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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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wundernswürdig ist nur die Zähigkeit, mit der Bismarck, trotz der immer
dringender werdenden Gefährdung der Armee vor Paris, an den Bedingungen
von Sedan festhielt. Einem solchen Gegner war weder Bazaine noch seine
Unterhändler, die Generale Boyer und Changarnier, gewachsen. Ein Kriegsrat
sämtlicher Korpsführer stimmte endlich, manche freilich unter billigen, weil
unausführbaren Rodomontaden, dem Abschluß der Kapitulation unter den Be¬
dingungen des Siegers zu.

Nach dem Abschluß trat, wie die Verhandlungen feststellten, eine unsägliche
Verwirrung ein, alle Bande der Zucht löste" sich, sodaß der Marschall selbst
aus die Ehre des bewilligten Vorbeimarschs einer bewaffneten, aus allen
Truppengattungen zusammengesetzten Abteilung verzichtete, um ein bei der ein¬
gerissenen Zuchtlosigkeit fast unvermeidliches Blutbad zu verhindern.

Die nun folgende Verlesung des Vortrags (requisitoire) des oommissairs
Ä'sol Divisionsgeneral Pourcet nahm vier Sitzungstage in Anspruch. Es ist
ein 163 enggedruckte Seiten umfassendes Werk, das in leidenschaftlicher Weise
die Schuld des Marschalls an allem Unglück Frankreichs nachzuweisen sucht
und mit dem Antrag schließt, ihn der in den Artikeln 209 und 210 des eocls
as ^'ustiLö niilitAiro vorgesehenen Verbrechen für schuldig zu erachten und mit
den dort bestimmten Strafen zu belegen. Weitere vier Sitzungstage nahm
dann die Verteidigungsrede Me Lachauds in Anspruch, der mit aller Kunst der
Beredsamkeit die Unschuld des Angeklagten nachzuweisen suchte. Am 10. Dezember
nachmittags 4 Uhr 35 Minuten wurde die Verhandlung geschlossen, und schon
um 8 Uhr 55 Minuten verkündete der Vorsitzende den Spruch. War er
gerecht?

Artikel 209 lautet: Mit dem Tode und Degradation wird bestraft jeder
Gouverneur oder Kommandant, der nach dem Beschluß eines Untersuchungs-
gcrichts vor Gericht gestellt, schuldig befunden wird, mit dem Feinde kapitulirt
und den ihm anvertrauten Platz übergeben zu haben, ohne vorher alle ver¬
fügbaren Mittel der Verteidigung erschöpft und alles gethan zu haben, was
ihm seine Pflicht und die Ehre vorschrieben.

Artikel 210 lautet: Jeder General, jeder Befehlshaber einer bewaffneten
Truppe, der in offnem Felde kapitulirt, wird bestraft 1. mit dem Tode und
Degradation, wenn die Kapitulation die Niederlegung der Waffen zur Folge
hat, oder wenn er, ehe er mit dem Feinde mündlich oder schriftlich verhandelte,
nicht alles gethan hat, was ihm seine Pflicht und die Ehre vorschrieben;
2. mit Entlassung in allen andern Fällen.

Diese Bestimmungen sind hervorgegangen aus dem Dekret Napoleons I.
vom 12. Mai 1808. Ein General Dupont hatte, von allen Seiten umzingelt,
in Spanien kapitulirt. Eine der von ihm befehligten drei Divisionen mußte
die Waffen strecken und blieb kriegsgefangen, die beiden andern durften Spanien
auf dem Seewege mit ihren Waffen verlassen. Napoleon war wütend und


wundernswürdig ist nur die Zähigkeit, mit der Bismarck, trotz der immer
dringender werdenden Gefährdung der Armee vor Paris, an den Bedingungen
von Sedan festhielt. Einem solchen Gegner war weder Bazaine noch seine
Unterhändler, die Generale Boyer und Changarnier, gewachsen. Ein Kriegsrat
sämtlicher Korpsführer stimmte endlich, manche freilich unter billigen, weil
unausführbaren Rodomontaden, dem Abschluß der Kapitulation unter den Be¬
dingungen des Siegers zu.

Nach dem Abschluß trat, wie die Verhandlungen feststellten, eine unsägliche
Verwirrung ein, alle Bande der Zucht löste« sich, sodaß der Marschall selbst
aus die Ehre des bewilligten Vorbeimarschs einer bewaffneten, aus allen
Truppengattungen zusammengesetzten Abteilung verzichtete, um ein bei der ein¬
gerissenen Zuchtlosigkeit fast unvermeidliches Blutbad zu verhindern.

Die nun folgende Verlesung des Vortrags (requisitoire) des oommissairs
Ä'sol Divisionsgeneral Pourcet nahm vier Sitzungstage in Anspruch. Es ist
ein 163 enggedruckte Seiten umfassendes Werk, das in leidenschaftlicher Weise
die Schuld des Marschalls an allem Unglück Frankreichs nachzuweisen sucht
und mit dem Antrag schließt, ihn der in den Artikeln 209 und 210 des eocls
as ^'ustiLö niilitAiro vorgesehenen Verbrechen für schuldig zu erachten und mit
den dort bestimmten Strafen zu belegen. Weitere vier Sitzungstage nahm
dann die Verteidigungsrede Me Lachauds in Anspruch, der mit aller Kunst der
Beredsamkeit die Unschuld des Angeklagten nachzuweisen suchte. Am 10. Dezember
nachmittags 4 Uhr 35 Minuten wurde die Verhandlung geschlossen, und schon
um 8 Uhr 55 Minuten verkündete der Vorsitzende den Spruch. War er
gerecht?

Artikel 209 lautet: Mit dem Tode und Degradation wird bestraft jeder
Gouverneur oder Kommandant, der nach dem Beschluß eines Untersuchungs-
gcrichts vor Gericht gestellt, schuldig befunden wird, mit dem Feinde kapitulirt
und den ihm anvertrauten Platz übergeben zu haben, ohne vorher alle ver¬
fügbaren Mittel der Verteidigung erschöpft und alles gethan zu haben, was
ihm seine Pflicht und die Ehre vorschrieben.

Artikel 210 lautet: Jeder General, jeder Befehlshaber einer bewaffneten
Truppe, der in offnem Felde kapitulirt, wird bestraft 1. mit dem Tode und
Degradation, wenn die Kapitulation die Niederlegung der Waffen zur Folge
hat, oder wenn er, ehe er mit dem Feinde mündlich oder schriftlich verhandelte,
nicht alles gethan hat, was ihm seine Pflicht und die Ehre vorschrieben;
2. mit Entlassung in allen andern Fällen.

Diese Bestimmungen sind hervorgegangen aus dem Dekret Napoleons I.
vom 12. Mai 1808. Ein General Dupont hatte, von allen Seiten umzingelt,
in Spanien kapitulirt. Eine der von ihm befehligten drei Divisionen mußte
die Waffen strecken und blieb kriegsgefangen, die beiden andern durften Spanien
auf dem Seewege mit ihren Waffen verlassen. Napoleon war wütend und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/524>, abgerufen am 23.07.2024.