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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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vom Neudarwinismus

endigend. Und ferner war es ganz offenbar, daß mit der wirtschaftlichen Ent¬
wicklung die politische Hand in Hand ging. In demselben Maße, wie der
Einzelne mit seiner Arbeit aus seiner gemütlichen Idylle herausgerissen und
als Lohnarbeiter oder Kaufmann oder spekulirender Produzent in das Getriebe
der Weltwirtschaft verwickelt wurde, in demselben Maße schritt die Verstaat¬
lichung fort. Nachdem der Staat schon längst eine Menge von Verrichtungen,
die ehedem der Sorge des Einzelnen oder von Korporationen und kleinen Ge¬
meinden überlassen gewesen waren, an sich gezogen hatte: die Verteidigung
gegen äußere Feinde, die Rechtspflege, die Polizei, den Jugendunterricht, die
Aufsicht über die Gewerbe, bemächtigte er sich jetzt auch der Verkehrsanstalten,
der Gesundheitspflege, drang er mit seiner Gewerbeaufsicht immer tiefer in die
Privatverhältnisse ein, regelte er das Verhältnis zwischen Unternehmern und
Arbeitern, wurde er in immer größeren Maßstabe selbst Unternehmer, und es
schien undenkbar, daß nicht diese beiden konvergirenden Entwicklungsreihen, die
wirtschaftliche und die politische, demnächst in einem Punkte zusammentreffen
und den Staat als Kollektivproduzenten und Güterverteiler an die Stelle der
einander bekämpfenden und vielfach hemmenden Einzelunternehmer setzen sollten.
Psychologische Gründe aber ließen sich gegen diese Argumentation nicht an¬
führen, da ja nach der Hypothese auch die Seele nur ein Entwicklungsprodukt
ist, und Seelen, die sich einer neuen Ordnung nicht fügen wollen, als "unan-
gepaßt" einfach zu Grunde gehen. Wären wir wie die Bienen organisirt, hatte
ein Forscher bemerkt, so würde es Pflicht für das menschliche Weib sein, viele
Männer zu haben, und die Männer von Zeit zu Zeit umbringen zu lassen.

Bekanntlich ist es Virchow gewesen, der zuerst auf die Gefahr hingewiesen
hat, die in der Ausnutzung der Darwinischen Hypothese für den Sozialismus
liege. Virchow ward zunächst als Reaktionär verspottet, aber als in Deuschland
die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen anschwoll, da wurden auch Virchows
Gegner nachdenklich. Sie suchten einen Ausweg und fanden einen wahrhaft
genialen. Sie fingen an zu behaupten, der Darwinismus sei keine demo¬
kratische, sondern eine aristokratische Lehre, ja er sei das einzige Mittel, die
Sozialdemokratie wissenschaftlich zu vernichten. Zuerst erschien mit dieser
Entdeckung Häckel auf dem Plan/") dann Heinrich Ernst Ziegler, Professor
der Zoologie in Freiburg i. Br., und Otto Ammon. In England hat sich
Herbert Spencer die wissenschaftliche Vernichtung des Kommunismus als
letztes Lebensziel gesteckt. Bosch, dessen Kritik und Ergänzung der Sozial¬
theorie Herbert Spencers in Ur. 17 der Grenzboten besprochen worden ist,
meint, der große englische Philosoph sei erhaben über den Verdacht, daß er
die Wissenschaft für Parteizwecke oder gar als Söldling des Kapitalismus
ausbeuten könne, und wir zweifeln auch nicht im mindesten an der wissen-



*) Auch Büchner hat sich gegen den Sozialismus erklärt, aber nicht in dem Sinne von
Ammon und nicht mit dessen Gründen.
vom Neudarwinismus

endigend. Und ferner war es ganz offenbar, daß mit der wirtschaftlichen Ent¬
wicklung die politische Hand in Hand ging. In demselben Maße, wie der
Einzelne mit seiner Arbeit aus seiner gemütlichen Idylle herausgerissen und
als Lohnarbeiter oder Kaufmann oder spekulirender Produzent in das Getriebe
der Weltwirtschaft verwickelt wurde, in demselben Maße schritt die Verstaat¬
lichung fort. Nachdem der Staat schon längst eine Menge von Verrichtungen,
die ehedem der Sorge des Einzelnen oder von Korporationen und kleinen Ge¬
meinden überlassen gewesen waren, an sich gezogen hatte: die Verteidigung
gegen äußere Feinde, die Rechtspflege, die Polizei, den Jugendunterricht, die
Aufsicht über die Gewerbe, bemächtigte er sich jetzt auch der Verkehrsanstalten,
der Gesundheitspflege, drang er mit seiner Gewerbeaufsicht immer tiefer in die
Privatverhältnisse ein, regelte er das Verhältnis zwischen Unternehmern und
Arbeitern, wurde er in immer größeren Maßstabe selbst Unternehmer, und es
schien undenkbar, daß nicht diese beiden konvergirenden Entwicklungsreihen, die
wirtschaftliche und die politische, demnächst in einem Punkte zusammentreffen
und den Staat als Kollektivproduzenten und Güterverteiler an die Stelle der
einander bekämpfenden und vielfach hemmenden Einzelunternehmer setzen sollten.
Psychologische Gründe aber ließen sich gegen diese Argumentation nicht an¬
führen, da ja nach der Hypothese auch die Seele nur ein Entwicklungsprodukt
ist, und Seelen, die sich einer neuen Ordnung nicht fügen wollen, als „unan-
gepaßt" einfach zu Grunde gehen. Wären wir wie die Bienen organisirt, hatte
ein Forscher bemerkt, so würde es Pflicht für das menschliche Weib sein, viele
Männer zu haben, und die Männer von Zeit zu Zeit umbringen zu lassen.

Bekanntlich ist es Virchow gewesen, der zuerst auf die Gefahr hingewiesen
hat, die in der Ausnutzung der Darwinischen Hypothese für den Sozialismus
liege. Virchow ward zunächst als Reaktionär verspottet, aber als in Deuschland
die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen anschwoll, da wurden auch Virchows
Gegner nachdenklich. Sie suchten einen Ausweg und fanden einen wahrhaft
genialen. Sie fingen an zu behaupten, der Darwinismus sei keine demo¬
kratische, sondern eine aristokratische Lehre, ja er sei das einzige Mittel, die
Sozialdemokratie wissenschaftlich zu vernichten. Zuerst erschien mit dieser
Entdeckung Häckel auf dem Plan/") dann Heinrich Ernst Ziegler, Professor
der Zoologie in Freiburg i. Br., und Otto Ammon. In England hat sich
Herbert Spencer die wissenschaftliche Vernichtung des Kommunismus als
letztes Lebensziel gesteckt. Bosch, dessen Kritik und Ergänzung der Sozial¬
theorie Herbert Spencers in Ur. 17 der Grenzboten besprochen worden ist,
meint, der große englische Philosoph sei erhaben über den Verdacht, daß er
die Wissenschaft für Parteizwecke oder gar als Söldling des Kapitalismus
ausbeuten könne, und wir zweifeln auch nicht im mindesten an der wissen-



*) Auch Büchner hat sich gegen den Sozialismus erklärt, aber nicht in dem Sinne von
Ammon und nicht mit dessen Gründen.
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[0534] vom Neudarwinismus endigend. Und ferner war es ganz offenbar, daß mit der wirtschaftlichen Ent¬ wicklung die politische Hand in Hand ging. In demselben Maße, wie der Einzelne mit seiner Arbeit aus seiner gemütlichen Idylle herausgerissen und als Lohnarbeiter oder Kaufmann oder spekulirender Produzent in das Getriebe der Weltwirtschaft verwickelt wurde, in demselben Maße schritt die Verstaat¬ lichung fort. Nachdem der Staat schon längst eine Menge von Verrichtungen, die ehedem der Sorge des Einzelnen oder von Korporationen und kleinen Ge¬ meinden überlassen gewesen waren, an sich gezogen hatte: die Verteidigung gegen äußere Feinde, die Rechtspflege, die Polizei, den Jugendunterricht, die Aufsicht über die Gewerbe, bemächtigte er sich jetzt auch der Verkehrsanstalten, der Gesundheitspflege, drang er mit seiner Gewerbeaufsicht immer tiefer in die Privatverhältnisse ein, regelte er das Verhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern, wurde er in immer größeren Maßstabe selbst Unternehmer, und es schien undenkbar, daß nicht diese beiden konvergirenden Entwicklungsreihen, die wirtschaftliche und die politische, demnächst in einem Punkte zusammentreffen und den Staat als Kollektivproduzenten und Güterverteiler an die Stelle der einander bekämpfenden und vielfach hemmenden Einzelunternehmer setzen sollten. Psychologische Gründe aber ließen sich gegen diese Argumentation nicht an¬ führen, da ja nach der Hypothese auch die Seele nur ein Entwicklungsprodukt ist, und Seelen, die sich einer neuen Ordnung nicht fügen wollen, als „unan- gepaßt" einfach zu Grunde gehen. Wären wir wie die Bienen organisirt, hatte ein Forscher bemerkt, so würde es Pflicht für das menschliche Weib sein, viele Männer zu haben, und die Männer von Zeit zu Zeit umbringen zu lassen. Bekanntlich ist es Virchow gewesen, der zuerst auf die Gefahr hingewiesen hat, die in der Ausnutzung der Darwinischen Hypothese für den Sozialismus liege. Virchow ward zunächst als Reaktionär verspottet, aber als in Deuschland die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen anschwoll, da wurden auch Virchows Gegner nachdenklich. Sie suchten einen Ausweg und fanden einen wahrhaft genialen. Sie fingen an zu behaupten, der Darwinismus sei keine demo¬ kratische, sondern eine aristokratische Lehre, ja er sei das einzige Mittel, die Sozialdemokratie wissenschaftlich zu vernichten. Zuerst erschien mit dieser Entdeckung Häckel auf dem Plan/") dann Heinrich Ernst Ziegler, Professor der Zoologie in Freiburg i. Br., und Otto Ammon. In England hat sich Herbert Spencer die wissenschaftliche Vernichtung des Kommunismus als letztes Lebensziel gesteckt. Bosch, dessen Kritik und Ergänzung der Sozial¬ theorie Herbert Spencers in Ur. 17 der Grenzboten besprochen worden ist, meint, der große englische Philosoph sei erhaben über den Verdacht, daß er die Wissenschaft für Parteizwecke oder gar als Söldling des Kapitalismus ausbeuten könne, und wir zweifeln auch nicht im mindesten an der wissen- *) Auch Büchner hat sich gegen den Sozialismus erklärt, aber nicht in dem Sinne von Ammon und nicht mit dessen Gründen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/534>, abgerufen am 23.07.2024.