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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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vom Neudarwinismus

Gravitationsgesetze, den erforschten Zustand der verschiednen Himmelskörper
und gewisse Vorgänge an ihnen, andrerseits die Veränderungen zusammen, die
unser Erdball durch Abkühlung erlitten hat, so gewinnt die Kant-Laplacische
Hypothese hohe Wahrscheinlichkeit, wenn sie auch ihrer Natur nach niemals
Gewißheit werden kann. Halten wir dann mit dieser wahrscheinlichen Ent¬
wicklung der anorganischen Welt die feststehenden Veränderungen innerhalb
der organischen zusammen und den Umstand, daß die organischen Wesen
Stufenfolgen bilden, daß die Wesen der untersten Stufe sich äußerlich nur
sehr wenig und nur innerlich, dnrch ihre chemische Struktur, von ihrer un¬
organischen Umgebung unterscheiden, daß Wesen verwandter Arten, wie Hund,
Fuchs und Wolf, einander oft ähnlicher sehen als manche Spielarten derselben
Spezies, z. B. der Spezies Hund, daß die Formverwandtschaft deutlich auf
Blutsverwandtschaft hinweist, daß endlich die untern Stufen nach dem Zeugnis
der Geologie früher dagewesen sind als die höhern, und daß der Parallelismus
der Entwicklungsstadien der höhern Tiere mit den Formen niederer Tierklassen
den von Häckel aufgestellten Stammbäumen einen hohen Grad von Glaub¬
würdigkeit verleiht,") so erlangt die Entwicklungstheorie höchste Wahrscheinlich¬
keit und Glaubwürdigkeit, wenn auch aus den angegebnen Gründen die Ge¬
wißheit ausgeschlossen bleibt.

Was dann aber den Weg anlangt, auf dem die Entwicklung der orga-
nischen Wesen vor sich gegangen ist, so werden wir darüber wohl niemals
Klarheit und Gewißheit gewinnen. Höchst wahrscheinlich ist es, daß dabei
Anpassung, Vererbung der durch Anpassung erworbnen Eigenschaften und Aus¬
lese durch den Sieg der Angepaßten: im Kampfe um die Daseinsbedingungen
wirksam gewesen sind, aber für sich allein reichen diese Vorgänge zur Er¬
klärung um so weniger hin, als die ersten beiden selbst wieder der Erklärung
bedürfen. Denn die mikroskopische Keimzelle mit ihrer Fähigkeit, einerseits
sich ihrer Umgebung anzupassen, ohne daß sie dabei ihr Leben und ihr Sonder¬
dasein einbüßt, andrerseits in ihrer Struktur den ganzen verwickelten und
großartigen Aufbau eines Riesenbaumes, eines Rosses oder eines Menschen zu
enthalten und mit Hilfe von Stoffen, die sie aus ihrer Umgebung heranzieht,
aus sich hervorzutreten, diese Keimzelle bleibt doch das Wunder aller Wunder
und das Geheimnis aller Geheimnisse. Wir Pflichten, abgesehen von dem
einem Punkte der Unbewußtheit, E. von Hartmann bei, dessen kleines Buch
"Wahrheit und Irrtum im Darwinismus" zwar uicht den hundertsten Teil
des Aufsehens erregt hat wie seine Philosophie des Unbewußten, dafür aber
hundertmal so viel wert ist. Die Entwicklung mag im allgemeinen nach dem



*) Darnach ist bekanntlich von Fritz Müller und .Häckel das Gesetz aufgestellt worden, die
Ontogenese sei eine kurze Rekapitulation der Phylogenese, der menschliche Fötus z. B. nehme
nach einander die Formen aller Foder seiner tierischen Ahnen an,
Grenzboten II 1897 70
vom Neudarwinismus

Gravitationsgesetze, den erforschten Zustand der verschiednen Himmelskörper
und gewisse Vorgänge an ihnen, andrerseits die Veränderungen zusammen, die
unser Erdball durch Abkühlung erlitten hat, so gewinnt die Kant-Laplacische
Hypothese hohe Wahrscheinlichkeit, wenn sie auch ihrer Natur nach niemals
Gewißheit werden kann. Halten wir dann mit dieser wahrscheinlichen Ent¬
wicklung der anorganischen Welt die feststehenden Veränderungen innerhalb
der organischen zusammen und den Umstand, daß die organischen Wesen
Stufenfolgen bilden, daß die Wesen der untersten Stufe sich äußerlich nur
sehr wenig und nur innerlich, dnrch ihre chemische Struktur, von ihrer un¬
organischen Umgebung unterscheiden, daß Wesen verwandter Arten, wie Hund,
Fuchs und Wolf, einander oft ähnlicher sehen als manche Spielarten derselben
Spezies, z. B. der Spezies Hund, daß die Formverwandtschaft deutlich auf
Blutsverwandtschaft hinweist, daß endlich die untern Stufen nach dem Zeugnis
der Geologie früher dagewesen sind als die höhern, und daß der Parallelismus
der Entwicklungsstadien der höhern Tiere mit den Formen niederer Tierklassen
den von Häckel aufgestellten Stammbäumen einen hohen Grad von Glaub¬
würdigkeit verleiht,") so erlangt die Entwicklungstheorie höchste Wahrscheinlich¬
keit und Glaubwürdigkeit, wenn auch aus den angegebnen Gründen die Ge¬
wißheit ausgeschlossen bleibt.

Was dann aber den Weg anlangt, auf dem die Entwicklung der orga-
nischen Wesen vor sich gegangen ist, so werden wir darüber wohl niemals
Klarheit und Gewißheit gewinnen. Höchst wahrscheinlich ist es, daß dabei
Anpassung, Vererbung der durch Anpassung erworbnen Eigenschaften und Aus¬
lese durch den Sieg der Angepaßten: im Kampfe um die Daseinsbedingungen
wirksam gewesen sind, aber für sich allein reichen diese Vorgänge zur Er¬
klärung um so weniger hin, als die ersten beiden selbst wieder der Erklärung
bedürfen. Denn die mikroskopische Keimzelle mit ihrer Fähigkeit, einerseits
sich ihrer Umgebung anzupassen, ohne daß sie dabei ihr Leben und ihr Sonder¬
dasein einbüßt, andrerseits in ihrer Struktur den ganzen verwickelten und
großartigen Aufbau eines Riesenbaumes, eines Rosses oder eines Menschen zu
enthalten und mit Hilfe von Stoffen, die sie aus ihrer Umgebung heranzieht,
aus sich hervorzutreten, diese Keimzelle bleibt doch das Wunder aller Wunder
und das Geheimnis aller Geheimnisse. Wir Pflichten, abgesehen von dem
einem Punkte der Unbewußtheit, E. von Hartmann bei, dessen kleines Buch
»Wahrheit und Irrtum im Darwinismus" zwar uicht den hundertsten Teil
des Aufsehens erregt hat wie seine Philosophie des Unbewußten, dafür aber
hundertmal so viel wert ist. Die Entwicklung mag im allgemeinen nach dem



*) Darnach ist bekanntlich von Fritz Müller und .Häckel das Gesetz aufgestellt worden, die
Ontogenese sei eine kurze Rekapitulation der Phylogenese, der menschliche Fötus z. B. nehme
nach einander die Formen aller Foder seiner tierischen Ahnen an,
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[0561] vom Neudarwinismus Gravitationsgesetze, den erforschten Zustand der verschiednen Himmelskörper und gewisse Vorgänge an ihnen, andrerseits die Veränderungen zusammen, die unser Erdball durch Abkühlung erlitten hat, so gewinnt die Kant-Laplacische Hypothese hohe Wahrscheinlichkeit, wenn sie auch ihrer Natur nach niemals Gewißheit werden kann. Halten wir dann mit dieser wahrscheinlichen Ent¬ wicklung der anorganischen Welt die feststehenden Veränderungen innerhalb der organischen zusammen und den Umstand, daß die organischen Wesen Stufenfolgen bilden, daß die Wesen der untersten Stufe sich äußerlich nur sehr wenig und nur innerlich, dnrch ihre chemische Struktur, von ihrer un¬ organischen Umgebung unterscheiden, daß Wesen verwandter Arten, wie Hund, Fuchs und Wolf, einander oft ähnlicher sehen als manche Spielarten derselben Spezies, z. B. der Spezies Hund, daß die Formverwandtschaft deutlich auf Blutsverwandtschaft hinweist, daß endlich die untern Stufen nach dem Zeugnis der Geologie früher dagewesen sind als die höhern, und daß der Parallelismus der Entwicklungsstadien der höhern Tiere mit den Formen niederer Tierklassen den von Häckel aufgestellten Stammbäumen einen hohen Grad von Glaub¬ würdigkeit verleiht,") so erlangt die Entwicklungstheorie höchste Wahrscheinlich¬ keit und Glaubwürdigkeit, wenn auch aus den angegebnen Gründen die Ge¬ wißheit ausgeschlossen bleibt. Was dann aber den Weg anlangt, auf dem die Entwicklung der orga- nischen Wesen vor sich gegangen ist, so werden wir darüber wohl niemals Klarheit und Gewißheit gewinnen. Höchst wahrscheinlich ist es, daß dabei Anpassung, Vererbung der durch Anpassung erworbnen Eigenschaften und Aus¬ lese durch den Sieg der Angepaßten: im Kampfe um die Daseinsbedingungen wirksam gewesen sind, aber für sich allein reichen diese Vorgänge zur Er¬ klärung um so weniger hin, als die ersten beiden selbst wieder der Erklärung bedürfen. Denn die mikroskopische Keimzelle mit ihrer Fähigkeit, einerseits sich ihrer Umgebung anzupassen, ohne daß sie dabei ihr Leben und ihr Sonder¬ dasein einbüßt, andrerseits in ihrer Struktur den ganzen verwickelten und großartigen Aufbau eines Riesenbaumes, eines Rosses oder eines Menschen zu enthalten und mit Hilfe von Stoffen, die sie aus ihrer Umgebung heranzieht, aus sich hervorzutreten, diese Keimzelle bleibt doch das Wunder aller Wunder und das Geheimnis aller Geheimnisse. Wir Pflichten, abgesehen von dem einem Punkte der Unbewußtheit, E. von Hartmann bei, dessen kleines Buch »Wahrheit und Irrtum im Darwinismus" zwar uicht den hundertsten Teil des Aufsehens erregt hat wie seine Philosophie des Unbewußten, dafür aber hundertmal so viel wert ist. Die Entwicklung mag im allgemeinen nach dem *) Darnach ist bekanntlich von Fritz Müller und .Häckel das Gesetz aufgestellt worden, die Ontogenese sei eine kurze Rekapitulation der Phylogenese, der menschliche Fötus z. B. nehme nach einander die Formen aller Foder seiner tierischen Ahnen an, Grenzboten II 1897 70

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/561>, abgerufen am 23.07.2024.