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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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vom Neudarwinismus

geschlechtliche Zuchtwahl schon aus dem Grunde nicht in Betracht kommen,
weil ja die Raupen geschlechtlos sind und mit der Fortpflanzung nichts zu
schaffen haben. Er hat nun in Beziehung auf alle Arten von Färbung und
Zeichnung nachgewiesen, daß sie dem Tierchen als Schutzmittel nützlich sind.
Ganz kleine Rciupchen sind einfach grün wie das Blatt, auf oder an dem sie sitzen.
Die größern sind gestreift, und zwar, wenn sie an Gräsern leben, nur der
Länge nach, sodaß ihr zu breiter Körper in schmalere Streifen geteilt erscheint
und dadurch weniger auffällt, während die auf Blättern lebenden auch Quer¬
streifen haben, die die Blattrippen nachahmen. Dunkelfarbige Säume und
Punkte wirken in einiger Entfernung, wo man die Farben nicht mehr unter¬
scheiden kann, wie die Schlagschatten der Rippen auf der Unterseite des
Blattes. Die großen augenförmigen Flecken endlich wirken als Schreckmittel,
besonders da einige solche Raupen in der Gefahr den mit Schmuckaugen ver¬
sehenen Teil ihres Körpers in die Höhe richten. Weismann hat festgestellt,
daß sich Sperlinge und andre kleine Vögel, ja sogar auch Hühner vor einem
solchen Ungeheuerchen wirklich fürchten, und daß ihnen nur besonders beherzte
Hähne nach lungern Kriegsrat zu Leibe gehen. Bei noch andern zeigt die
auffällige bunte Färbung den Vögeln an, daß das Wild einen schlechten Ge¬
schmack hat, und man es also besser laufen läßt. Raupen endlich, die auf der
Erde kriechen und in Baumrinden leben, sind braun gefärbt, und da sich die
Rindenraupen bei drohender Gefahr steif machen, sehen sie ganz wie Holz¬
stückchen aus. Das alles mag vollkommen richtig sein, und man begreift leicht,
daß, wenn verschieden gefärbte Raupen vorhanden sind, die ihrer Umgebung
angepaßten Arten am wenigsten gefressen werden und sich ungestört vermehren,
während die schlechter angepaßten zu Grunde gehen. Sind dann bloß noch
solche mit Schutzfarben übrig, so wird diesen der Schutz freilich nicht mehr
viel nützen, denn die raupenfresfenden Vögel müssen dann eben, um nicht zu
verhungern, scharfsichtiger, eifriger im Suchen und beherzter werden. Man
begreift ferner, daß sich die Schutzfarben und Schutzzeichuungen, sobald sie
einmal vorhanden sind, auf dem Wege der Vererbung und der Auslese ver¬
stärken. Die große Frage ist jedoch auch hier wiederum: Wie konnte der
Auslese- und Vererbungsprozeß in Gang kommen? Die unendlich langen
Zeiträume, mit denen auch Weismann sehr freigebig ist, nützen uns nichts,
sondern erschweren die Erklärung. Denn sie werden doch eben in der Voraus¬
setzung angenommen, daß Abänderungen ganz unmerklich anfangen und un¬
merklich fortschreiten. Ein unmerklicher Anfang einer Schutzfärbung kann aber
noch keinen Schutz gewähren, daher müssen die Raupen, in denen der Prozeß
seinen Anfang genommen haben soll, ebenso häusig gefressen worden sein wie
ihre Konkurrenten im Kampfe ums Dasein, wenn nicht für sie wieder eine
besondre, uns unbekannte Schutzvorrichtung getroffen worden ist, damit im
Verlaufe von einigen Jahrtausenden die Schutzfärbung zu stände komme.


vom Neudarwinismus

geschlechtliche Zuchtwahl schon aus dem Grunde nicht in Betracht kommen,
weil ja die Raupen geschlechtlos sind und mit der Fortpflanzung nichts zu
schaffen haben. Er hat nun in Beziehung auf alle Arten von Färbung und
Zeichnung nachgewiesen, daß sie dem Tierchen als Schutzmittel nützlich sind.
Ganz kleine Rciupchen sind einfach grün wie das Blatt, auf oder an dem sie sitzen.
Die größern sind gestreift, und zwar, wenn sie an Gräsern leben, nur der
Länge nach, sodaß ihr zu breiter Körper in schmalere Streifen geteilt erscheint
und dadurch weniger auffällt, während die auf Blättern lebenden auch Quer¬
streifen haben, die die Blattrippen nachahmen. Dunkelfarbige Säume und
Punkte wirken in einiger Entfernung, wo man die Farben nicht mehr unter¬
scheiden kann, wie die Schlagschatten der Rippen auf der Unterseite des
Blattes. Die großen augenförmigen Flecken endlich wirken als Schreckmittel,
besonders da einige solche Raupen in der Gefahr den mit Schmuckaugen ver¬
sehenen Teil ihres Körpers in die Höhe richten. Weismann hat festgestellt,
daß sich Sperlinge und andre kleine Vögel, ja sogar auch Hühner vor einem
solchen Ungeheuerchen wirklich fürchten, und daß ihnen nur besonders beherzte
Hähne nach lungern Kriegsrat zu Leibe gehen. Bei noch andern zeigt die
auffällige bunte Färbung den Vögeln an, daß das Wild einen schlechten Ge¬
schmack hat, und man es also besser laufen läßt. Raupen endlich, die auf der
Erde kriechen und in Baumrinden leben, sind braun gefärbt, und da sich die
Rindenraupen bei drohender Gefahr steif machen, sehen sie ganz wie Holz¬
stückchen aus. Das alles mag vollkommen richtig sein, und man begreift leicht,
daß, wenn verschieden gefärbte Raupen vorhanden sind, die ihrer Umgebung
angepaßten Arten am wenigsten gefressen werden und sich ungestört vermehren,
während die schlechter angepaßten zu Grunde gehen. Sind dann bloß noch
solche mit Schutzfarben übrig, so wird diesen der Schutz freilich nicht mehr
viel nützen, denn die raupenfresfenden Vögel müssen dann eben, um nicht zu
verhungern, scharfsichtiger, eifriger im Suchen und beherzter werden. Man
begreift ferner, daß sich die Schutzfarben und Schutzzeichuungen, sobald sie
einmal vorhanden sind, auf dem Wege der Vererbung und der Auslese ver¬
stärken. Die große Frage ist jedoch auch hier wiederum: Wie konnte der
Auslese- und Vererbungsprozeß in Gang kommen? Die unendlich langen
Zeiträume, mit denen auch Weismann sehr freigebig ist, nützen uns nichts,
sondern erschweren die Erklärung. Denn sie werden doch eben in der Voraus¬
setzung angenommen, daß Abänderungen ganz unmerklich anfangen und un¬
merklich fortschreiten. Ein unmerklicher Anfang einer Schutzfärbung kann aber
noch keinen Schutz gewähren, daher müssen die Raupen, in denen der Prozeß
seinen Anfang genommen haben soll, ebenso häusig gefressen worden sein wie
ihre Konkurrenten im Kampfe ums Dasein, wenn nicht für sie wieder eine
besondre, uns unbekannte Schutzvorrichtung getroffen worden ist, damit im
Verlaufe von einigen Jahrtausenden die Schutzfärbung zu stände komme.


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[0566] vom Neudarwinismus geschlechtliche Zuchtwahl schon aus dem Grunde nicht in Betracht kommen, weil ja die Raupen geschlechtlos sind und mit der Fortpflanzung nichts zu schaffen haben. Er hat nun in Beziehung auf alle Arten von Färbung und Zeichnung nachgewiesen, daß sie dem Tierchen als Schutzmittel nützlich sind. Ganz kleine Rciupchen sind einfach grün wie das Blatt, auf oder an dem sie sitzen. Die größern sind gestreift, und zwar, wenn sie an Gräsern leben, nur der Länge nach, sodaß ihr zu breiter Körper in schmalere Streifen geteilt erscheint und dadurch weniger auffällt, während die auf Blättern lebenden auch Quer¬ streifen haben, die die Blattrippen nachahmen. Dunkelfarbige Säume und Punkte wirken in einiger Entfernung, wo man die Farben nicht mehr unter¬ scheiden kann, wie die Schlagschatten der Rippen auf der Unterseite des Blattes. Die großen augenförmigen Flecken endlich wirken als Schreckmittel, besonders da einige solche Raupen in der Gefahr den mit Schmuckaugen ver¬ sehenen Teil ihres Körpers in die Höhe richten. Weismann hat festgestellt, daß sich Sperlinge und andre kleine Vögel, ja sogar auch Hühner vor einem solchen Ungeheuerchen wirklich fürchten, und daß ihnen nur besonders beherzte Hähne nach lungern Kriegsrat zu Leibe gehen. Bei noch andern zeigt die auffällige bunte Färbung den Vögeln an, daß das Wild einen schlechten Ge¬ schmack hat, und man es also besser laufen läßt. Raupen endlich, die auf der Erde kriechen und in Baumrinden leben, sind braun gefärbt, und da sich die Rindenraupen bei drohender Gefahr steif machen, sehen sie ganz wie Holz¬ stückchen aus. Das alles mag vollkommen richtig sein, und man begreift leicht, daß, wenn verschieden gefärbte Raupen vorhanden sind, die ihrer Umgebung angepaßten Arten am wenigsten gefressen werden und sich ungestört vermehren, während die schlechter angepaßten zu Grunde gehen. Sind dann bloß noch solche mit Schutzfarben übrig, so wird diesen der Schutz freilich nicht mehr viel nützen, denn die raupenfresfenden Vögel müssen dann eben, um nicht zu verhungern, scharfsichtiger, eifriger im Suchen und beherzter werden. Man begreift ferner, daß sich die Schutzfarben und Schutzzeichuungen, sobald sie einmal vorhanden sind, auf dem Wege der Vererbung und der Auslese ver¬ stärken. Die große Frage ist jedoch auch hier wiederum: Wie konnte der Auslese- und Vererbungsprozeß in Gang kommen? Die unendlich langen Zeiträume, mit denen auch Weismann sehr freigebig ist, nützen uns nichts, sondern erschweren die Erklärung. Denn sie werden doch eben in der Voraus¬ setzung angenommen, daß Abänderungen ganz unmerklich anfangen und un¬ merklich fortschreiten. Ein unmerklicher Anfang einer Schutzfärbung kann aber noch keinen Schutz gewähren, daher müssen die Raupen, in denen der Prozeß seinen Anfang genommen haben soll, ebenso häusig gefressen worden sein wie ihre Konkurrenten im Kampfe ums Dasein, wenn nicht für sie wieder eine besondre, uns unbekannte Schutzvorrichtung getroffen worden ist, damit im Verlaufe von einigen Jahrtausenden die Schutzfärbung zu stände komme.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/566>, abgerufen am 23.07.2024.