Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
vom Neudarwinismus

bemerkt, darwinischer als er selbst und machten aus der Fortbildung Lamarcks
einen Gegensatz zu diesem. Dalton in England und Weismann in Deutsch¬
land sind die Häupter dieser neudarwinischen Schule. Weismann glaubt be¬
wiesen zu haben, daß die durch äußere Einflüsse bewirkten Veränderungen
des Zellgewebes die Scxualzellen unberührt lassen, die gewissermaßen ewig
und unveränderlich durch die Geschlechter hindurchgehen. Wenn nun der Sieg
im Kampfe um das Dasein, so schließen die Gegner des Kommunismus, nicht
auf der Vererbung vorteilhafter Veränderungen beruht, sondern auf der Aus¬
lese der in jeder Generation tüchtigsten, so folgt daraus, daß die obern
Stände nicht darum tüchtiger sind, weil sie herrschen und sich demnach in
einer günstigern Lage befinden, sondern umgekehrt, daß sie herrschen und sich
einer günstigern Lage erfreuen, weil sie tüchtiger sind als die übrigen Individuen
derselben Generation. Haycrcift, der den Unterschied der beiden biologischen
Schulen kurz und faßlich darstellt, hat nicht im Dienste irgend einer Partei
geschrieben; sein kleines Buch ist unter den neuern entwicklungstheoretischen
Schriften, die wir gelesen haben, die nüchternste, verständigste und von un¬
wissenschaftlichen Tendenzen freieste. Wir sehen vorläufig von solchen Tendenzen
ganz ub und wenden uns ausschließlich der naturwissenschaftlichen Seite der
Sache zu.

Haycrcift veranschaulicht den Unterschied der beiden Schulen durch eine
Zeichnung. Eine ursprünglich kugelförmige Gattung soll durch die Entwicklung
in eine Gattung länglicher, schlauchförmiger Individuen verwandelt werden.
Das Medium, das die Veränderung bewirkt, wird durch ein System von
Netzen dargestellt, die hinter einander angebracht sind, und deren Maschen immer
enger werden. Nach Lamarck vollzieht sich nun der Prozeß in der Weise, daß
die kugelförmigen Wesen durch die Löcher des ersten Netzes hindurchgepreßt
werden und dabei die Kugelform verlieren, daß dann ihre schon länglich ans
die Welt gekommnen Sprößlinge beim Durchgang durch das zweite Netz noch
mehr zusammengepreßt und noch schlanker werden usw. Nach den Neudarwi-
nianern dagegen sind die Kinder den Eltern niemals vollkommen gleich, und
auch unter den Sprößlingen des ersten, kugelförmigen Elternpaares einige, die
nicht ganz kugelförmig, sondern ein wenig länglich sind. Diese schlüpfen durch
die Maschen des ersten Netzes hindurch, die Dickköpfe dagegen gehen unter der
Gewalt der Umstände, die sie hiudurchpresscn will, zu Grunde, sie gelangen
nicht in das zweite Entwicklungsstadium, dessen Verhältnisse keine andre als
schlanke Gestalten dulden. Lamarck, führt Haycrcift weiter aus, würde die
Langhalsigkeit der Giraffe dadurch erklären, daß sich der Hals der Ahnen
dieses Tieres, der ursprünglich nicht länger war als der andrer Wiederkäuer,
durch das beständige Strecken nach Baumblättern in jeder Generation ein
wenig verlängert habe, und daß sich diese winzigen Verlängerungen durch Ver¬
erbung im Laufe der Jahrtausende so lange summirt hätten, bis die eiden-


vom Neudarwinismus

bemerkt, darwinischer als er selbst und machten aus der Fortbildung Lamarcks
einen Gegensatz zu diesem. Dalton in England und Weismann in Deutsch¬
land sind die Häupter dieser neudarwinischen Schule. Weismann glaubt be¬
wiesen zu haben, daß die durch äußere Einflüsse bewirkten Veränderungen
des Zellgewebes die Scxualzellen unberührt lassen, die gewissermaßen ewig
und unveränderlich durch die Geschlechter hindurchgehen. Wenn nun der Sieg
im Kampfe um das Dasein, so schließen die Gegner des Kommunismus, nicht
auf der Vererbung vorteilhafter Veränderungen beruht, sondern auf der Aus¬
lese der in jeder Generation tüchtigsten, so folgt daraus, daß die obern
Stände nicht darum tüchtiger sind, weil sie herrschen und sich demnach in
einer günstigern Lage befinden, sondern umgekehrt, daß sie herrschen und sich
einer günstigern Lage erfreuen, weil sie tüchtiger sind als die übrigen Individuen
derselben Generation. Haycrcift, der den Unterschied der beiden biologischen
Schulen kurz und faßlich darstellt, hat nicht im Dienste irgend einer Partei
geschrieben; sein kleines Buch ist unter den neuern entwicklungstheoretischen
Schriften, die wir gelesen haben, die nüchternste, verständigste und von un¬
wissenschaftlichen Tendenzen freieste. Wir sehen vorläufig von solchen Tendenzen
ganz ub und wenden uns ausschließlich der naturwissenschaftlichen Seite der
Sache zu.

Haycrcift veranschaulicht den Unterschied der beiden Schulen durch eine
Zeichnung. Eine ursprünglich kugelförmige Gattung soll durch die Entwicklung
in eine Gattung länglicher, schlauchförmiger Individuen verwandelt werden.
Das Medium, das die Veränderung bewirkt, wird durch ein System von
Netzen dargestellt, die hinter einander angebracht sind, und deren Maschen immer
enger werden. Nach Lamarck vollzieht sich nun der Prozeß in der Weise, daß
die kugelförmigen Wesen durch die Löcher des ersten Netzes hindurchgepreßt
werden und dabei die Kugelform verlieren, daß dann ihre schon länglich ans
die Welt gekommnen Sprößlinge beim Durchgang durch das zweite Netz noch
mehr zusammengepreßt und noch schlanker werden usw. Nach den Neudarwi-
nianern dagegen sind die Kinder den Eltern niemals vollkommen gleich, und
auch unter den Sprößlingen des ersten, kugelförmigen Elternpaares einige, die
nicht ganz kugelförmig, sondern ein wenig länglich sind. Diese schlüpfen durch
die Maschen des ersten Netzes hindurch, die Dickköpfe dagegen gehen unter der
Gewalt der Umstände, die sie hiudurchpresscn will, zu Grunde, sie gelangen
nicht in das zweite Entwicklungsstadium, dessen Verhältnisse keine andre als
schlanke Gestalten dulden. Lamarck, führt Haycrcift weiter aus, würde die
Langhalsigkeit der Giraffe dadurch erklären, daß sich der Hals der Ahnen
dieses Tieres, der ursprünglich nicht länger war als der andrer Wiederkäuer,
durch das beständige Strecken nach Baumblättern in jeder Generation ein
wenig verlängert habe, und daß sich diese winzigen Verlängerungen durch Ver¬
erbung im Laufe der Jahrtausende so lange summirt hätten, bis die eiden-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0536" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225464"/>
          <fw type="header" place="top"> vom Neudarwinismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1715" prev="#ID_1714"> bemerkt, darwinischer als er selbst und machten aus der Fortbildung Lamarcks<lb/>
einen Gegensatz zu diesem. Dalton in England und Weismann in Deutsch¬<lb/>
land sind die Häupter dieser neudarwinischen Schule. Weismann glaubt be¬<lb/>
wiesen zu haben, daß die durch äußere Einflüsse bewirkten Veränderungen<lb/>
des Zellgewebes die Scxualzellen unberührt lassen, die gewissermaßen ewig<lb/>
und unveränderlich durch die Geschlechter hindurchgehen. Wenn nun der Sieg<lb/>
im Kampfe um das Dasein, so schließen die Gegner des Kommunismus, nicht<lb/>
auf der Vererbung vorteilhafter Veränderungen beruht, sondern auf der Aus¬<lb/>
lese der in jeder Generation tüchtigsten, so folgt daraus, daß die obern<lb/>
Stände nicht darum tüchtiger sind, weil sie herrschen und sich demnach in<lb/>
einer günstigern Lage befinden, sondern umgekehrt, daß sie herrschen und sich<lb/>
einer günstigern Lage erfreuen, weil sie tüchtiger sind als die übrigen Individuen<lb/>
derselben Generation. Haycrcift, der den Unterschied der beiden biologischen<lb/>
Schulen kurz und faßlich darstellt, hat nicht im Dienste irgend einer Partei<lb/>
geschrieben; sein kleines Buch ist unter den neuern entwicklungstheoretischen<lb/>
Schriften, die wir gelesen haben, die nüchternste, verständigste und von un¬<lb/>
wissenschaftlichen Tendenzen freieste. Wir sehen vorläufig von solchen Tendenzen<lb/>
ganz ub und wenden uns ausschließlich der naturwissenschaftlichen Seite der<lb/>
Sache zu.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1716" next="#ID_1717"> Haycrcift veranschaulicht den Unterschied der beiden Schulen durch eine<lb/>
Zeichnung. Eine ursprünglich kugelförmige Gattung soll durch die Entwicklung<lb/>
in eine Gattung länglicher, schlauchförmiger Individuen verwandelt werden.<lb/>
Das Medium, das die Veränderung bewirkt, wird durch ein System von<lb/>
Netzen dargestellt, die hinter einander angebracht sind, und deren Maschen immer<lb/>
enger werden. Nach Lamarck vollzieht sich nun der Prozeß in der Weise, daß<lb/>
die kugelförmigen Wesen durch die Löcher des ersten Netzes hindurchgepreßt<lb/>
werden und dabei die Kugelform verlieren, daß dann ihre schon länglich ans<lb/>
die Welt gekommnen Sprößlinge beim Durchgang durch das zweite Netz noch<lb/>
mehr zusammengepreßt und noch schlanker werden usw. Nach den Neudarwi-<lb/>
nianern dagegen sind die Kinder den Eltern niemals vollkommen gleich, und<lb/>
auch unter den Sprößlingen des ersten, kugelförmigen Elternpaares einige, die<lb/>
nicht ganz kugelförmig, sondern ein wenig länglich sind. Diese schlüpfen durch<lb/>
die Maschen des ersten Netzes hindurch, die Dickköpfe dagegen gehen unter der<lb/>
Gewalt der Umstände, die sie hiudurchpresscn will, zu Grunde, sie gelangen<lb/>
nicht in das zweite Entwicklungsstadium, dessen Verhältnisse keine andre als<lb/>
schlanke Gestalten dulden. Lamarck, führt Haycrcift weiter aus, würde die<lb/>
Langhalsigkeit der Giraffe dadurch erklären, daß sich der Hals der Ahnen<lb/>
dieses Tieres, der ursprünglich nicht länger war als der andrer Wiederkäuer,<lb/>
durch das beständige Strecken nach Baumblättern in jeder Generation ein<lb/>
wenig verlängert habe, und daß sich diese winzigen Verlängerungen durch Ver¬<lb/>
erbung im Laufe der Jahrtausende so lange summirt hätten, bis die eiden-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0536] vom Neudarwinismus bemerkt, darwinischer als er selbst und machten aus der Fortbildung Lamarcks einen Gegensatz zu diesem. Dalton in England und Weismann in Deutsch¬ land sind die Häupter dieser neudarwinischen Schule. Weismann glaubt be¬ wiesen zu haben, daß die durch äußere Einflüsse bewirkten Veränderungen des Zellgewebes die Scxualzellen unberührt lassen, die gewissermaßen ewig und unveränderlich durch die Geschlechter hindurchgehen. Wenn nun der Sieg im Kampfe um das Dasein, so schließen die Gegner des Kommunismus, nicht auf der Vererbung vorteilhafter Veränderungen beruht, sondern auf der Aus¬ lese der in jeder Generation tüchtigsten, so folgt daraus, daß die obern Stände nicht darum tüchtiger sind, weil sie herrschen und sich demnach in einer günstigern Lage befinden, sondern umgekehrt, daß sie herrschen und sich einer günstigern Lage erfreuen, weil sie tüchtiger sind als die übrigen Individuen derselben Generation. Haycrcift, der den Unterschied der beiden biologischen Schulen kurz und faßlich darstellt, hat nicht im Dienste irgend einer Partei geschrieben; sein kleines Buch ist unter den neuern entwicklungstheoretischen Schriften, die wir gelesen haben, die nüchternste, verständigste und von un¬ wissenschaftlichen Tendenzen freieste. Wir sehen vorläufig von solchen Tendenzen ganz ub und wenden uns ausschließlich der naturwissenschaftlichen Seite der Sache zu. Haycrcift veranschaulicht den Unterschied der beiden Schulen durch eine Zeichnung. Eine ursprünglich kugelförmige Gattung soll durch die Entwicklung in eine Gattung länglicher, schlauchförmiger Individuen verwandelt werden. Das Medium, das die Veränderung bewirkt, wird durch ein System von Netzen dargestellt, die hinter einander angebracht sind, und deren Maschen immer enger werden. Nach Lamarck vollzieht sich nun der Prozeß in der Weise, daß die kugelförmigen Wesen durch die Löcher des ersten Netzes hindurchgepreßt werden und dabei die Kugelform verlieren, daß dann ihre schon länglich ans die Welt gekommnen Sprößlinge beim Durchgang durch das zweite Netz noch mehr zusammengepreßt und noch schlanker werden usw. Nach den Neudarwi- nianern dagegen sind die Kinder den Eltern niemals vollkommen gleich, und auch unter den Sprößlingen des ersten, kugelförmigen Elternpaares einige, die nicht ganz kugelförmig, sondern ein wenig länglich sind. Diese schlüpfen durch die Maschen des ersten Netzes hindurch, die Dickköpfe dagegen gehen unter der Gewalt der Umstände, die sie hiudurchpresscn will, zu Grunde, sie gelangen nicht in das zweite Entwicklungsstadium, dessen Verhältnisse keine andre als schlanke Gestalten dulden. Lamarck, führt Haycrcift weiter aus, würde die Langhalsigkeit der Giraffe dadurch erklären, daß sich der Hals der Ahnen dieses Tieres, der ursprünglich nicht länger war als der andrer Wiederkäuer, durch das beständige Strecken nach Baumblättern in jeder Generation ein wenig verlängert habe, und daß sich diese winzigen Verlängerungen durch Ver¬ erbung im Laufe der Jahrtausende so lange summirt hätten, bis die eiden-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/536
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/536>, abgerufen am 23.07.2024.