufen vorbereitet werden mußte. Und diese Vorbereitung mag
allerdings durch den Umstand, daß den Raupen ihre Hautfärbung zum Schutze
diente und die Ursache einer Selektion unter verschieden gefärbten wurde, nicht
wenig gefördert worden sein.

Aber freilich, vor dem Worte Zweck hat Weismann gleich den meisten
Darwinianern einen wahren Abscheu. Als ob die Begriffe Zweck und Ursache
einander ausschlossen! Als ob nicht die einzigen Ursachen, die wir einiger¬
maßen durchschauen, die Beweggründe unsers eignen Handelns, ebenso viele
Zwecke wären! Als ob für die Welt im ganzen ein andres Verhältnis gedacht
werden könnte! Ohne einen Weltzweck, ohne einen Willen zur Verwirklichung
dieses Zwecks und eine die Verwirklichung leitende Intelligenz Hütten wir
sicherlich auch nicht ein einziges symmetrisch gefärbtes Paar Schmetterlings-
flügel, hätten wir überhaupt keinen Kosmos, sondern könnte höchstens ein
Chaos vorhanden sein. Und für Weismann bestand eigentlich gar kein Grund,
sich gegen die Einführung des Zweckbegriffs in die Naturwissenschaften zu
sträuben. Er gründet die Welt nicht aufs nichts oder auf seine eigne Phantasie,
wie manche andre Gelehrte. Er schreibt (Über die Berechtigung der Darwinischen
Theorie S. 23): „Wie die Bewegung der Himmelskörper nicht lediglich von
der Gravitation abhängt, sondern ein primitiver Anstoß vorausgesetzt werden
muß, der ihnen eine tcmgentiale Bewegung mitteilte, so ist bei der Bewegung
der Lebewelt, wie sie durch Entstehen und Vergehen der Arten sich uns kund
giebt, die unerläßliche Voraussetzung: die Variabilität der Organismen, oder
genauer: Vererbungsfähigkeit und Variabilität." Drücken wirs noch genauer
aus: Der Naturmechanismus ist eine sehr nützliche Hypothese, die für die
Erklärung und Benutzung der organischen Welt zwar vielleicht niemals die¬
selben Dienste leisten° wird wie sür die Erklärung und Benutzung der un¬
organischen, die aber doch auch deren Erklärung und Benutzung wesentlich
fördert. Sie besteht darin, daß mau annimmt, die Erscheinungen der organischen
Welt, einschließlich des Entstehens der Pflanzen- und Tierarten, würden ebenso
wie die der unorganischen lediglich durch Ortsveränderungen der Atome her¬
vorgebracht, und in das Spiel der Atome menge sich keine außer ihnen be¬
findliche Kraft, etwa der ihren Lauf abändernde Wille eines Weltenlenkers.
Allein diese Annahme setzt vier andre Annahmen voraus. Erstens daß Atome
vorhanden sind. Zweitens eine bestimmte ursprüngliche Anordnung der Atome.
Drittens einen Stoß, der sie in Bewegung gesetzt hat. Viertens eine Be¬
wegungsrichtung, die sie unverbrüchlich inne halten, und die wir bildlich als
ein Gesetz zu bezeichnen pflegen, weil die Atome, indem sie sich immer nur
auf einerlei Weise bewegen, oder vielmehr unter diesen Umständen auf diese,
unter jenen auf jene Weise, dasselbe Verhalten zeigen wie Menschen, die ein


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[0569] Vom Neudarwinismus anregen. Die Färbungen der Raupen sind dann daraus zu erklären, daß die planmäßige Pigmentabsonderung im Organismus des Tierchens auf seinen frühern Daseinsstufen vorbereitet werden mußte. Und diese Vorbereitung mag allerdings durch den Umstand, daß den Raupen ihre Hautfärbung zum Schutze diente und die Ursache einer Selektion unter verschieden gefärbten wurde, nicht wenig gefördert worden sein. Aber freilich, vor dem Worte Zweck hat Weismann gleich den meisten Darwinianern einen wahren Abscheu. Als ob die Begriffe Zweck und Ursache einander ausschlossen! Als ob nicht die einzigen Ursachen, die wir einiger¬ maßen durchschauen, die Beweggründe unsers eignen Handelns, ebenso viele Zwecke wären! Als ob für die Welt im ganzen ein andres Verhältnis gedacht werden könnte! Ohne einen Weltzweck, ohne einen Willen zur Verwirklichung dieses Zwecks und eine die Verwirklichung leitende Intelligenz Hütten wir sicherlich auch nicht ein einziges symmetrisch gefärbtes Paar Schmetterlings- flügel, hätten wir überhaupt keinen Kosmos, sondern könnte höchstens ein Chaos vorhanden sein. Und für Weismann bestand eigentlich gar kein Grund, sich gegen die Einführung des Zweckbegriffs in die Naturwissenschaften zu sträuben. Er gründet die Welt nicht aufs nichts oder auf seine eigne Phantasie, wie manche andre Gelehrte. Er schreibt (Über die Berechtigung der Darwinischen Theorie S. 23): „Wie die Bewegung der Himmelskörper nicht lediglich von der Gravitation abhängt, sondern ein primitiver Anstoß vorausgesetzt werden muß, der ihnen eine tcmgentiale Bewegung mitteilte, so ist bei der Bewegung der Lebewelt, wie sie durch Entstehen und Vergehen der Arten sich uns kund giebt, die unerläßliche Voraussetzung: die Variabilität der Organismen, oder genauer: Vererbungsfähigkeit und Variabilität." Drücken wirs noch genauer aus: Der Naturmechanismus ist eine sehr nützliche Hypothese, die für die Erklärung und Benutzung der organischen Welt zwar vielleicht niemals die¬ selben Dienste leisten° wird wie sür die Erklärung und Benutzung der un¬ organischen, die aber doch auch deren Erklärung und Benutzung wesentlich fördert. Sie besteht darin, daß mau annimmt, die Erscheinungen der organischen Welt, einschließlich des Entstehens der Pflanzen- und Tierarten, würden ebenso wie die der unorganischen lediglich durch Ortsveränderungen der Atome her¬ vorgebracht, und in das Spiel der Atome menge sich keine außer ihnen be¬ findliche Kraft, etwa der ihren Lauf abändernde Wille eines Weltenlenkers. Allein diese Annahme setzt vier andre Annahmen voraus. Erstens daß Atome vorhanden sind. Zweitens eine bestimmte ursprüngliche Anordnung der Atome. Drittens einen Stoß, der sie in Bewegung gesetzt hat. Viertens eine Be¬ wegungsrichtung, die sie unverbrüchlich inne halten, und die wir bildlich als ein Gesetz zu bezeichnen pflegen, weil die Atome, indem sie sich immer nur auf einerlei Weise bewegen, oder vielmehr unter diesen Umständen auf diese, unter jenen auf jene Weise, dasselbe Verhalten zeigen wie Menschen, die ein Grenzboten II 1897 7 t

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/569>, abgerufen am 23.07.2024.