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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig Jahren

ließ den General vor ein Kriegsgericht stellen. Da ergab sich, daß ein solcher
Fall gar nicht als strafbar in den französischen Gesetzen vorgesehen war.
Napoleon erließ deshalb das erwähnte Dekret, Dupont wurde degmdirt und
zum Tode verurteilt, die Strafe aber in lebenslängliches Gefängnis ver¬
wandelt, die zurückgeführten Bourbonen gaben ihn frei und erhoben ihn zum
Pair von Frankreich.

Juristisch ist es keine Frage, daß objektiv die Erfordernisse der in den
beiden Artikeln als strafbar bezeichneten Kapitulation bei Bazaine vorhanden
waren. Der Angeklagte war Oberbefehlshaber sowohl der Festung als der
unter ihrem Schutz, aber doch in freiem Felde lagernden Armee. Die besonders
vom Verteidiger betonte Behauptung, daß eine innerhalb der Forts einer
Festung lagernde Armee nicht im freien Felde sei, deshalb mir Artikel 209
auf den Angeklagten passe, erscheint, soviel sich auch dafür sagen läßt, als eine
der großen Sache unwürdige Diftelei. Objektiv steht ferner fest, daß Bazaine als
Oberbefehlshaber eine Kapitulation abgeschlossen hatte, durch die sowohl der
ihm anvertraute Platz dem Feinde übergeben, als auch das Heer zur Nieder¬
legung der Waffen gezwungen worden war. Sind aber auch die in dem Gesetz
verlangten subjektiven Thatsachen festgestellt? Die schönsten Mittel der Ver¬
teidigung sind die Verteidiger, die Soldaten selbst. Diese sind erschöpft, wenn
sie von Hunger kraftlos geworden sind. Insoweit wäre der Abschluß einer
Kapitulation gerechtfertigt und straflos gewesen. Aber hat Bazaine alles ge¬
than, was ihm seine Pflicht gebot? Das würde auch von einem deutschen
Kriegsgericht unbedingt verneint werden müssen, und nicht bloß bezüglich der
Kapitulation der Festung, sondern auch bezüglich der Armee! Maßgebend sind
für Oberbefehlshaber nicht bloß die betreffenden Dienstvorschriften, sondern auch
die darüber hinausgehenden Pflichten der Wachsamkeit und des Überblicks, die
mit einer so hohen Stellung verbunden sind. Es konnte ihn daher nicht ent¬
lasten, daß seine Untergebnen in erster Reihe ihre Schuldigkeit nicht gethan
und die gegebnen Vorschriften unbeachtet gelassen hatten; seine Pflicht war es,
darüber zu wachen, daß solche Mißstände nicht einrissen, und rücksichtslos vor¬
zugehen. Diese Pflicht hatte er besonders bezüglich der wichtigen Frage der
Sicherung der Lebensmittel arg vernachlässigt. Die Verhandlungen stellten
unzweifelhaft fest, daß bei sorgsamer Verteilung der zunächst nach den Dienst¬
vorschriften zu sichernden Vorräte, bei Entfernung aller unnützen Esser, die
vorhandnen Vorräte mindestens sechs Wochen länger hätten ausreichen können.
Bezüglich der Kapitulation der Armee kommt dann noch die sicher festgestellte
Thatsache hinzu, daß Bazaine eher mit dem Feinde verhandelte, als es die Not
gebot. Diese Feststellungen, die allerdings ohne den anfgebvtnen riesigen
Apparat, in vier bis fünf Sitzungen und durch Vernehmung von zehn bis
zwölf Zeugen zu erreichen gewesen wären, mußten die Verurteilung nach dem
Gesetz herbeiführen. Ehrlosigkeit aber konnten die Verhandlungen dem An-


Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig Jahren

ließ den General vor ein Kriegsgericht stellen. Da ergab sich, daß ein solcher
Fall gar nicht als strafbar in den französischen Gesetzen vorgesehen war.
Napoleon erließ deshalb das erwähnte Dekret, Dupont wurde degmdirt und
zum Tode verurteilt, die Strafe aber in lebenslängliches Gefängnis ver¬
wandelt, die zurückgeführten Bourbonen gaben ihn frei und erhoben ihn zum
Pair von Frankreich.

Juristisch ist es keine Frage, daß objektiv die Erfordernisse der in den
beiden Artikeln als strafbar bezeichneten Kapitulation bei Bazaine vorhanden
waren. Der Angeklagte war Oberbefehlshaber sowohl der Festung als der
unter ihrem Schutz, aber doch in freiem Felde lagernden Armee. Die besonders
vom Verteidiger betonte Behauptung, daß eine innerhalb der Forts einer
Festung lagernde Armee nicht im freien Felde sei, deshalb mir Artikel 209
auf den Angeklagten passe, erscheint, soviel sich auch dafür sagen läßt, als eine
der großen Sache unwürdige Diftelei. Objektiv steht ferner fest, daß Bazaine als
Oberbefehlshaber eine Kapitulation abgeschlossen hatte, durch die sowohl der
ihm anvertraute Platz dem Feinde übergeben, als auch das Heer zur Nieder¬
legung der Waffen gezwungen worden war. Sind aber auch die in dem Gesetz
verlangten subjektiven Thatsachen festgestellt? Die schönsten Mittel der Ver¬
teidigung sind die Verteidiger, die Soldaten selbst. Diese sind erschöpft, wenn
sie von Hunger kraftlos geworden sind. Insoweit wäre der Abschluß einer
Kapitulation gerechtfertigt und straflos gewesen. Aber hat Bazaine alles ge¬
than, was ihm seine Pflicht gebot? Das würde auch von einem deutschen
Kriegsgericht unbedingt verneint werden müssen, und nicht bloß bezüglich der
Kapitulation der Festung, sondern auch bezüglich der Armee! Maßgebend sind
für Oberbefehlshaber nicht bloß die betreffenden Dienstvorschriften, sondern auch
die darüber hinausgehenden Pflichten der Wachsamkeit und des Überblicks, die
mit einer so hohen Stellung verbunden sind. Es konnte ihn daher nicht ent¬
lasten, daß seine Untergebnen in erster Reihe ihre Schuldigkeit nicht gethan
und die gegebnen Vorschriften unbeachtet gelassen hatten; seine Pflicht war es,
darüber zu wachen, daß solche Mißstände nicht einrissen, und rücksichtslos vor¬
zugehen. Diese Pflicht hatte er besonders bezüglich der wichtigen Frage der
Sicherung der Lebensmittel arg vernachlässigt. Die Verhandlungen stellten
unzweifelhaft fest, daß bei sorgsamer Verteilung der zunächst nach den Dienst¬
vorschriften zu sichernden Vorräte, bei Entfernung aller unnützen Esser, die
vorhandnen Vorräte mindestens sechs Wochen länger hätten ausreichen können.
Bezüglich der Kapitulation der Armee kommt dann noch die sicher festgestellte
Thatsache hinzu, daß Bazaine eher mit dem Feinde verhandelte, als es die Not
gebot. Diese Feststellungen, die allerdings ohne den anfgebvtnen riesigen
Apparat, in vier bis fünf Sitzungen und durch Vernehmung von zehn bis
zwölf Zeugen zu erreichen gewesen wären, mußten die Verurteilung nach dem
Gesetz herbeiführen. Ehrlosigkeit aber konnten die Verhandlungen dem An-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/525>, abgerufen am 23.07.2024.